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„Nicht euer ist die Schlacht, sondern Gottes“

„Nicht euer ist die Schlacht, sondern Gottes“

„Nicht euer ist die Schlacht, sondern Gottes“

ERZÄHLT VON W. GLEN HOW

In den vergangenen sechzig Jahren haben Jehovas Zeugen in Kanada viele Rechtskämpfe geführt. Ihre Erfolge sind in juristischen Kreisen nicht unbeachtet geblieben. Für das Mitwirken in einigen dieser Fälle erhielt ich unlängst vom American College of Trial Lawyers einen Preis für mutige Anwaltschaft. Bei der Preisverleihung wurde erklärt, daß Fälle, die Jehovas Zeugen betrafen, „starke Bollwerke gegen staatliche Vollmachtsüberschreitung bildeten ..., denn sie schufen eine von den Gerichten anerkannte Sammlung von Grundsatzentscheidungen, durch die die Freiheit aller Kanadier anerkannt und geschützt wurde“. Ich möchte nun gern auf einige Einzelheiten dieser Gerichtsfälle eingehen sowie darauf, wie es dazu kam, daß ich mich mit dem Recht und mit Jehovas Zeugen befaßte.

IM Jahr 1924 besuchte George Rix, ein Bibelforscher, wie Jehovas Zeugen damals genannt wurden, meine Eltern in Toronto (Kanada). Meine Mutter, Bessie How, eine zierliche Person, bat ihn herein und unterhielt sich mit ihm. Ich war fünf Jahre alt, und mein Bruder Joe war drei.

Meine Mutter besuchte schon bald die Zusammenkünfte der Bibelforscher in Toronto. 1929 wurde sie Pionierin (Vollzeitdienerin); sie blieb es bis zum Jahr 1969, dem Jahr, in dem sie ihren irdischen Lauf vollendete. Ihr entschlossener und unermüdlicher Dienst war für uns ein ausgezeichnetes Beispiel und half vielen Menschen, zu einer Erkenntnis der biblischen Wahrheit zu gelangen.

Mein Vater, Frank How, war ein ruhiger Mensch, der sich zunächst gegen Mutters religiöse Aktivitäten stellte. Sie bat jedoch klugerweise reisende Diener wie zum Beispiel George Young, ihn zu besuchen und mit ihm zu sprechen. Mit der Zeit wurde er aufgeschlossener. Als er die positiven Auswirkungen der biblischen Wahrheit auf seine Familie wahrnahm, unterstützte er uns dann voll, auch wenn er selbst nie ein Zeuge Jehovas wurde.

Die Entscheidung, Gott zu dienen

Ich schloß 1936 die High-School ab. In meiner Jugend war ich an Glaubensangelegenheiten nicht besonders interessiert. Wir steckten mitten in der Weltwirtschaftskrise, und die Berufsaussichten waren trübe. Daher ging ich zur Universität Toronto. 1940 entschied ich mich für die juristische Fakultät. Diese Entscheidung überraschte meine Mutter nicht im geringsten. Als ich ein Kind war, hatte sie oft ganz verzweifelt gesagt: „Immer muß der kleine Racker streiten. Aus ihm wird wohl mal ein Rechtsanwalt!“

Jehovas Zeugen wurden am 4. Juli 1940, kurz bevor ich zur juristischen Fakultät ging, von der kanadischen Regierung ohne Vorwarnung verboten. Das war der Wendepunkt in meinem Leben. Als sich die Regierungsgewalt mit voller Wucht gegen diese kleine Organisation unschuldiger, demütiger Menschen richtete, kam ich zu der Überzeugung, daß Jehovas Zeugen echte Nachfolger Jesu waren. So, wie er prophezeit hatte, waren sie „um ... [seines] Namens willen Gegenstand des Hasses aller Nationen“ (Matthäus 24:9). Ich entschloß mich, dem göttlichen Herrscher hinter dieser Organisation zu dienen. Am 10. Februar 1941 symbolisierte ich meine Hingabe an Jehova Gott durch die Wassertaufe.

