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Auf der Suche nach einem Vater

Auf der Suche nach einem Vater

Auf der Suche nach einem Vater

Kham Thong war müde, denn er hatte einen schweren Tag hinter sich. Aber er liebte seine Arbeit und war zufrieden. Soeben hatte er sich an einer köstlichen Mahlzeit erfreut, die seine Frau zubereitet hatte, und nun genoß er das Zusammensein mit ihr und den beiden Kindern, die noch klein waren. Seine Frau Oi war beim Nähen, was sie aber nicht daran hinderte, mit irgendeinem zu plaudern, der gerade Lust dazu verspürte. Während Kham seinen Teil zu der etwas unzusammenhängenden Unterhaltung beitrug, begann er nachzudenken.

Sah seine Frau tatsächlich besser aus als früher, oder bildete er es sich nur ein? Sogar das Essen schmeckte besser als sonst. Oder lag es nur an seiner Verfassung? Ja, er war gut gelaunt. Als er dann aber seine Frau etwas genauer betrachtete, bemerkte er, daß sie gepflegter aussah. Ganz besonders fiel ihm jedoch ihr Gesicht auf. Es wirkte entspannt und fröhlich wie schon lange nicht. Er freute sich darüber, weil er sie liebte, und er war davon überzeugt, daß dies auf Gegenseitigkeit beruhte, obgleich ihr Eheleben schon rauhe Zeiten gesehen hatte. Seine Frau war fleißig und ehrlich, aber sehr empfindlich und brauste bei der leisesten Kritik sofort auf.

Während er darüber nachsann, wurde ihm bewußt, daß er und Oi schon seit Wochen keine größeren Meinungsverschiedenheiten mehr gehabt hatten. Er dachte an die anregende und freundliche Unterhaltung am Vortag, während sie die leckeren Mangos mit Reis gegessen hatten. Ja, sie hatten zwar eine Meinungsverschiedenheit gehabt, doch sie war im Geist der Milde beigelegt worden. Er war wirklich froh darüber.

Kham war ohne Eltern aufgewachsen. Seine Mutter war gestorben, als er noch klein war. Und was seinen Vater betrifft — mit ihm verband sich eine Art Geheimnis. Kham konnte sich nicht an ihn erinnern, und die älteren Familienmitglieder wollten niemals über ihn sprechen. Sie ließen durchblicken, daß der Vater sie im Stich gelassen hatte. Die älteste Schwester hatte das Kochen übernommen und sich auch sonst um den Haushalt gekümmert. Es war jedoch nie ein richtiges Zuhause mit einer echten Familienatmosphäre gewesen. Jeder kam und ging, wie es ihm gefiel. Zweifellos tat die Schwester ihr Bestes, aber sie schien immer müde zu sein und wenig Zeit und Geld zu haben. Wie Kham erfahren hatte, erhielt sie von Tuen, seinem ältesten Bruder, der weit weg von ihnen wohnte, Geld zur Unterstützung der Familie. Aber es war immer knapp. Deshalb bot sie morgens auf dem Markt Waren zum Verkauf an. An Kham selbst hatte niemand jemals persönliches Interesse gezeigt. Er hatte sich ganz und gar als Waisenkind gefühlt — unerwünscht und einsam. Als Kind hatte er oft allein gespielt, war mit seinen Gedanken allein gewesen, und später mußte er auch vieles ohne fremde Hilfe meistern. So war aus ihm ein ziemlich introvertierter Mensch geworden.

EIN HANDWAGEN UND BRIEFE

Kham hatte aber einen ausgeprägten Sinn für handwerkliche Qualitätsarbeit entwickelt. Eine entscheidende Rolle spielte dabei ein hölzerner Handwagen, den sein Vater für ihn gebaut hatte, bevor er von zu Hause weggegangen war. Beruflich hatte sein Vater Büffelkarren hergestellt. Jener Handwagen war ein handwerkliches Meisterstück und bewirkte, daß Kham, besonders als er älter wurde, vor seinem Vater als Handwerker großen Respekt hatte. Ja, genau das veranlaßte ihn, den Beruf seines Vaters zu erlernen, obgleich es bedeutete, sich durch Herumprobieren die nötigen Kenntnisse zu erwerben. Doch konnte er das Handwerkszeug seines Vaters benutzen, das noch im alten Haus vorhanden war. Selbst wenn er seine Kinder mit dem Handwagen spielen sah, dachte er immer an seinen Vater, wenn auch mit gemischten Gefühlen. Wie konnte sein Vater ihm einerseits ein so wunderbares Spielzeug geben und andererseits die Familie verlassen und nicht mehr für sie sorgen?

Erst als er einige Zeit nach seiner Heirat einmal seine älteste Schwester besuchte, die ebenfalls verheiratet war und noch im alten Haus wohnte, erfuhr er mehr über seinen Vater. Da er von Natur aus ein Auge für gute Arbeit hatte, bewunderte er das Haus, das sein Vater gebaut hatte. So erinnerte er sich wieder an ihn, und erneut warf er die Frage auf, was wohl aus ihm geworden sei. „Ach, ich weiß es nicht!“ rief die Schwester damals ungeduldig aus. „Hier“, fuhr sie fort, „lies diese Briefe! Sie stammen von ihm und sind an Tuen gerichtet.“ Dabei zog sie ein Bündel alter Briefe aus dem hinteren Teil einer Schublade hervor und knallte sie vor ihm auf den Tisch. „Du kannst sie haben. Für mich sind sie wertlos.“ So hatte er sie mit nach Hause genommen und gelesen.

Er erinnerte sich, welche Aufregung diese Briefe in ihm hervorgerufen hatten; er las damals sogar Oi einige Abschnitte daraus vor und sagte zu ihr: „Stell dir vor, mein Vater war doch ein guter Mensch! Nicht nur ein guter Handwerker, sondern auch ein guter Vater. Durch meinen ältesten Bruder Tuen hatte er für die ganze Familie Vorsorge getroffen. Er hat sich also doch um uns gekümmert. Ja, in einem seiner Briefe hat er sogar mich erwähnt. Aber Tuen hat das Geld veruntreut, als er sich mit seiner Freundin davonmachte. Er erweckte den Anschein, das wenige Geld, das er meiner ältesten Schwester schickte, sei von ihm.“ Mit Überzeugung sagte Kham damals zu Oi: „Mein Vater war also tatsächlich ein guter Mensch, und er hat sich um uns gekümmert.“ Jene Briefe waren indes nicht vollständig und lieferten keinen Anhaltspunkt dafür, wo sich sein Vater aufhielt oder wann er voraussichtlich zurückkäme. Kham erinnerte sich, Oi erklärt zu haben, wie sehr er sich freuen würde, seinen Vater besser kennenzulernen. „Vielleicht taucht er ja eines Tages wieder auf“, hatte er zu ihr gesagt.

Von seinen Gedanken über diese Ereignisse wurde er durch seinen kleinen Sohn abgelenkt, der einen Bleistift gespitzt haben wollte. Doch statt die Bitte seines Sohnes einfach zu erfüllen, zeigte ihm Kham, wie es gemacht wird, und half ihm so, es selbst zu tun. Als er sah, wie freudig der Kleine daraufhin seiner Schwester zeigte, was ihm sein Papa beigebracht hatte, dachte sich Kham, daß er sich soeben nicht nur im Anspitzen von Bleistiften die Note „Eins“ verdient hatte, sondern auch als Vater. Dabei hatte er das Empfinden, seiner Rolle als Vater seit dem Lesen jener Briefe besser gerecht zu werden. Aber er war ehrlich genug gegen sich selbst und erkannte, daß es noch eine tiefere Ursache dafür geben mußte, daß in seiner Familie eine bessere Atmosphäre herrschte. „Was mag Oi wohl veranlaßt haben, sich zu ändern?“ fragte er sich.

Er wußte nicht, wie beeindruckt Oi gewesen war, als sie miterlebt hatte, wie begeistert er war, etwas über seinen Vater herausgefunden zu haben. Tatsächlich war ihr damals zum erstenmal bewußt geworden, welch große Freude es für jemand bedeuten konnte, einen guten Vater ausfindig zu machen, besonders wenn er ihn noch nie zuvor kennengelernt hatte.

In Gedanken versunken, ließ Kham seine Augen ziellos umherwandern, doch jetzt richtete er seinen Blick wieder auf Oi. Wie sie strahlte! Genau wie damals, als er ihr den Hof machte. Dieser Gedanke verlieh ihm den Mut zu der Frage: „Oi, ist dir in letzter Zeit in unserer Familie etwas aufgefallen?“ Als er ihren erstaunten Blick sah, fügte er hinzu: „Ich meine, was die Atmosphäre betrifft.“ „Ja“, antwortete sie, „sie hat sich verbessert.“ Da er wußte, wie empfindlich sie oft reagierte, wenn es um ihr Verhalten ging, fragte er ziemlich vorsichtig: „Hast du irgendeine Erklärung, woran das liegen könnte?“

Oi nähte noch kurz weiter, allerdings nicht mehr so konzentriert wie zuvor, und hörte dann auf. Kham hielt beinahe den Atem an. Denn wie er aus Erfahrung wußte, hätte Oi in einer solchen Situation Kritik wittern und zornig aufbrausen können. Doch statt Zorn bemerkte er ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck. „Nun, die Ergebnisse deiner Nachforschungen über deinen Vater haben dich zweifellos tief beeindruckt, Kham. Das ist mir damals schon aufgefallen, und es hat mich veranlaßt, ein wenig darüber nachzudenken, von welcher Bedeutung es doch ist, einen guten Vater zu haben. — Ganz ehrlich, ich denke, dein Erlebnis, die Suche nach deinem Vater, hat mir geholfen, ebenfalls einen zu finden.“ „Was! Du — einen Vater gefunden? Dein Vater war dir doch nie unbekannt. Er wohnt ja gleich um die Ecke.“ „Ja, ich weiß, und es mag sein, daß ich sein Dasein mitunter für selbstverständlich gehalten habe. Aber ich meine nicht diesen Vater, sondern einen anderen — den ersten Vater.“ Ois Verhalten beruhigte Kham, aber ihre Antwort verblüffte ihn. Für ihn war es schwer gewesen, über einen Vater etwas herauszufinden — und nun gab es noch „einen anderen“, einen „ersten Vater“. „Oi, was meinst du denn mit dem ‚anderen‘, mit deinem ‚ersten Vater‘?“ Oi wandte sich ihm zu und setzte ein überaus gewinnendes Lächeln auf, wie er es schon lange nicht mehr auf ihrem Gesicht gesehen hatte. „Willst du das wirklich wissen?“ fragte sie. „Aber ja“, entgegnete Kham lachend, wobei er eine aufmerksamere Haltung einnahm.

Oi verließ jetzt die Nähmaschine und setzte sich zu ihm. „Kham, ist dir aufgefallen, daß mich dienstags nachmittags zwei junge Frauen besuchen?“ „Nein, aber ich habe einmal Frauen hier gesehen, die ich nicht kannte. Wer sind sie eigentlich?“ „Nun, vor ein paar Monaten standen die beiden an der Tür und wollten mich sprechen. Sie machten einen freundlichen Eindruck, und so bat ich sie einzutreten. Eine von ihnen begann über die unruhigen Weltverhältnisse zu sprechen und sagte, es gebe eine Lösung. Mir wurde dann klar, daß die beiden zu den Leuten gehören, die von Haus zu Haus gehen und religiöse Schriften anbieten. Wie auch immer, ich hörte ihnen weiter zu, weil — weil ich denke, daß wir immer höflich sein sollten, aber auch, weil mir das, was sie sagten, vernünftig erschien, obwohl ich einiges nicht ganz verstand. Dann erwähnte die eine etwas, was mich interessierte. Sie sagte, daß der Schöpfer — und somit auch Vater — des ersten Menschen jetzt im Begriff sei, Menschen aus allen Nationen zu versammeln, um sie zu e i n e r großen Familie zusammenzubringen und ihr Vater zu werden ...“ Nach einigem Zögern fügte sie hinzu: „... und auch ihr Gott. Wie du dir vorstellen kannst, gefiel mir der Gedanke, Teil einer größeren Familie mit einem größeren Vater zu sein. So sagte ich, daß ich gern mehr darüber erfahren würde. Sie besuchten mich in der darauffolgenden Woche wieder, um mir mehr zu erzählen — und von da an sind sie jede Woche gekommen. Nun wird mir immer klarer, daß das, was sie sagen, wahr ist. Darum habe ich vorhin gesagt, ich hätte einen Vater gefunden.“

Als Kham das hörte, verstummte er und war tief beunruhigt. Was Oi da über den „ersten Vater“ sagte, gefiel ihm zwar, aber das Wort „Gott“ ließ ihm keine Ruhe, besonders wenn er an Oi dachte. War sie im Begriff, eine religiöse Fanatikerin zu werden? Doch dann merkte er, wie sie sich an ihn schmiegte. Immerhin war es schon etliche Jahre her, daß sie bei einem ernsten Gespräch so vertraut beisammensaßen. Ois neue religiöse Ideen konnten also nicht so schlecht sein, wenn sie bei ihr eine derartige Veränderung bewirkten. „Ganz im Gegenteil“, dachte er, als er ihre Zuneigung erwiderte, indem er den Arm um sie legte und sie an sich drückte. Ja das half ihm, sich zu entspannen. Aber das Wort „Gott“ störte ihn immer noch. Sie mußte es geahnt haben, denn ihm war ihr Zögern vor dem Gebrauch dieses Wortes aufgefallen.

Da sie sich jetzt geistig und gefühlsmäßig so nahe waren, fühlte sich Kham frei, ihr zu sagen, was er auf dem Herzen hatte. „Oi, dieses Wort ‚Gott‘ stört mich. Wie berührt es dich?“ „Anfangs hat es mich auch gestört, Kham. Aber ich habe nie herausgefunden, warum. Natürlich glauben die meisten Leute nicht an Gott, und manche spotten ganz offen, wenn sie nur das Wort hören.“ „Ja“, sagte Kham nach einer Weile, „das könnte in erster Linie der Grund sein. Wie du weißt, spottete meine Familie stets, wenn die Rede auf meinen Vater kam, und damals empfand ich manchmal genauso. Wäre nicht der Handwagen gewesen und natürlich die Briefe, dann hätte sich bei mir wahrscheinlich auch nichts geändert.“ „Das ist interessant, Kham. Es zeigt, wie leicht die Meinung anderer Leute auf uns abfärben kann. Wäre es nicht besser, sich nur auf Tatsachen zu verlassen, anstatt sich von den Vorurteilen anderer beeinflussen zu lassen?“ „Gut argumentiert, Oi“, sagte er und drückte sie. „Wir wollen uns diesen Grundsatz zu eigen machen und nicht einfach der Menge folgen. Aber da ist noch etwas, was mich verwirrt. Die meisten, die bei dem Wort ‚Gott‘ spotten und sagen: ‚Wo ist er denn?‘ oder: ‚Ich kann ihn ja nicht sehen‘, nehmen viel auf sich, um Dämonen zu besänftigen, die sie genausowenig sehen können. Und viele fürchten sich anscheinend sehr vor ihnen. Halten sie vielleicht auch Gott für jemand, der zu fürchten ist und den sie besänftigen müßten?“ Er hielt inne und fragte dann: „Was meinst du — könnte es sein, daß mich der Gedanke an Gott deswegen abstößt, weil ich Gott im Unterbewußtsein als einen allmächtigen Superdämon ansehe, der alle quält, die sich ihm widersetzen?“

„Das trifft wahrscheinlich auf viele Menschen zu“, antwortete sie, „aber die Frauen zeigten mir, daß der wahre Gott, dessen Name Jehova ist, ganz anders ist. Natürlich ist er mächtig, doch überströmend an Erbarmen, selbst denen gegenüber, die verkehrt handeln; und er quält niemand. Er ist sozusagen wie ein guter Vater, der jedoch allmächtig ist und nie stirbt und daher immer bereit ist zu helfen. Mit Dämonen hat er nichts gemein. Er ergreift die Initiative, wenn es darum geht, Menschen zu helfen. Die Bibel sagt, daß er ein Gott der Liebe ist.“ „ ‚Liebe‘, sagst du. Wenn das zuträfe, würde mir das sehr zusagen. Liebe, verbunden mit Macht, könnte eine Menge bewirken.“ „Das denke ich auch“, stimmte sie zu. „Aber“, sagte er nach einer langen Pause, „das scheint nicht den Tatsachen zu entsprechen, und wir haben uns ja gerade darauf geeinigt, uns nur auf Tatsachen zu verlassen. Die Nationen und Religionsgemeinschaften, die behaupten, an einen Gott zu glauben, lassen beispielsweise keine Spur von Liebe erkennen. Sie beuten sich gegenseitig aus und töten einander genauso wie diejenigen, die nicht an Gott glauben.“ „Das stimmt“, rief sie aus, „weil sie nicht Jehova dienen, sondern einem Gott, der ihren eigenen Vorstellungen entspricht. In Wirklichkeit stellen sie Gott falsch dar. Viele dieser Nationen behaupten, Christen zu sein, aber in Wirklichkeit gibt es heutzutage keine christlichen Nationen auf der Erde.“ „Hm, mir leuchtet ein, daß das der Fall sein könnte. Doch warum stellen sie ihn falsch dar?“ erwiderte er. „Nun, warum stellte denn deine Familie deinen Vater falsch dar“, entgegnete sie, „vor allem dein Bruder Tuen?“ „O ja. Ich verstehe. Besonders in Tuens Fall war es zu seinem Vorteil. Weißt du, Oi, jetzt wird die Sache erst so richtig interessant; und doch scheint alles irgendwie kompliziert zu sein. — Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“, seufzte er.