Ich wollte mich sofort im Pionierdienst engagieren. Jack Nathan, der damals in Kanada führend im Predigtwerk voranging, ermunterte mich jedoch dazu, mein Jurastudium abzuschließen. Das tat ich dann auch. Im Mai 1943 war meine Ausbildung abgeschlossen, und ich fing mit dem Pionierdienst an. Im August lud man mich zur Mitarbeit in das Zweigbüro der Watch Tower Society in Toronto ein, um bei rechtlichen Fragen, denen Jehovas Zeugen gegenüberstanden, mitzuhelfen. Im darauffolgenden Monat wurde ich als Anwalt vor den höheren Gerichten in Ontario (Kanada) zugelassen.

Gesetzliche Verteidigung der guten Botschaft

Der Zweite Weltkrieg tobte, und die Zeugen in Kanada waren nach wie vor verboten. Männer und Frauen wurden inhaftiert, einfach weil sie Zeugen Jehovas waren. Kinder wurden der Schule verwiesen, manche kamen sogar zu Pflegefamilien. Der Grund dafür war, daß sie sich weigerten, an nationalistischen Formen der Anbetung teilzunehmen, wie zum Beispiel dem Fahnengruß oder dem Singen der Nationalhymne. Professor William Kaplan, der ein Buch schrieb mit dem Titel State and Salvation: The Jehovah’s Witnesses and Their Fight for Civil Rights (Staat und Heil — Jehovas Zeugen und ihr Kampf um Bürgerrechte), sagte, daß die „Zeugen öffentlich geschmäht wurden und nicht nur zur Zielscheibe der Intervention einer intoleranten Regierung wurden, sondern auch zur Zielscheibe der persönlichen Angriffe einer unverblümt feindlichen Bürgerschaft, die in der leidenschaftlichen Kriegsbegeisterung und dem Patriotismus aufging“.

Jehovas Zeugen hatten sich um eine Aufhebung des Verbots bemüht, aber ohne Erfolg. Plötzlich, am 14. Oktober 1943, wurde es für ungültig erklärt. Aber Zeugen Jehovas waren noch immer in Gefängnissen und Arbeitslagern. Kindern wurde nach wie vor der Besuch von öffentlichen Schulen verwehrt. Und das Verbot der Watch Tower Bible and Tract Society und der International Bible Students Association, einer Körperschaft, die das Eigentumsrecht für unseren Besitz in Toronto hatte, war noch immer in Kraft.

Ende 1943 reisten Percy Chapman, der kanadische Zweigdiener, und ich nach New York, um uns mit Nathan Knorr, dem damaligen Präsidenten der Watch Tower Society, und mit Hayden Covington, dem Vizepräsidenten und Rechtsberater der Gesellschaft, zu beraten. Bruder Covington hatte eine immense Erfahrung in Rechtsangelegenheiten. Von 45 Berufungsverfahren vor dem Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten gewann er 36!

Erleichterungen setzten für die Zeugen in Kanada langsam ein. 1944 wurden die Zweiggebäude in Toronto zurückgegeben, und die Brüder, die dort vor dem Verbot tätig gewesen waren, konnten zurückkehren. 1945 erklärte das höchste Gericht der Provinz Ontario, daß Kinder nicht gezwungen werden dürfen, an Feierlichkeiten teilzunehmen, gegen die sie gewissensmäßig etwas einzuwenden haben. Es wurde verfügt, daß die der Schule verwiesenen Kinder wiederaufgenommen werden sollten. 1946 ließ die kanadische Regierung schließlich alle Zeugen Jehovas aus den Arbeitslagern frei. Unter Bruder Covingtons Anleitung lernte ich, diese strittigen Fragen mutig und entschlossen, vor allem aber im Vertrauen auf Jehova, durchzukämpfen.

Der Rechtskampf in Quebec

Zwar wurde die Religionsfreiheit der Zeugen Jehovas nun in den meisten Gegenden Kanadas respektiert, aber es gab eine Ausnahme: die französischsprachige katholische Provinz Quebec. In dieser Provinz hatte seit mehr als 300 Jahren die katholische Kirche das Sagen. Schulen, Krankenhäuser und die meisten anderen Bereiche des öffentlichen Dienstes wurden vom Klerus entweder direkt geführt oder aber kontrolliert. Der Kardinal hatte sogar einen Stuhl im Quebecer Parlament, direkt neben dem Sitz des Parlamentspräsidenten!