EIN WUNDERBARER GEDANKE

Oi wandte sich Kham zu und sah ihn mit ernster, aber freundlicher Miene prüfend an. „Sag einmal ehrlich, Kham, glaubst du an einen Schöpfer?“ „Das ist nicht so leicht zu beantworten“, erwiderte er. „Weißt du, einerseits muß es einen Schöpfer geben, der all die wunderbaren Dinge um uns herum hervorgebracht hat.“ Es verging eine Weile, dann betrachtete er Oi etwas genauer, studierte ihre feinen, ebenmäßigen Züge, den Glanz in ihren Augen und — dieses Lächeln! Er fragte sich, wie so etwas zustande kommen konnte — die Schönheit der Form und der Konturen. Sicherlich nicht durch Zufall oder durch eine blinde Kraft — unmöglich! Es steckte Schönheitssinn dahinter. Als er Ois feine, zarte Haut betrachtete, erkannte er zwar, daß diese sehr viel zu ihrer Schönheit beitrug, aber sie war nicht das eigentlich Wesentliche. Er erinnerte sich an Bilder von ausgehungerten Kindern, deren Haut zwar immer noch zart erschien, doch die hohlen Wangen und der starre Blick bewirkten, daß sie Mitleid erregten. Das Fett war verschwunden. Viele Menschen dagegen, die die Blüte des Lebens überschritten hatten, wiesen ziemlich viel Fett auf, was der Schönheit ihrer Figur abträglich war. Das Fett saß an der falschen Stelle, war sozusagen außer Kontrolle geraten, der Kontrolle des Künstlers entglitten.

„Na, Kham“, unterbrach Oi das lange Schweigen, „du siehst mich zwar an, doch wo sind deine Gedanken?“ Während ein entspanntes Lächeln über sein Gesicht huschte, sagte er langsam: „Weißt du, Oi, wie könnte eine hübsche junge Frau wie du lediglich durch Zufall ins Dasein gekommen sein, ohne einen Schöpfer, der viel Sinn für Schönheit verrät? Doch etwas bereitet mir trotz aller Beweise für die Existenz eines Schöpfers immer noch Kopfzerbrechen: All dem Elend und dem Bösen wird freier Lauf gelassen. Warum? Es muß zwar einen Schöpfer geben, aber warum unternimmt er nichts?“ „Das hat auch mich immer beunruhigt“, erwiderte Oi. „Aber die Frauen zeigten mir, daß es einen guten Grund dafür gibt, warum Gott bisher noch nichts unternommen hat, und daß er bald eingreifen wird.“

„Du sagst, sie ‚zeigten es dir‘. Wie ‚zeigten‘ sie es dir denn?“ „In der Bibel.“ „Ach so! Du tust ja, als sei alles, was in der Bibel steht, eine feststehende Tatsache. Aber was genau versteht man eigentlich unter der Bibel, von der du redest?“ erwiderte er ziemlich verwirrt. „Es ist ein dickes Buch“, erklärte sie, „es enthält den ältesten Geschichtsbericht, der bis zum Anfang der Menschheit zurückreicht. Eine der Frauen nannte die Bibel eine Sammlung von Briefen — von Briefen Gottes. Ich glaube, sie sagte, es seien über 60.“ „Briefe Gottes“, wiederholte Kham, während eine gewisse Erregung in seiner Stimme mitschwang. „Weißt du, Kham, ich erinnere mich noch, wie du mir erzählt hast, daß dir die Briefe deines Vaters eine neue Ansicht über ihn vermittelt hätten, ein Gefühl der Verbundenheit.“ „Ja, das haben sie zweifellos, weil sie enthüllt haben, daß mein Vater nicht, wie man ihm unterstellte, die Familie im Stich gelassen hat, sondern daß er sich um uns kümmerte und daß mein ältester Bruder Tuen das ganze Elend verschuldet hat.“ „Weißt du, Kham, daß ich genau dasselbe Empfinden hatte, als ich die Bibel las, diese ‚Briefe‘ Gottes, meines ersten Vaters? Sie zeigten mir ebenfalls, wo die Ursache des Übels lag.“ „Du scheinst ja von diesen ‚Briefen‘ sehr begeistert zu sein“, bemerkte er lächelnd. „Warst du etwa damals von den vorgefundenen Briefen nicht begeistert? Und sie stammten nur von einem Menschen!“ Er mußte lachen. Sie hatte ins Schwarze getroffen.

„Warum waren denn diese Briefe so wichtig für dich?“ fragte sie. Er dachte einen Augenblick nach, bevor er antwortete. „Weißt du, ich hatte immer das Gefühl, daß mein Vater ein guter Mensch sein mußte, aber nach diesen Briefen wußte ich es, und ich verstand, wieso er falsch dargestellt worden war, und konnte ihn dann freiheraus anerkennen und verteidigen.“ „Gut“, erwiderte sie, „genau das war es auch, was die Briefe meines ersten Vaters bewirkten: Sie rechtfertigten seinen Namen. Die Frauen versprachen mir, am Dienstag eine Ausgabe dieser Briefe — der Bibel — mitzubringen.“ Khams Interesse an diesen Briefen begann sich zu regen, aber er wollte es sich nicht allzusehr anmerken lassen. Ja, er wollte Zeit zum Nachdenken gewinnen. Dabei kam ihm seine kleine Tochter zu Hilfe, die die Mutter ablenkte, weil sie etwas verschüttet hatte. Oi entschied dann, es sei für die Kleine an der Zeit, ins Bett zu gehen.

Eigentlich gab es etwas, was Khams Gewissen beunruhigte. Er wußte, daß er seit der Entdeckung der Briefe seines Vaters Dankbarkeit und ein gewisses Verantwortungsbewußtsein ihm gegenüber verspürte aufgrund der Dinge, die sein Vater für die Familie und für ihn getan hatte. Sollte er nicht dasselbe Empfinden auch gegenüber dem eigentlichen Schöpfer des Menschen haben, das heißt, wenn es ihn wirklich gab? Er hatte den unbändigen Drang, diese in seinem Sinn aufgekommene Frage zu klären. Aber wie? Er erinnerte sich, wie die Beschaffenheit jenes Handwagens dazu beigetragen hatte, sein Interesse an seinem Vater zu wecken. Da durchzuckte ihn ein Gedanke: „Hatte jener erste Vater ebenfalls einen ‚Handwagen‘ hinterlassen? — Natürlich“, dachte Kham, während er die Possen einer Hauseidechse an der Zimmerdecke beobachtete. „Ja, eigentlich ist die gesamte Natur“, so schlußfolgerte er, „gewissermaßen ein Handwagen, den der Mensch erforschen kann. Also warum nicht gleich damit anfangen?“ Er überlegte nicht lange und wandte seine Aufmerksamkeit der Eidechse zu, die emsig Insekten jagte. Niedliche kleine Beinchen hatte sie. Sie waren bestimmt viel schwieriger zu konstruieren als die Räder eines Wagens. Sie konnten sich durch kleine Saugnäpfe an der Decke halten und brauchten sich nicht am Boden fortzubewegen. Wer hatte so etwas ausgedacht und konstruiert? Kham wußte, daß er es nicht fertiggebracht hätte. Er erinnerte sich an seinen ersten Versuch, einen Wagen zu bauen, besonders an die Herstellung der Räder. Wie einfach schien es zu sein — auf den ersten Blick; doch welche Anstrengungen kostete es, bis das erste Rad fertig war! Ja, er hatte darüber nachsinnen müssen, wie es gemacht werden mußte. Wenn schon primitive Räder so viel Denkarbeit erforderten, wieviel mehr dann die Beine einer Eidechse!

Khams Blick wanderte ziemlich ziellos im Zimmer umher und blieb schließlich auf Oi ruhen, die nun wieder an ihrer Nähmaschine saß. Sie blickte mit leicht gerunzelter Stirn auf ein Stück Papier in ihrer Hand. Es drängte ihn, Interesse an ihren Bemühungen zu zeigen, und er fragte: „Was nähst du denn da?“ „Nähen?“ entgegnete sie. „Vom Nähen kann noch keine Rede sein. Ich habe etwas Kleiderstoff gekauft, habe aber einfach keine Idee, wie ich ihn zuschneiden werde, damit er ausreicht.“ „Mußt du denn überlegen, wie man ein Kleid daraus macht?“ warf er ein wenig neckend ein und machte dann eine Pause, um ihre Reaktion zu beobachten. „Überlegen, überlegen“, rief sie aus, „natürlich muß man überlegen, wie man ein Kleid macht. Es entsteht nicht von selbst!“ „Ja, da stimme ich dir zu, nichts entsteht von selbst“, sagte er, und beide lachten, als er ihr erzählte, welche Gedanken ihm beim Betrachten der Eidechsenbeine in den Sinn gekommen waren.

Während sich Oi wieder der Lösung ihres Problems zuwandte, hing Kham weiter seinen Gedanken nach. Beim Anblick der Eidechse erinnerte er sich, daß er nur ein oder zwei Tage zuvor beobachtet hatte, wie eine gerade ausgeschlüpfte Eidechse augenblicklich mit dem Fliegenfangen begann. Wer hatte sie so programmiert? Er hatte kürzlich gelesen, daß man Roboter konstruiert hatte, die so programmiert werden konnten, daß sie verschiedene Arbeiten verrichten, wie zum Beispiel Karosserien schweißen. Um so weit zu kommen, bedurfte es Tausende von Jahren menschlicher Denkarbeit, und er bezweifelte, daß einer dieser Roboter so programmiert werden könnte, eine Fliege zu überlisten. Je mehr er darüber nachdachte, desto einleuchtender erschien es ihm, daß es einen Schöpfer geben mußte, und zwar einen bewundernswert intelligenten. Doch um zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu kommen, hielt er es für notwendig, mit einigen jener Leute ernsthaft zu diskutieren, die die Existenz eines Schöpfers leugneten. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er eigentlich noch nie jemand ernsthaft über dieses Thema reden hören.

UNBEFRIEDIGENDE ANTWORTEN

Ein paar Tage später traf Kham bei einem Stadtbummel einen früheren Klassenkameraden, den er schon länger nicht mehr gesehen hatte. Sie betraten ein Café und unterhielten sich eine Weile. Der junge Mann war nett und war offensichtlich recht klug. Er hatte nach der Schule die Universität besucht und galt als vielversprechender Intellektueller. Als er sich nach Oi erkundigte, hatte Kham plötzlich eine Idee. Wäre jetzt nicht die Gelegenheit, herauszufinden, wie er über die Existenz eines Schöpfers dachte? Daher erzählte er ihm, Oi interessiere sich für eine Religion, die die Existenz eines Gottes lehre.

Die spöttische Reaktion überraschte Kham, denn sein Freund gehörte eigentlich nicht zu der Art von Menschen, die Spott treiben. Wie dem auch sei, die Reaktion ermöglichte ihm eine direkte Frage: „Woher stammt der Mensch und alles, was wir in der Natur sehen?“ Obwohl Kham gespannt zuhörte, hatte er Schwierigkeiten, die Antwort seines Freundes zu verstehen. Sein Freund sprach von einem Urchaos der vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde (soweit er sich erinnern konnte), doch hätten sich die Dinge dann Schritt für Schritt entwickelt, und zwar durch Zufall. Wie er sagte, gab es zuerst nur eine Zelle, die sich schließlich vermehrte. Im Laufe der Zeit entstand durch die Entwicklung noch mehr. Wenn es gut, das heißt lebensfähig, war, vermehrte es sich weiter; wenn nicht, starb es aus. Es war durch Zufall ins Dasein gekommen und überlebte dank günstiger Umstände. Kham wußte zwar nicht viel über Zellen, doch er war sehr praktisch veranlagt. So verglich er sie mit etwas, das ihm bekannt war — mit Wagenrädern.

Da selbst die einfachste Zelle in der Lage gewesen sein mußte, sich fortzupflanzen, um sich für eine Entwicklung zu eignen, mußte sie sehr viel komplizierter gewesen sein als ein Rad. Passende Löcher in eine hölzerne Nabe zu bohren und Speichen zu machen, die fest und richtig saßen, schien so einfach zu sein — bevor er damit begonnen hatte. Aber wie schwer war es dann gewesen, jede Speiche richtig und gut sitzend in ihrer Fassung zu befestigen! Wenn dies auch alles im voraus von ihm ausgedacht und das Holz sorgfältig zurechtgeschnitten worden war, hatte er doch einen Haufen Speichen wegwerfen müssen, bevor er es fertiggebracht hatte, auch nur ein einziges Rad herzustellen. Sich dabei allein auf den Zufall zu verlassen wäre genauso, wie wenn man etwas Holz und ein Stemmeisen in einen Zementmischer werfen und darauf warten würde, daß eine brauchbare Speiche herauskäme. Wie lange würde es wohl dauern? Der Zufall konnte sozusagen nur Unbrauchbares produzieren. Sich bei etwas auf den Zufall zu verlassen führt zu nichts, weder bei Rädern noch bei Zellen. War man nur in e i n e m Stadium der Radfabrikation nicht ganz bei der Sache, so entstanden bereits Schwierigkeiten. Diese Lektion hatte Kham leider durch Erfahrung lernen müssen. Zweifellos mußte das um so mehr auf die Bildung von Zellen und erst recht auf die Bildung von vollständigen Körpern zutreffen. „Passiert nicht genau das, wenn jemand Krebs hat?“ dachte er. „Angenommen, eine einzige Zelle ‚läuft Amok‘ und fängt an, Zellen zu reproduzieren, die das ursprüngliche Muster sprengen. Dabei verstreut dieser ‚Amokläufer‘ seinen ‚Ausschuß‘ im Körper und raubt gleichzeitig den gesunden Zellen die Nahrung. Das Spiel des Zufalls könnte zwar eine Todesursache sein — aber nie der Ausgangspunkt für Leben!“

Sooft Kham versuchte, gegen die von seinem Freund vertretene Theorie zu argumentieren, hielt dieser ihm entgegen, für jeden einzelnen Schritt seien Millionen von Jahren nötig gewesen, wobei er diese Formulierung so gebrauchte, als wohne ihr eine magische Kraft inne. Kham war heiter gestimmt, als er nach Hause ging und dabei darüber nachdachte, wie sehr sich sein Freund bemüht hatte, ihm vor Augen zu führen, was eine Million Jahre wirklich bedeute. In gewisser Hinsicht hatte sein Freund einen Erfolg zu verbuchen, doch nicht den, den er beabsichtigt hatte. Was sich Kham ausmalte, war nicht das Auftreten geeigneter Zellen nach Millionen von Jahren, sondern fehlerhafter Eidechsenbeine — bergeweise! Je mehr er darüber nachdachte, desto überzeugter war er, daß es einen Schöpfer geben mußte.

EINE GEHEIMNISVOLLE FRAGE ERHEBT SICH

Doch das abschließende Argument seines Freundes ließ ihm keine Ruhe: „Wenn alles zuvor ausgedacht werden muß, woher ist dann der gekommen, den du als Schöpfer bezeichnest?“ Nun, Kham war ein sehr ehrlicher Mensch, nicht nur in Geldangelegenheiten, sondern auch im Denken und in Sachen der Überzeugung. Er wollte weder sich selbst noch andere betrügen. Die Wahrheit über eine Angelegenheit zu erfahren bedeutete ihm mehr, als aus einer Diskussion als Sieger hervorzugehen. Daher wollte er seinen Wissensdurst unbedingt stillen und eine Antwort auf diese Frage finden. Es mußte einen Schöpfer geben, aber wie war er ins Dasein gekommen? Er würde nicht eher ruhen, bis er eine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage gefunden hätte. Vielleicht kannte Oi die Lösung des Problems.

Da er etwas früher als gewöhnlich nach Hause gekommen war, ging er — immer noch mit dieser kniffligen Frage im Sinn — ein wenig in seinem Garten umher. Diesmal hatte er sich etwas Bestimmtes vorgenommen. Er wollte sich den Garten ansehen, um etwas von der darin zum Ausdruck kommenden Kunstfertigkeit zu erfassen — wie bei den Dingen, die sein Vater hergestellt hatte. Wie erstaunt er doch war! Warum war ihm das vorher nie aufgefallen? Es war ihm klar, daß er ein Auge für handwerkliches Können entwickelt hatte, mochte es sich nun um Gegenstände aus Holz oder aus Metall handeln. Darauf war er auch ziemlich stolz; schließlich war er erst dadurch seinem Vater nähergekommen. Nun verspürte er den Drang, sich die Wunder in der Natur etwas genauer anzusehen, um mehr von dem kennenzulernen, was nicht von Menschen gemacht war.

Während Kham auf einem Holzklotz saß, blickte er aufmerksam umher. Ob er seine Augen nun über die bewaldeten Anhöhen schweifen ließ, die in nicht allzu großer Entfernung hinter seiner Werkstatt lagen, oder die vielen verschiedenen Blumen betrachtete, die seine Frau gepflanzt hatte — alles wirkte so gefällig, beruhigend und wohltuend, so ganz anders als die von Menschen errichteten schiefen Hütten, vor denen allerlei Abfall herumlag, wie weggeworfene Plastikbeutel, Flaschen und anderer Müll, wie er ihn gerade auf seinem Weg durch ein nahe gelegenes Elendsviertel gesehen hatte. „Nein, der Schöpfer ist niemals für das Entstehen von Slums verantwortlich“, sagte sich Kham, denn er kannte die Menschen gut genug, um sich darüber im klaren zu sein, wie Slums entstehen. Im Grunde genommen sind Slums auf einen Mangel an nötigen Einrichtungen und Fähigkeiten zurückzuführen, aber auch auf Trägheit und Bequemlichkeit sowie auf ein Desinteresse, anderen Freude zu bereiten, und auf die Tendenz, etwas nur mit einem Minimum an Überlegung und Sorgfalt auszuführen. Doch der Schöpfer all der Dinge, die Kham gerade betrachtete, wies offensichtlich keine dieser Schwächen auf.

Immer mehr bewunderte Kham die große Weisheit und das tiefe Verständnis, das sich in allem offenbart, was lebt und sich regt. Wie sehr es sich doch von dem unterschied, was der Mensch gemacht hatte, Dinge wie zum Beispiel Räder, die Kham eventuell nachbauen konnte. So etwas lag im Bereich seiner Möglichkeiten, und zwar hauptsächlich deshalb, weil er sich dafür interessierte. Er erinnerte sich, wie er einmal ein altes, von seinem Vater gebautes Rad auseinandergenommen hatte, um herauszufinden, wie er selbst eines herstellen konnte. Als er nun beobachtete, wie eine Biene aus einer nahen Blüte herauskroch, wurde ihm klar, wie sinnlos es wäre, die Biene oder die Blüte „auseinanderzunehmen“, um herauszufinden, wie man sie nachbilden könnte. Während er gedankenverloren auf die fleißige Biene starrte, begann er sie in einem neuen Licht zu sehen. Eigentlich war sie eine Honigfabrik, die überaus leistungsfähig war, dazu noch sauber und sehr schön. „Warum trifft das nicht auch auf Zuckerfabriken zu?“ dachte er und erinnerte sich, gelesen zu haben, daß solche Fabriken die Flüsse und die Luft verschmutzen. Und außerdem waren sie alles andere als schön. Als Handwerker wußte er, daß es besondere Mühe macht, etwas herzustellen, was sowohl leistungsfähig als auch schön ist. Dem Schöpfer mußte also viel am Menschen gelegen sein, wenn er für solch köstlichen Honig sorgte, der noch dazu von einer so hübschen „Fabrik“ hergestellt wurde.