Der Ministerpräsident und Generalstaatsanwalt der Provinz Quebec, Maurice Duplessis, war ein Diktator, der nach Aussage des Quebecer Historikers Gérard Pelletier „eine zwanzigjährige Regierung der Lügen, der Ungerechtigkeit und der Korruption sowie den systematischen Machtmißbrauch, das Dominieren kleiner Geister und den Triumph der Dummheit“ über die Provinz brachte. Duplessis festigte seine politische Macht, indem er Hand in Hand mit Kardinal Villeneuve arbeitete.

Anfang der 1940er Jahre gab es 300 Zeugen Jehovas in Quebec. Viele, auch mein Bruder Joe, waren Pioniere aus anderen Gegenden Kanadas. Als es mit dem Predigtwerk in Quebec voranging, reagierte die von der Geistlichkeit unter Druck gesetzte Polizei und schikanierte die Zeugen mit wiederholten Verhaftungen und mit falscher Anwendung von Handelsverordnungen auf unsere religiöse Tätigkeit.

Ich pendelte so oft zwischen Toronto und Quebec, daß ich schließlich gebeten wurde, ganz nach Quebec zu ziehen, um den Rechtsanwälten zu helfen, die unsere Glaubensbrüder und -schwestern vertraten und keine Zeugen Jehovas waren. Jeden Morgen war es meine erste Aufgabe, herauszufinden, wie viele am Tag zuvor verhaftet worden waren, und zum Gerichtsgebäude zu eilen, um Antrag auf Freilassung gegen Kaution zu stellen. Glücklicherweise stellte Frank Roncarelli, ein gutsituierter Zeuge Jehovas, in vielen Fällen die Kaution.

Von 1944 bis 1946 schnellte die Zahl der Anklagen wegen angeblicher Mißachtung von Verordnungen von 40 auf 800 (!) hoch. Zeugen Jehovas wurden nicht nur unablässig von den Behörden verhaftet und schikaniert, sondern auch von aufgebrachten Menschenmengen angegriffen, die von der katholischen Geistlichkeit aufgestachelt waren.

Am 2. und 3. November 1946 wurde in Montreal eine Sonderversammlung abgehalten, um dieser Krise zu begegnen. Bruder Knorr hielt die Schlußansprache mit dem Thema „Was sollen wir tun?“ Alle Anwesenden waren überglücklich, seine Antwort zu hören. Er las das inzwischen historische Schriftstück vor: Quebec’s Burning Hate for God and Christ and Freedom Is the Shame of All Canada (Quebecs lodernder Haß gegen Gott, Christus und die Freiheit ist eine Schande für ganz Kanada) — ein brisantes 4seitiges Traktat. Es nannte detailliert die Namen, Daten und Orte, wo von Geistlichen angestiftete Krawalle, brutale Behandlungen durch die Polizei, Verhaftungen und Pöbelangriffe gegen Zeugen Jehovas in Quebec stattgefunden hatten. Nur 12 Tage später wurde damit begonnen, es in ganz Kanada zu verteilen.

Nach ein paar Tagen schon kündigte Duplessis öffentlich einen „gnadenlosen Krieg“ gegen Jehovas Zeugen an. Er wirkte jedoch unwissentlich zu unseren Gunsten. Inwiefern? Insofern, als er anordnete, daß jeder, der Quebec’s Burning Hate verbreitete, wegen Staatsgefährdung anzuklagen sei — eine sehr ernste Straftat, die uns weg von den Gerichten Quebecs und vor das Oberste Bundesgericht von Kanada bringen sollte. In seiner Wut ließ Duplessis dies unbesonnenerweise unbeachtet. Dann ordnete er persönlich an, daß man Frank Roncarelli, der den Löwenanteil der Kautionen gestellt hatte, die Schankkonzession entzog. Bruder Roncarelli mußte sein schönes Restaurant in Montreal innerhalb von wenigen Monaten schließen, da er keinen Weinausschank mehr hatte, und war finanziell am Ende.

Es kam zu immer mehr Verhaftungen. Anstatt mit 800 Anklagen hatten wir es schon bald mit 1 600 zu tun. Etliche Rechtsanwälte und Richter beschwerten sich, daß durch all diese Fälle von Zeugen Jehovas die Quebecer Gerichte blockiert waren. Wir haben dann immer ein einfaches Mittel empfohlen, um dem abzuhelfen: „Wenn die Polizei Kriminelle verhaften würde anstatt Christen, wäre das Problem gelöst!“

Zwei mutige jüdische Rechtsanwälte, A. L. Stein aus Montreal und Sam S. Bard aus der Stadt Quebec, arbeiteten mit uns bei vielen Fällen zusammen, insbesondere vor meiner Zulassung als Anwalt vor den höheren Gerichten in Quebec 1949. Pierre Elliott Trudeau, der spätere Ministerpräsident von Kanada, schrieb, daß Zeugen Jehovas in Quebec „von unserer ganzen Gesellschaft verhöhnt, verfolgt und gehaßt worden [sind]; aber sie haben es fertiggebracht, mit legalen Mitteln gegen Kirche, Regierung, Nation, Polizei und die öffentliche Meinung anzukämpfen“.