Kham begann nun, sich den Schöpfer als eine gütige Person vorzustellen, nicht als einen gefühllosen Computer. Während er die passive Blume und die überaus aktive Biene betrachtete, sann er über die ungeheure Vielfalt an Fähigkeiten nach, die in der Schöpfung zutage treten. Selbst diese Biene verfügte anscheinend über ein gewisses Maß an Denkfähigkeit, so daß sie ihre Arbeit verrichten konnte. Er bemerkte dann in der Nähe eine Waldeidechse, die reglos auf der Spitze eines Zaunpfahls thronte und gespannt in eine bestimmte Richtung äugte. Geduldig beobachtete er sie. Plötzlich kam Bewegung in das Tier; es schoß am Pfahl herab und steuerte auf seine Beute zu, die es in einiger Entfernung erspäht hatte. Ja, auch die Waldeidechse schien auf irgendeine Weise denken zu können und vielleicht sogar besser als eine Biene. Kham beschäftigte sich nun unwillkürlich damit, daß diese Fähigkeit allem Anschein nach unterschiedlich ausgeprägt ist. Offensichtlich scheint jede Lebensform so viel davon zu haben, wie sie benötigt, und nicht alle gleich viel. Der Mensch ist in dieser Hinsicht offenbar allen anderen Lebensformen überlegen, doch manches geht selbst über sein Begriffsvermögen hinaus. Auch er stößt an Grenzen. Was ergibt sich daraus? Sollte er nicht seine Grenzen akzeptieren und von dem Gebrauch machen, was er hat? „Aha“, dachte Kham, „berührt das nicht meine Frage: ‚Woher ist Gott gekommen?‘?“ Er wußte ja nicht einmal, wer Gott war! War er ein Schöpfer, der von einem anderen erzeugt worden war, oder war er der erste, ursprüngliche Schöpfer, der allererste Vater? Möglicherweise war das menschliche Gehirn gar nicht dafür geschaffen, dies selbst herauszufinden; oder Kham standen vielleicht bis jetzt noch nicht genügend Fakten zur Verfügung, um weiterzukommen. Aber mußte er wirklich verstehen, wie Gott ins Dasein gekommen war?

Kham war es nicht eher möglich gewesen, die Tatsachen über seinen Vater herauszufinden, bis er in den Besitz jener Briefe gelangt war. Konnte es daher sein, daß der Mensch Briefe von seinem Schöpfer benötigte, um ihn wirklich verstehen zu können? Die Natur, seine Schöpfung, legt Zeugnis von seiner Existenz ab, aber die Natur sagt nichts über Gottes Gedanken und seine Vorsätze bezüglich der Zukunft aus. Menschen können nicht einmal die Gedanken ihrer Mitmenschen lesen, die sie sehen, wie sollten sie also imstande sein, die Gedanken Gottes zu lesen, den sie nicht sehen können? Ja, der Mensch benötigt unbedingt Briefe von Gott, um zu einer Erkenntnis über ihn zu gelangen.

Mehr und mehr wuchs Khams Interesse an den Briefen Gottes, von denen Oi gesprochen hatte. Unsere Grenzen zu akzeptieren und jene Briefe zu studieren schien die Voraussetzung dafür zu sein, wirklich Fortschritte in der Erkenntnis über ihn zu machen und Wohltaten von ihm zu empfangen. Kham wußte beispielsweise nicht, warum ein Stemmeisen so viel härter war als Holz. Doch wenn er gut damit umging und es vorschriftsgemäß benutzte, war er in der Lage, Räder damit herzustellen. Aber er brauchte ja keine Stemmeisen herzustellen und erst recht keine Götter. Oder um ein anderes Beispiel anzuführen: Würde jemand darauf bestehen, jede Einzelheit über die Lebensumstände seines Arbeitgebers zu erfahren, bevor er für ihn arbeiten würde, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen? In Wirklichkeit wäre es reine Anmaßung, herausfinden zu wollen, wie Gott ins Dasein gekommen ist, noch bevor man auf ihn hören würde, um ein besseres Leben zu erlangen. Da kam Kham der Gedanke, daß sein Freund ja auch nicht darauf bestanden hatte, herauszufinden, woher die „Elemente des Chaos“ gekommen waren, bevor er der Theorie, alles habe sich durch blinden Zufall entwickelt, Glauben schenkte.

Kham wußte, daß die Menschen im allgemeinen alles, was nicht von ihnen gemacht worden ist oder ohne sie abläuft, der „Natur“ zuschreiben. Er selbst hatte die gleiche Ansicht vertreten. Er dachte über die unterschiedliche Bedeutung der Wörter „Natur“, „Schöpfer“ und „Gott“ nach. Wer nur von der „Natur“ spricht, nimmt alle Wohltaten sozusagen kostenfrei entgegen, ohne auch nur die geringste Verpflichtung zur Dankbarkeit zu verspüren. Doch wer das Wort „Schöpfer“ in den Mund nimmt, fühlt sich zur Dankbarkeit verpflichtet, obwohl er diese nicht zum Ausdruck bringen mag. Mit dem Wort „Gott“ verband sich für Kham die Verpflichtung, diese Dankbarkeit wirklich zum Ausdruck zu bringen und sich Gott seiner Stellung wegen zu unterwerfen. War das vernünftig? Das wollte er gern wissen. Kham war selbständig, sozusagen sein eigener Chef, und das gefiel ihm. Dennoch unterstand er einer Obrigkeit. Ohne Erlaubnis durfte er keine Bäume fällen, um sich Holz für die Herstellung seiner Wagen zu beschaffen. Alle Menschen in seinem Distrikt — er selbst eingeschlossen — unterstanden der Obrigkeit, einem Gouverneur und seinen Beamten, auch wenn sie noch so häufig davon sprachen, zu einem freien Volk zu gehören. Ihm war klar, daß die Obrigkeit notwendig war, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, und daß sie keine Last bedeutete, solange der Regierungschef ein guter Mensch war. Kham sah ein, daß er moralisch nicht berechtigt war, „Gott“ die Unterwürfigkeit zu verweigern, wenn er tatsächlich der Schöpfer des Menschen war. Es stieg ein gewisses Schuldgefühl in ihm auf, denn er hatte die Schönheit aller Dinge um sich herum als selbstverständlich angesehen, statt dankbar zu sein. Ja nicht einmal seiner Frau hatte er jemals dafür gedankt, daß sie sich die Mühe gemacht hatte, die Blumen, die im Garten vor ihm standen, zu pflanzen und zu pflegen.

In diesem Augenblick wurde er durch einen ohrenbetäubenden Lärm jäh aus seinen Gedanken gerissen. Ein Militärhubschrauber knatterte über ihn hinweg. Er flog zu einer routinemäßigen Aufklärung in die nahe gelegenen Berge, wo Guerillas operierten. Das laute Geknatter zwang Kham geradezu, dem Hubschrauber nachzusehen, bis dieser hinter einigen hohen Bäumen verschwand. Da Kham technisch begabt war, hätte ihn der Hubschrauber als Maschine normalerweise interessiert. Doch die Lärmbelästigung störte ihn im Augenblick sehr. „Muß man denn einen solchen Lärm machen?“ dachte er. „Und das gerade jetzt, wo ich den Frieden und die Schönheit dieses Gartens genieße! Hätte man den Hubschrauber nicht so konstruieren können, daß er leiser fliegt?“ Wie durch Zauberhand erhielt er die Antwort: ein leises, aber nachdrückliches Ja! Unmittelbar vor ihm befand sich eine Miniaturausgabe eines überaus reizvollen Hubschraubers; so dicht dieser auch an ihm vorbeiflog, war doch kein Geräusch von ihm zu hören. Da war er — eine Libelle. Während Kham ihre Manöver beobachtete, wie sie auf der Suche nach Insekten hierhin und dorthin flog, wurde ihm klar, daß sie einem Hubschrauber in jeder Hinsicht überlegen war. Menschen mochten zwar keinen leiseren Hubschrauber bauen können, aber er war davon überzeugt, daß der Schöpfer dazu in der Lage wäre. Es wurde ihm noch etwas anderes klar, etwas, was ihm nie zuvor bewußt geworden war: die Notwendigkeit, das heisere Propagandageplärr für Errungenschaften des Menschen abzuschalten und statt dessen das stillere, doch alles durchdringende Zeugnis der weit großartigeren Werke seines Schöpfers einzuschalten. Als sich Kham erhob und auf das Haus zuging, beschloß er, mehr Zeit darauf zu verwenden, seinen Garten — „Gottes Handwagen“ — zu betrachten, und weniger Zeit damit zu verbringen, in der Zeitung die Propaganda zu lesen, die der Verherrlichung des Menschen dient.

Als er das Haus betrat, rief seine Frau: „Ich habe dich im Garten sitzen sehen. Was hast du denn die ganze Zeit gemacht?“ Nach einer kurzen Pause antwortete er: „Den ‚Handwagen‘ betrachtet.“ Sie schaute verdutzt. Dann blickte sie auf und sagte: „Meinst du — den ‚Handwagen Gottes‘?“ „Was für eine kluge Frau ich doch habe!“ entgegnete er mit einem Lächeln. „Nachher werde ich dich noch etwas eingehender über jene Briefe befragen und dir von einem Problem erzählen, das mich beschäftigt hat.“

Am Abend, nachdem sie gegessen und es sich bequem gemacht hatten, wandte sich Kham an seine Frau mit der Frage: „Oi, was würdest du sagen, wenn jemand von dir wissen wollte, wie Gott ins Dasein gekommen ist?“ „Er kam nicht ins Dasein“, antwortete sie. „Er war schon immer da. Die Bibel sagt über ihn, daß er ‚von unabsehbarer Zeit bis auf unabsehbare Zeit‘ existiert. Er ist die große erste Ursache.“ „Hm, laß mich einmal überlegen“, murmelte Kham, während er laut dachte, „eine schon immer existierende erste Ursache — das ist schwer zu begreifen.“ „Aber was wäre die Alternative?“ hielt sie ihm entgegen. „Das ist eine gute Frage, Oi. Die Antwort müßte lauten: Nichts, absolut nichts. Wenn das zuträfe, woher wäre dann das erste, das ins Dasein kam? Es hätte gar nicht ins Dasein kommen können, weil nichts dagewesen wäre, was es ins Dasein gebracht hätte, ja es hätte nicht einmal Anlaß dazu bestanden. Daher muß von jeher eine verursachende Macht dagewesen sein — und eigentlich müßte eine denkende Macht, eine Person, dagewesen sein, um all die Dinge in der Natur hervorzubringen.

Dann müßte die Antwort auf meine Frage, wie Gott ins Dasein kam, so lauten, wie du gerade gesagt hast: ‚Er war schon immer da.‘ — Aber“, sagte Kham, indem er sich Oi zuwandte, „stört es dich nicht, daß du nicht verstehst, wie so etwas möglich ist?“ „Warum sollte es mich stören? Es gibt doch viele Dinge, die ich nicht verstehe. Was ist zum Beispiel Elektrizität? Ich weiß es nicht, aber wenn ich hier auf dieses Fußpedal trete, läuft meine Nähmaschine. Man muß nicht alles verstehen, was einem von Nutzen ist. Sonst wäre man anmaßend, besonders in Verbindung mit dem Schöpfer des Menschen“, fügte sie hinzu, während sie Kham einen bedeutungsvollen Blick zuwarf. „Da bin ich ganz deiner Meinung, Oi. Aber ich habe viel länger gebraucht, um zu diesem Schluß zu kommen.“ „Das ist klar“, entgegnete sie neckend. „Du hast ja gerade gesagt, was für eine ‚kluge Frau‘ du hast.“ Dann fügte sie etwas ernster hinzu: „Vergiß nicht, Kham, daß mir durch die Bibel Hilfe zuteil wurde.“ „Gut, mein ‚schlaues Frauchen‘ “, lachte er. „Aber wie würdest du die Frage beantworten, die ich dir jetzt stellen möchte? Neulich sagtest du, die Bibel sei eine Sammlung von Briefen, die der Schöpfer an die Menschheit gerichtet hat.“ „Ja, ich erinnere mich.“ „Woher kann ich denn wissen, ob sie wirklich von Gott stammen?“

Oi hielt inne, bevor sie antwortete: „Ich glaube, in Wirklichkeit aufgrund dessen, was darin geschrieben steht.“ „Das klingt nicht allzu überzeugend“, warf er ein. „Nun, woher könnten wir es denn sonst wissen? Woher wußtest du ganz sicher, daß jene Briefe, die du gelesen hattest, tatsächlich von deinem Vater stammten?“ Als er überlegte, mußte er sich sagen, daß er über keinen greifbaren Beweis verfügte. Er hatte seinen Vater nicht die Briefe schreiben sehen. Auch hatte er sie nicht direkt von seinem Vater erhalten. Sie enthielten nicht einmal die Unterschrift seines Vaters. Und selbst wenn eine vorhanden gewesen wäre, hätte er keine Möglichkeit gehabt, ihre Richtigkeit bestätigen zu lassen. Trotzdem zweifelte er nicht daran, daß sie von seinem Vater stammten. Die Briefe waren alle in derselben Handschrift geschrieben. Sie alle zeigten durch ihren Inhalt, daß sie von ihm verfaßt waren. Sie alle verrieten eingehende Kenntnisse über die Familie und zeugten von Fürsorge, und in allen wurde am Schluß darauf hingewiesen, daß, wie es hieß, „Euer Euch liebender Vater“ der Schreiber war. Wer sonst sollte sich veranlaßt gefühlt haben und in der Lage gewesen sein, solche wunderbaren Briefe zu schreiben? So war er damit zufrieden, daß viele Anzeichen als Stütze für seinen Glauben dienten. Ja sogar die Art und Weise, wie die Briefe ausfindig gemacht worden waren, diente als eine solche Stütze.

Sich Oi zuwendend, sagte Kham: „Ich habe eine Frage, aber überlege gut, bevor du antwortest. Hast du einen absoluten Beweis dafür, daß die Bibel aus Briefen Gottes besteht? Oder sind es lediglich überzeugend klingende Umstandsbeweise?“ Oi machte eine lange Pause. Sie konnte sich nicht vorstellen, worauf er hinauswollte. Schließlich antwortete sie: „Ich weiß von keinem absoluten Beweis, ... aber ich bin überzeugt.“ Nun war Kham an der Reihe nachzudenken. Könnte es von irgendwelchem Nutzen sein, über gewisse Umstandsbeweise zu verfügen statt über einen absoluten Beweis? Indem er sich wiederum Oi zuwandte, fragte er sie: „Für wen wurde die Bibel geschrieben, und zu welchem Zweck?“ Wieder dachte sie eine Weile nach, bevor sie antwortete: „Ich würde sagen: für diejenigen, die Gott suchen, damit sie sich beim Lesen der Bibel zu ihm hingezogen fühlen. Ich erinnere mich, daß mir die beiden jungen Frauen eine Stelle zeigten, wo Jesus sagte, daß er nur in Gleichnissen spräche, damit seine Gegner ihn nicht verständen; aber die Aufrichtigen würden nach einem besseren Verständnis suchen und es auch erlangen. Und das entspricht auch der Erfahrung, die ich mit der Bibel gemacht habe. Viele Teile sind sehr schwer zu verstehen, aber wenn ich Fragen stelle, werde ich gewöhnlich zufriedengestellt.“ „Weißt du, Oi, dadurch erhebt sich eine interessante Frage. Der Schöpfer des Menschen und der Erde hätte seine Botschaft ohne weiteres vom Himmel herunterdonnern oder sie in solch klarer und einfacher Sprache in den Wolkenhimmel schreiben können, daß sie jeder verstanden hätte; und doch sagst du, er bediene sich der Bibel, die schwer zu verstehen ist. Das erfordert, daß man nach Verständnis sucht. Warum ist das so? Kannst du mir das erklären?“

„Ich nehme an, daß die Bibel an das Herz der Menschen appellieren soll. Tatsächlich erinnere ich mich, einmal gelesen zu haben, daß sie mit einem scharfen Schwert zu vergleichen ist, das bis ins Innerste dringt und die Absichten des Herzens beurteilt.“ „Somit wären also“, unterbrach Kham sie, „überzeugend klingende Umstandsbeweise viel wirkungsvoller als ein unumstößlicher Beweis. Die Bibel wäre demnach wie ein Magnet, der nur die Aufrichtigen anzöge; indessen könnten die anderen sich davor drücken, wenn sie wollten, und so würde ihr Herzenszustand offenbar.“ Oi lachte. „Dieser Meinung bin ich auch, Kham. Ich frage mich aber, warum du dir das jetzt alles durch den Kopf gehen läßt, wo du doch noch nicht einmal eine Bibel zu Gesicht bekommen hast.“ „Weißt du, Oi, ich habe gelernt, daß man um so bessere Ergebnisse erzielt, je gründlicher man sich im voraus mit etwas beschäftigt. Vergiß nicht, daß ich nur auf diese Weise gelernt habe, wie man Handwagen baut. Ich habe zwar noch keine Bibel. Aber es ist besser, ich weiß jetzt schon, was ich zu erwarten habe, wenn ich eine bekomme“, erklärte Kham.