Die Einstellung der Quebecer Gerichte kam deutlich in der Behandlung meines Bruders Joe zum Ausdruck. Er wurde wegen Störung der öffentlichen Ruhe angeklagt. Der nebenamtliche Richter, Jean Mercier, verurteilte ihn zu der Höchststrafe von 60 Tagen Gefängnis. Danach schrie er völlig aufgelöst von seinem Richterstuhl aus, er wünschte, er könne Joe lebenslang ins Gefängnis schicken.

In einer Zeitung hieß es, Mercier habe die Quebecer Polizei angewiesen, „jeden bekannten und jeden vermutlichen Zeugen Jehovas sofort festzunehmen“. Ein derartiges Verhalten war lediglich ein Beleg dafür, daß die Anschuldigungen in unserem Traktat Quebec’s Burning Hate der Wahrheit entsprachen. Einige typische Schlagzeilen kanadischer Zeitungen außerhalb von Quebec lauteten: In Quebec herrscht wieder finsteres Mittelalter“ (The Toronto Star), „Wiederkehr der Inquisition“ (The Globe and Mail, Toronto), „Der Geruch von Faschismus“ (The Gazette, Glace Bay, Neuschottland).

Den Klagespruch der Staatsgefährdung bestritten

Der erste Fall angeblicher Staatsgefährdung, der vor Gericht kam, betraf 1947 Aimé Boucher, und ich assistierte Herrn Stein dabei. Aimé hatte einige Traktate in seiner Nachbarschaft verbreitet. Wir bewiesen während des Verfahrens, daß Quebec’s Burning Hate keine Unwahrheiten enthielt, sondern darin lediglich mit scharfen Worten die Grausamkeiten gegenüber Jehovas Zeugen angeprangert wurden. Wir zeigten, daß man diejenigen, die diese Grausamkeiten verübt hatten, deswegen nie angeklagt hatte, wohingegen Aimé für schuldig befunden worden war, nur weil er diese publik gemacht hatte. Die Anklage liefe letztendlich darauf hinaus, daß es ein Vergehen geworden sei, die Wahrheit zu sagen.

Die Quebecer Gerichte hatten sich auf eine vage, 350 Jahre alte Definition von „Staatsgefährdung“ gestützt, die den Schluß nahelegte, daß jeder, der die Regierung kritisierte, eines Verbrechens für schuldig erklärt werden konnte. Duplessis griff ebenfalls auf diese Definition zurück, um jegliche Kritik an seinem Regime zu unterdrücken. Aber im Jahr 1950 akzeptierte das Oberste Bundesgericht von Kanada unsere Eingabe, daß in einer modernen Demokratie das Anstiften zur Gewalt oder die Erhebung gegen die Regierungsgewalt Voraussetzung für „Staatsgefährdung“ ist. Quebec’s Burning Hate enthielt keinerlei derartige Anstiftungen und war somit eine legale Form der freien Meinungsäußerung. Mit dieser einen bedeutsamen Entscheidung waren alle 123 Staatsgefährdungsfälle erledigt. Ich erlebte hautnah, wie Jehova den Sieg gab.

Der Kampf gegen die Zensur

Eine städtische Verordnung Quebecs verbot, Literatur ohne die Genehmigung des Polizeichefs zu verbreiten. Das war eine direkte Zensur und somit eine Verletzung der Religionsfreiheit. Laurier Saumur, der damals als Kreisaufseher diente, war auf Grund dieser Verordnung drei Monate im Gefängnis und wurde in Verbindung damit noch unter weitere Anklagen gestellt.