„Nach all diesem erhebt sich natürlich die Frage, warum es so lange gedauert hat, bis die Bibel für die Menschen erhältlich war.“ „Nun, zunächst einmal haben sich diejenigen, die sie ursprünglich in ihre Obhut genommen hatten, im Laufe der Zeit verderbt“, erinnerte sich Oi, „sie verhinderten, daß die Bibel in Umlauf gelangte, und verfolgten sogar diejenigen, die sie zu verbreiten suchten.“ „Was mag der Grund dafür gewesen sein?“ fragte Kham. „Nun, warum hatte dein Bruder Tuen die Briefe deines Vaters in einer Schublade verwahrt“, erwiderte sie schlagfertig, „anstatt sie der ganzen Familie zum Lesen zu geben?“ „Ich verstehe, was du damit sagen willst. Er hatte etwas zu verbergen, und die Briefe hätten ihn bloßgestellt. Er brachte den guten Namen seines Vaters in Verruf, um sich statt dessen selbst einen guten Namen zu machen.“ „So ist es, und genau das haben die sogenannten Christen mit Gottes Namen, Jehova, getan. Die Briefe Gottes stellen sowohl die falschen Lehren über ihn bloß als auch das falsche Verhalten derer, die christlich zu sein beanspruchen, aber immer noch Kriege führen und einander töten.“ „Ja“, sagte Kham, „und ich weiß jetzt, daß ich diese Briefe unbedingt lesen muß.“

EINE ENTDECKUNG

Plötzlich durchzuckte Kham ein Gedanke. Er stand auf, ging zu seinem Schreibtisch hinüber und begann zwischen den Papieren in den Schubladen herumzuwühlen. Schließlich fand er, wonach er suchte: ein kleines Büchlein mit dem Titel „Genesis“. Während er es vor Oi hin und her schwenkte, fragte er: „Hat das hier irgend etwas mit der Bibel zu tun?“ „Ja, natürlich hat es das!“ platzte sie heraus. „Woher hast du das? Das ist ja der erste Brief.“ „Es hat schon lange in meinem Schreibtisch gelegen. Ich weiß nicht mehr, woher ich das Büchlein habe“, erwiderte er, als er sich hinsetzte und darin zu lesen begann.

Nach langem Schweigen überraschte Kham seine Frau mit dem Ausruf: „Weißt du, Oi, das ist einfach wunderbar! Genau das habe ich gesucht. Hier wird über die Schöpfung berichtet.“ Oi sagte nichts. Sie war zwar begierig, ihm alles zu erzählen, was sie bereits wußte, und hätte ihn auch gern dazu bewogen, mit ihr gemeinsam die Bibel zu studieren, doch sie wußte, daß er selbst entscheiden wollte. Sie verspürte auch einen unwiderstehlichen Reiz, diesen Brief zu lesen, und brannte geradezu darauf. Bisher hatte sie nur wenige Verse in der Bibel, die die beiden Frauen mitgebracht hatten, gelesen. Aber sie nähte weiter, denn sie war überzeugt, daß Kham über das Gelesene reden würde, wenn er fertig wäre. Und so war es auch.

„Oi, bist du bereit, einige Fragen zu beantworten?“ „Einverstanden, fang an, aber vergiß nicht, daß ich selbst erst am Lernen bin.“ „Ich lese hier etwas über den ersten Mann und die erste Frau, die es auf der Erde gab. Ihnen wurde gesagt, sie könnten die Früchte von jedem Baum in jenem Garten Eden essen — außer von einem. Wenn sie davon äßen, würden sie sterben. Warum eigentlich? War die Frucht giftig?“ Oi kam herüber, so daß sie einen flüchtigen Blick auf das werfen konnte, was er gelesen hatte. „Nein“, antwortete sie. „Gott benutzte diesen Baum als Symbol für etwas Bestimmtes. Du siehst hier, daß er ‚Baum der Erkenntnis von Gut und Böse‘ genannt wurde. Er war Symbol für eine sittliche Entscheidung: Wäre der Mensch bereit, die Autorität Gottes anzuerkennen sowie dessen Recht als Schöpfer und Eigentümer, ihm entweder etwas zu geben oder es ihm vorzuenthalten — oder wäre der Mensch entschlossen, zu tun und sich zu nehmen, was er wollte? Im ganzen Universum herrschte bereits Ordnung, die der Leitung Gottes zuzuschreiben war. Der Mensch sollte nun Macht über die Dinge auf der Erde erhalten, damit auch aus der ganzen Erde ein Ort werden konnte, an dem Ordnung herrschen würde, und zwar unter der übergeordneten Leitung Gottes, genauso wie es schon in jenem Garten der Fall war. Auf dem ersten Mann und seiner Frau ruhte somit eine große Verantwortung. Wie sie handeln und was sie lehren würden, würde sich auf ihre Kinder und folglich auf die gesamte Menschheit auswirken. Die ersten beiden Menschen wurden daher geprüft, was ihre sittliche Tauglichkeit für diese Aufgabe betraf sowie ihre Loyalität gegenüber ihrem Eigentümer und obersten Herrscher.“

Nach einer langen Pause sagte Kham: „Ich bin auch der Meinung, daß man auf einem schlechten Fundament kein gutes Haus bauen kann, und Gott stand im Begriff, mehr als ein Haus zu bauen — er wollte eine Welt aufbauen, die aus Milliarden von Menschen bestehen sollte. Loyalität gegenüber dem Eigentümer war daher unerläßlich. Aber gerade daran krankt unsere Welt! Man ist im allgemeinen nicht loyal gegenüber dem, der ein Anrecht darauf hat. Das sehe ja selbst ich, und ich habe gerade erst angefangen, an einen Gott zu glauben!“ „Aber schau einmal, Kham“, unterbrach ihn Oi. „Ist dir aufgefallen, was hier gesagt wird? Die Schlange — damit ist übrigens der Teufel gemeint — sagte zur Frau: ‚Ihr werdet bestimmt nicht sterben. Denn Gott weiß, daß an demselben Tag, an dem ihr davon eßt, euch ganz bestimmt die Augen geöffnet werden, und ihr werdet ganz bestimmt sein wie Gott, erkennend Gut und Böse.‘ “ Kham blickte verwirrt drein. „Ich begreife nicht so recht, was damit gesagt werden soll.“ Oi erklärte: „Hatte der Teufel in Wirklichkeit nicht zu der Frau gesagt, Gott belüge sie, um sie in Unterwürfigkeit zu halten, aber sie könne von Gott unabhängig werden und ihre eigenen Maßstäbe aufstellen?“

„Moment mal, Oi. Du sprichst da mit einer Selbstverständlichkeit vom Teufel. Wer ist das überhaupt?“ „Oh, Verzeihung“, entschuldigte sie sich. „Das sollte ich natürlich erklären: Vor der Erschaffung materieller Dinge erschuf Gott Geistgeschöpfe, Engel genannt, die den Menschen an Intelligenz und Kraft überlegen sind. Sie haben ebenso einen freien Willen wie die Menschen. Wie die Menschen verfügen sie auch über Vorstellungskraft. Einer von ihnen ließ seiner Phantasie freien Lauf, das heißt, er mißachtete die Grenzen, die ihm durch die Loyalität gegenüber Gott gesetzt waren. Er dachte darüber nach, wie schön es wäre, viele Menschen unter seine Gewalt und seinen Einfluß zu bringen. So verleitete er die erste Frau dazu, seiner Führung zu folgen, indem er ihr anbot, sie von Gott zu befreien.“ „Oh, ich verstehe nun. Sieh mal, was hier als nächstes steht: ‚Demzufolge sah die Frau, daß der Baum gut war zur Speise ..., ja der Baum war begehrenswert zum Anschauen. So begann sie von seiner Frucht zu nehmen und zu essen.‘ Das ist ja interessant — die Frau stellte ihre eigene Meinung über das, was Gott gesagt hatte. Sie dachte, sie hätte sich selbst erleuchtet, während sie in Wirklichkeit auf Satans Pseudoerleuchtung hereinfiel. Du siehst, was daraufhin geschah: Der Mann aß ebenfalls von der Frucht, und sie wurden beide aus dem Garten hinausgeworfen, damit sie nicht zum Baum des Lebens und so zu ewigem Leben gelangen könnten. Das erscheint mir sehr wichtig. Es ist eine Warnung vor einer Selbsterleuchtung, eine Warnung davor, einer Philosophie nachzugehen, die dem Willen Gottes widerspricht. Oder vielleicht sollte ich es anders ausdrücken: Eine Religion, die lediglich auf menschlichem Denken beruht — nämlich auf Philosophie —, wird nicht zu ewigem Leben führen.“

Kham verharrte eine lange Zeit in Schweigen und dachte über das Gelesene nach. Es ließ ihm die Ursache von Elend und Leiden in einem neuen Licht erscheinen, und was noch wichtiger war, es zeigte einen Ausweg. In Gedanken versetzte er sich in die Zeit zurück, wo er die Briefe seines Vaters gelesen hatte. Zunächst hatte es ihn in eine gehobene Stimmung versetzt, doch dann hatte er eine größere Leere empfunden als je zuvor. Damals hatte er das Empfinden, nur einen Schimmer oder eine Kostprobe von etwas erhalten zu haben, was seinen Appetit angeregt hatte, aber mehr auch nicht; es hinterließ bei ihm eine Sehnsucht nach etwas, was er nicht erklären konnte, nach Antworten auf Fragen, die er nicht formulieren konnte. Er erinnerte sich noch an die Zeit, bevor er verheiratet war. Damals war er sehr unglücklich. Zwar erwog er nie — wie viele andere —, Selbstmord zu begehen, doch hatte er das Gefühl, das Leben sei wirklich erbärmlich und es gebe keinen Ausweg. Dieses Leben mit all seinen Nöten sei eine Vergeltung für persönliche Sünden, die man in einem früheren Leben begangen habe — so hatte er entweder gelesen oder gehört. Woher er es tatsächlich hatte, wußte er nicht mehr. Über diese Gedanken zerbrach er sich damals den Kopf. Sie erschienen ihm als ein Widerspruch zur Gerechtigkeit. Er konnte sich nicht einmal an das erinnern, was er angeblich in seinem früheren Leben falsch gemacht hatte — und doch sollte er jetzt dafür bestraft werden! Ihm kam es ungefähr so vor, als würde er ins Gefängnis geschickt, ohne zu wissen, welches Gesetz er gebrochen hatte. Könnte die Gerechtigkeit eine Strafe fordern, die an und für sich ungerecht war? Wie könnte er es vermeiden, gewisse Sünden zu wiederholen, wenn er gar nicht wußte, welche er begangen hatte? All das hatte bei ihm ein Gefühl der Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit hervorgerufen. Er hatte aber niemand gehabt, den er um Hilfe hätte bitten können. Nun wußte er, wonach er sich gesehnt hatte — nach einer Quelle, aus der Hilfe und Erleuchtung kam. Durch das Lesen der anregenden und von einer edlen Gesinnung zeugenden Briefe seines Vaters war sein Bewußtsein dafür geschärft worden. Und der Brief Gottes, den er soeben gelesen hatte, hatte seine Sehnsucht zu stillen begonnen. Er verspürte eine Freude wie noch nie. Sie konnte zu einer beherrschenden Kraft im Leben werden, die selbst nicht durch Krankheit oder Tod beeinträchtigt würde — wenn jene Briefe tatsächlich vom Schöpfer stammten.

„Ich habe gerade über das nachgedacht, was du vorhin gesagt hast“, begann Kham nach einer langen Zeit des Schweigens. „Daß der Mensch, wie man dir erzählte, erschaffen worden sei, um auf der Erde zu leben. Was wir eben gelesen haben, bestätigt das. Mit dem Anwachsen der Menschheitsfamilie wäre der ursprüngliche Garten allmählich erweitert worden, bis er sich über die ganze Erde erstreckt hätte. Der Umstand, daß der erste Mann und die erste Frau aus dem als Garten angelegten Teil der Erde vertrieben wurden, deutet an, daß sie nicht mehr, auch nicht vorübergehend, in diesem vollkommen gemachten — oder vielleicht sollte man sagen urbar gemachten — Teil bleiben durften. Aber es wurde ihnen gestattet, eine Zeitlang in dem nicht urbar gemachten Teil der Erde zu leben.“ „So ist es“, erwiderte Oi. „Sie waren aus der Familie Gottes ausgestoßen worden und lebten auf der Erde wie Siedler ohne Rechtsanspruch. Aber du siehst, was als nächstes gesagt wird: Sie hatten Kinder. Wie standen nun diese in Gottes Augen da?“ „Ich denke, daß sie ebenfalls ‚Siedler ohne Rechtsanspruch‘ waren, wie Adam und Eva“, sagte Kham, „durch die rebellische Einstellung ihrer Eltern in Mitleidenschaft gezogen, wenn auch nicht jeder einzelne von ihnen Gott abgelehnt hatte.“ „Stimmt. Und Jehova, der ein solch barmherziger Gott ist, hat verheißen, für eine Möglichkeit zu sorgen, den Makel dieser Kinder zudecken zu lassen und sie wieder in seine Familie aufzunehmen, so daß er ihr Vater wird.“ „Das meintest du also, Oi, als du von dem Bemühen sprachst, einen Vater zu finden. Die Menschen sind dann keine Siedler ohne Rechtsanspruch mehr, sondern werden wieder in die Familie Gottes aufgenommen“, wiederholte Kham.

„Wird in diesem Brief etwas darüber gesagt, Oi?“ „Ja, aber nur kurz. Du müßtest alle Briefe lesen, um die gesamte Vorkehrung zu verstehen. Schau einmal, Kham, was hier steht: ‚Durch deinen Samen werden sich bestimmt alle Nationen der Erde zufolge der Tatsache segnen, daß du auf meine Stimme gehört hast.‘ “ „ ‚Dein Same‘ — was ist das?“ fragte er. „Diese Worte wurden an Abraham gerichtet, der vor ungefähr 4 000 Jahren lebte und der sowohl der Vorfahr der Araber als auch der Vorfahr der Juden war. Dieser Mann war für seinen Glauben und seinen Gehorsam gegenüber Jehova bekannt. Es würde zu lange dauern, wenn ich jetzt alles erklären wollte, was ich über den ‚Samen‘ weiß. Aber soweit ich es verstanden habe, handelt es sich dabei um das Mittel, die Nachkommen Adams von ihrem Makel zu befreien und sie darauf vorzubereiten, Kinder Jehovas zu werden.“ „In diesem Fall würden sie aus dem Dschungel dieser Welt heraus- und in den Garten Gottes hineingebracht werden“, schlußfolgerte Kham. „Ja, so ist es“, versicherte Oi. „Hm“, murmelte Kham, „die Menschen leben gewissermaßen in einem sozialen Dschungel — jeder ist sich selbst der Nächste. Es gibt vielleicht tatsächlich einige, die sich aufrichtig bemühen, Gutes zu tun, aber ihre Bemühungen gehen in der dschungelähnlichen Allgemeinheit unter. Es gibt keinen ‚Gärtner‘, der gleichsam die Aufsicht führt und alle, die Gutes tun, nach einem einheitlichen Muster anleitet. Weißt du, Oi, es wird immer deutlicher, daß die Menschheit ein Oberhaupt benötigt, das allgemein anerkannt wird, alles sieht und wie ein Vater handelt. Nur ein solches Oberhaupt wäre in der Lage, die zu belohnen, die Gutes tun. Was die Übeltäter betrifft, scheint eine vaterähnliche Macht noch notwendiger zu sein, um sie zu zügeln und sie daran zu hindern, diejenigen, die Gutes tun, zu beherrschen oder sie gar zu vernichten, was in einigen Ländern unter der Herrschaft korrupter Diktatoren geschehen ist. Wie steht es aber mit den unverbesserlichen Übeltätern, Oi? Was soll mit ihnen geschehen?“

„Müßten sie nicht beseitigt werden?“ antwortete Oi. „Das stimmt“, fuhr Kham fort. „In der heutigen Welt bringen sich die Menschen als einzelne oder als Nationen gegenseitig um. Das finde ich nicht richtig. Aber der Schöpfer des Lebens hätte zweifellos das Recht, alle die zu vernichten, die sich weigern, das Rechte zu tun. Welcher Vater läßt wohl zu, daß ein tollwütiger Hund auf seinem Grundstück herumläuft und seine Kinder beißt? Die Aufgabe eines Vaters besteht gewiß nicht allein darin, seinen Kindern Leben zu geben, sondern auch darin, sich um sie zu kümmern und sie vor ihren Feinden zu beschützen.“ „Genau das wird auch in der Bibel gelehrt, Kham, wenn ich es richtig verstanden habe“, äußerte Oi spontan. „Wenn Jehova seine Familie auf seinem ‚Grundstück‘, das heißt auf der ganzen Erde, versammelt, wird er sich beständig um sie kümmern. Ja, das Hauptthema der Bibel ist Gottes Königreich — das Mittel, durch das er all das bewirken wird.“

Kham schwieg geraume Zeit. Dann sah er zu Oi hinüber und sagte, indem er jedes Wort gleichsam abwog: „WENN SICH DAS, WAS DU GESAGT HAST, ALS RICHTIG ERWEIST, HANDELT ES SICH UM DIE WUNDERBARSTE GUTE BOTSCHAFT, DIE DER MENSCH JE ERHALTEN HAT. Meinst du nicht auch, Oi?“ „Du weißt ja schon, daß ich so denke. Es ist dir nicht entgangen. Deshalb hast du mich doch neulich nach dem Grund gefragt, warum in unserer Familie jetzt eine bessere Atmosphäre herrsche als früher. Der Grund hat mit mir zu tun. Das gebe ich zu; ich habe mich geändert. Ja, seitdem ich diese gute Botschaft kenne, habe ich wirklich eine Hoffnung auf eine herrliche Zukunft, und ich habe auch eine neue Einstellung zum Leben in der heutigen Zeit gefunden.“

Kham sprang auf, trat vor Oi hin und sah ihr in die Augen. Er faßte sie bei den Schultern und sagte eindringlich: „Oi, wie wäre es, wenn wir, wir beide, uns zusammen auf die Suche nach dem Vater begeben würden? Machst du mit?“ Ihr Lächeln war die Antwort.

LIEBER LESER!

Sehr wahrscheinlich wirst du nun wissen wollen, wie bei Kham und Oi die Suche nach dem Vater ausging. Denke bitte daran, daß die beiden erfundene Personen sind. Doch der Vater, der Schöpfer, existiert wirklich und auch die damit verbundenen Streitfragen. Deshalb möchten wir dich ermuntern, persönlich nach ihm zu suchen. Es wird dir große Freude bereiten, denn du wirst die wichtigsten Fragen über das Leben verstehen lernen, und dein Leben wird wahrhaft sinnvoll werden.

Aber wie kannst du die Suche nach dem Vater fortsetzen? Jehovas Zeugen helfen dir gern dabei, indem sie kostenlos die Bibel mit dir studieren. Setze dich bitte mit den Personen in Verbindung, die dir diese Broschüre überreicht haben, oder schreibe direkt an die Herausgeber.

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Das Geschenk eines Vaters an seinen Sohn

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Das Geschenk eines anderen Vaters an seine Kinder

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Warum können Zuckerfabriken nicht wie diese „Honigfabrik“ sein — leistungsfähig, sauber und schön?

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Einem Hubschrauber überlegen