Im Jahr 1947 wurde im Namen von Bruder Saumur ein Prozeß angestrengt, um der Stadt Quebec zu untersagen, ihre Verordnung gegen Zeugen Jehovas durchzusetzen. Die Quebecer Richter entschieden gegen uns, und wieder legten wir vor dem Obersten Bundesgericht von Kanada Berufung ein. Im Oktober 1953 wurde nach einer siebentägigen Verhandlung vor allen neun Richtern dieses Gerichts unserem Antrag auf richterliche Verfügung stattgegeben. Das Gericht erkannte an, daß das öffentliche Verbreiten von gedruckten biblischen Predigten ein grundlegender Teil der christlichen Anbetung der Zeugen Jehovas und somit verfassungsmäßig vor der Zensur geschützt ist.

Im Fall Boucher wurde also entschieden, daß das, was Jehovas Zeugen sagten, legal war, und durch die Entscheidung im Fall Saumur wurde verbürgt, wie und wo es gesagt werden durfte. Der Erfolg im Fall Saumur führte zur Abweisung von weiteren 1 100 Anklagen wegen Verstoßes gegen die Verordnung. Über 500 Anklagen in Montreal wurden ebenfalls aus absolutem Mangel an Beweisen zurückgezogen. Schon bald war alles vom Tisch — es gab keine Anklagen mehr in Quebec.

Duplessis’ Schlußangriff

Da Duplessis nun kein Gesetz mehr gegen Jehovas Zeugen in der Hand hatte, brachte er im Parlament einen neuen Gesetzesentwurf ein, Bill No. 38, der in den Medien das „Anti-Zeugen-Jehovas-Gesetz“ genannt wurde. Darin war vorgesehen, daß jeder, der jemand verdächtigte, „ein Schmähwort oder eine Beleidigung“ von sich geben zu wollen, eine Klage einreichen konnte, ohne irgendeinen Beweis vorlegen zu müssen. Als Generalstaatsanwalt konnte Duplessis dann eine einstweilige Verfügung erwirken, die dem Angeklagten untersagte, sich in irgendeiner Form öffentlich zu äußern. Mit dem Erlaß der Verfügung gegen die erste Einzelperson wäre auch allen anderen Angehörigen derselben Kirche das Reden untersagt. Außerdem würden alle Bibeln sowie jegliche religiöse Literatur dieser Kirche beschlagnahmt und vernichtet werden, und alle Anbetungsstätten würden geschlossen, bis der Fall entschieden wäre, was Jahre dauern könnte.

Bill No. 38 war die Kopie eines Gesetzes aus der Zeit der spanischen Inquisition unter Torquemada im 15. Jahrhundert. Der Angeklagte und alle seine Gefährten verloren sämtliche Bürgerrechte, ohne den geringsten Beweis für eine Missetat. Was Bill No. 38 angeht, wurde in der Presse bekanntgegeben, daß die Provinzpolizei die Anweisung erhalten habe, alle Königreichssäle der Zeugen Jehovas zu schließen und ihre Bibeln sowie andere Literatur zu vernichten. Angesichts dieser ungeheuerlichen Bedrohung schafften Jehovas Zeugen ihre gesamten religiösen Publikationen aus der Provinz fort. Mit dem öffentlichen Predigtwerk fuhren sie jedoch fort, allerdings nur mit ihrer persönlichen Bibel.

Das Gesetz trat am 28. Januar 1954 in Kraft. Am 29. Januar um 9 Uhr stand ich an der Tür des Gerichtsgebäudes, um im Namen aller Zeugen Jehovas der Provinz Quebec Klage einzureichen und eine einstweilige Verfügung gegen dieses Gesetz zu erwirken, bevor Duplessis sich dessen überhaupt bedienen konnte. Der Richter erteilte keine einstweilige Verfügung, denn Bill No. 38 war noch nicht zur Anwendung gekommen. Er sagte aber, wenn die Regierung versuchen würde, das Gesetz anzuwenden, könne ich ihn wieder ansprechen. Die Reaktion des Richters hatte den gleichen Effekt wie eine einstweilige Verfügung, denn sobald Duplessis auch nur versuchen würde, das Gesetz anzuwenden, würde er gestoppt werden.

In der nächsten Woche warteten wir ab, ob die Polizei irgend etwas zufolge des neuen Gesetzes unternehmen würde. Es passierte nichts! Um den Grund dafür herauszufinden, arrangierte ich einen Test. Zwei Pionierinnen, Victoria Dougaluk (später Steele) und Helen Dougaluk (später Simcox), gingen in Trois-Rivières, Duplessis’ Heimatort, mit Literatur von Haus zu Haus. Wieder keinerlei Reaktion. Während die Schwestern mit Predigen beschäftigt waren, schickte ich Laurier Saumur los, um die Provinzpolizei anzurufen. Ohne sich zu erkennen zu geben, beschwerte er sich darüber, daß gerade Zeugen Jehovas predigen würden und die Polizei Duplessis’ neues Gesetz nicht durchsetzte.

Verlegen sagte der verantwortliche Beamte: „Tja, uns ist bekannt, daß das Gesetz verabschiedet wurde, aber am nächsten Tag erwirkten die Zeugen Jehovas eine Verfügung gegen uns. Uns sind also die Hände gebunden.“ Sofort brachten wir die Literatur wieder in die Provinz zurück, und in den zehn Jahren, in denen der Fall die verschiedenen Instanzen durchlief, ging es mit dem Predigtwerk gut voran.

Zusätzlich zu der Verfügung suchten wir auch zu erwirken, Bill No. 38 für verfassungswidrig erklären zu lassen. Um zu beweisen, daß dieses Gesetz sich direkt gegen Jehovas Zeugen richtete, entschlossen wir uns zu einem kühnen Schritt, nämlich Duplessis höchstpersönlich eine Ladung unter Strafandrohung zu schicken, so daß er gezwungen war, vor Gericht als Zeuge auszusagen. Ich nahm ihn zweieinhalb Stunden ins Kreuzverhör. Wiederholt konfrontierte ich ihn mit seinen öffentlichen Erklärungen „eines gnadenlosen Krieges gegen Jehovas Zeugen“ und seiner Aussage, Bill No. 38 werde das Ende der Zeugen Jehovas in Quebec bedeuten. Voller Wut griff er mich persönlich mit den Worten an: „Sie sind ein ausgesprochen impertinenter junger Mann!“

„Herr Duplessis“, erwiderte ich, „wenn wir über Charakterzüge sprechen wollten, könnte ich auch ein paar Worte dazu sagen. Da wir uns aber unserer Pflicht widmen müssen, erklären Sie dem Gericht jetzt bitte, warum Sie die letzte Frage nicht beantwortet haben.“

Im Jahr 1964 trug ich den Fall Bill No. 38 dem Obersten Bundesgericht von Kanada vor. Dort lehnte man es jedoch ab, über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zu entscheiden, da es nie angewandt worden war. Zu dem Zeitpunkt war Duplessis allerdings bereits tot, und Bill No. 38 interessierte niemand mehr. Es wurde niemals gegen Jehovas Zeugen oder gegen irgend jemand anderes eingesetzt.

Kurz vor seinem Tod im Jahr 1959 wurde Duplessis vom Obersten Bundesgericht von Kanada auferlegt, Bruder Roncarelli Schadensersatz zu leisten, weil er ihm illegalerweise die Schankkonzession entzogen hatte. Seit jener Zeit sind die Menschen in Quebec uns gegenüber sehr freundlich geworden. Die Zahl der Zeugen Jehovas dort ist gemäß einer staatlichen Zählung von 300 im Jahr 1943 auf über 33 000 heute gestiegen. Jehovas Zeugen werden nun als die viertgrößte religiöse Gruppe in der Provinz aufgeführt. Ich betrachte diese Rechtserfolge und den Erfolg, den Jehovas Zeugen in ihrem Dienst haben, nicht als die Errungenschaft irgendeines Menschen. Vielmehr ist das für mich der Beweis, daß Jehova den Sieg verleiht, denn sein ist die Schlacht, nicht unser (2. Chronika 20:15).

Veränderungen

Im Jahr 1954 heiratete ich eine charmante Pionierin aus England, Margaret Biegel, und wir nahmen gemeinsam den Pionierdienst auf. Ich führte nach wie vor Prozesse für Zeugen Jehovas in Kanada und in den Vereinigten Staaten und war Berater bei einigen Fällen in Europa und Australien. Margaret wurde meine Sekretärin und war mir jahrelang eine unschätzbare Stütze. 1984 kehrte ich mit Margaret ins kanadische Zweigbüro zurück, und ich half beim Wiederaufbau der Rechtsabteilung. Traurigerweise starb Margaret 1987 an Krebs.

Nach dem Tod meiner Mutter im Jahr 1969 hatten mein Bruder Joe und seine Frau Elsie, die beide als Missionare der neunten Klasse der Wachtturm-Bibelschule Gilead ausgebildet worden waren, meinen Vater zu sich genommen und ihn bis zu seinem Tod 16 Jahre lang gepflegt. In aufopfernder Weise ermöglichten sie es mir dadurch, im Vollzeitdienst zu bleiben, wofür ich immer dankbar sein werde.

Weitere Rechtskämpfe

Im Lauf der Jahre haben sich die gerichtlichen Auseinandersetzungen der Zeugen Jehovas verändert. Viele Fälle hatten mit dem Erwerben von Eigentum und mit Baugenehmigungen für Königreichssäle und Kongreßsäle zu tun. In anderen Fällen ging es um Sorgerechtsstreitigkeiten, bei denen der Elternteil, der kein Zeuge Jehovas war, sich des religiösen Fanatismus bediente, um entweder das alleinige Sorgerecht zu erwirken oder den Elternteil, der ein Zeuge Jehovas war, darin einzuschränken, nützliche Glaubensinhalte und Glaubenspraxis an das eigene Kind weiterzugeben.

Eine amerikanische Rechtsanwältin, Linda Manning, kam 1989 ins kanadische Zweigbüro, um vorübergehend in Rechtsfragen Hilfe zu leisten. Im November desselben Jahres waren wir verheiratet, und es macht uns glücklich, seitdem gemeinsam im Bethel zu dienen.

In den 90er Jahren waren John Burns, ebenfalls Rechtsanwalt im kanadischen Zweigbüro, und ich zusammen in Japan. Dort halfen wir den Brüdern, einen verfassungsrechtlichen Fall zu gewinnen. Er betraf die Freiheit eines Schülers, die Teilnahme an den Kampfsportkursen abzulehnen, deren Belegung von seiner Schule verlangt wurde. Wir haben auch einen Fall gewonnen, bei dem es um das Recht eines Erwachsenen ging, eine Bluttransfusion abzulehnen.

Dann hatten Linda und ich 1995 und 1996 das Vorrecht, wegen des Verbots der Zeugen Jehovas in Singapur und den daraus resultierenden Anklagen fünf Monate in dem Land zu verbringen. Ich verteidigte 64 Männer, Frauen und Jugendliche, gegen die man Strafanzeige erstattet hatte, weil sie christliche Zusammenkünfte besuchten und Bibeln und religiöse Literatur besaßen. Wir gewannen zwar keinen dieser Fälle, aber wir erlebten, wie Jehova seine treuen Diener stärkt, um in Lauterkeit und mit Freude auszuharren.

Dankbar, einen Anteil gehabt zu haben

Heute, im Alter von 80 Jahren, erfreue ich mich einer guten Gesundheit, und ich bin froh, daß ich nach wie vor einen Anteil daran haben kann, Rechtskämpfe für Jehovas Volk zu führen. Noch immer bin ich bereit, jederzeit vor Gericht zu gehen und für das einzutreten, was recht ist. Es freute mich, mitzuerleben, wie die Zahl der Zeugen Jehovas in Kanada von 4 000 im Jahr 1940 auf derzeit 111 000 angestiegen ist. Menschen kommen und gehen, und ein Ereignis folgt auf das andere, aber Jehova aktiviert sein Volk beständig und stellt sicher, daß es in geistiger Hinsicht Gelingen hat.

Gibt es Probleme? Ja, aber Jehovas Wort versichert uns: „Welche Waffe es auch immer sei, die gegen dich gebildet sein wird, sie wird keinen Erfolg haben“ (Jesaja 54:17). Rückblickend auf die mehr als 56 Jahre, die ich mit „der Verteidigung und gesetzlichen Befestigung der guten Botschaft“ im Vollzeitdienst verbracht habe, kann ich nur bestätigen, wie wahr diese Worte der Prophezeiung Jesajas sind (Philipper 1:7).

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Mein jüngerer Bruder, meine Eltern und ich

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Hayden Covington, Rechtsberater

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Nathan Knorr und ich

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Duplessis kniet vor Kardinal Villeneuve

[Bildnachweis]

Photo by W. R. Edwards

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Frank Roncarelli

[Bildnachweis]

Courtesy Canada Wide

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Aimé Boucher

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John Burns, meine Frau Linda (beide ebenfalls Anwälte) und ich