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Kongress der Bibelforscher, Tacoma, Washington, USA

Vor 100 Jahren . . . 1917

Vor 100 Jahren . . . 1917

„DAS neue Jahr ist herbeigekommen unter großen Kämpfen, Unruhen und viel Blutvergießen,“ hieß es im Wacht-Turm vom April 1917. Ja, der Erste Weltkrieg — dieses weltweite Gemetzel, das damals als der Große Krieg bekannt war — tobte in Europa unvermindert weiter.

Obwohl die Bibelforscher damals nicht verstanden, was wahre christliche Neutralität alles einschließt, bemühten sich viele aufrichtig, Blutschuld zu vermeiden. Zum Beispiel wollte der 19-jährige Stanley Willis aus England unbedingt neutral bleiben. Bevor er wegen seiner Einstellung vor Gericht stand, schrieb er: „Ich freue mich sehr über die Gelegenheit, ein solches Zeugnis ablegen zu dürfen. Der Oberst sagte mir heute Morgen, man werde mir befehlen des Königs Uniform zu tragen, und weigere ich mich, werde ich vors Kriegsgericht gestellt.“

Stanley weigerte sich, seine Einstellung zu ändern, und wurde daher zur Zwangsarbeit verurteilt. Dennoch blieb er optimistisch. Zwei Monate später schrieb er: „Durch den ‚Geist der Macht‘, den die Wahrheit gibt, kann man geduldig . . . Dinge ertragen, welche für andere viel härter sind.“ Seine Zeit im Gefängnis nutzte er sinnvoll. Stanley schrieb: „Eine der größten Segnungen dieser jüngsten Prüfungen besteht darin, dass wir viel Zeit zur Ruhe, zum Gebet, zum Nachdenken und Studieren haben.“

Die Vereinigten Staaten beteiligten sich bald offiziell an dem Konflikt. In einer Rede vor dem amerikanischen Kongress am 2. April 1917 verlangte US-Präsident Woodrow Wilson eine formelle Kriegserklärung an Deutschland. Vier Tage später trat man in den Krieg ein. Kurz danach standen Christen in den Vereinigten Staaten vor der Neutralitätsfrage.

Um den dringenden Bedarf an Soldaten zu decken, verabschiedeten die USA im Mai das Wehrpflichtgesetz. Dieses erlaubte der Regierung, Tausende Männer einzuberufen. Einen Monat später trat das Spionagegesetz in Kraft. Militärische Maßnahmen zu behindern wurde damit zum Verbrechen. Schon bald benutzten Gegner der Wahrheit diese Gesetze, um gegen Jehovas friedliebendes Volk „durch Verordnung Unheil zu schmieden“ (Ps. 94:20).

Der Krieg stürzte die Welt ins Chaos — das kam für die Bibelforscher nicht unerwartet. Sie hatten schon jahrzehntelang auf biblische Prophezeiungen hingewiesen, die solche Verhältnisse ankündigten. Unerwartet kam dagegen eine Auseinandersetzung zwischen einigen Dienern Jehovas.

Prüfen und Sichten

Kurz nach dem Tod von Charles Taze Russell traten in den Vereinigten Staaten Schwierigkeiten auf. Die Frage war, wie man die Angelegenheiten von Jehovas Dienern verwalten sollte. Bruder Russell hatte 1884 die Zion’s Watch Tower Tract Society gegründet und leitete diese Rechtskörperschaft als Präsident bis zu seinem Tod im Oktober 1916. Als Joseph F. Rutherford die Führung übernahm, packte ein paar angesehene Männer in der Organisation der Ehrgeiz — darunter vier der Vorstandsmitglieder.

Diesen vier und einigen anderen gefiel es nicht, wie Bruder Rutherford Angelegenheiten handhabte. Ein Streitpunkt war die Arbeit von Paul S. L. Johnson, der als Pilgerbruder (reisender Aufseher) diente.

Kurz vor seinem Tod hatte Bruder Russell dafür gesorgt, dass Johnson als ein reisender Vertreter der Organisation nach England geschickt wurde. Er sollte die gute Botschaft predigen, die Versammlungen besuchen und einen Bericht über das Werk vor Ort erstellen. Bei seiner Ankunft im November 1916 empfing man ihn herzlich. Die Brüder bewunderten ihn sehr, was sein Urteilsvermögen mit der Zeit leider beeinträchtigte. Bald war Johnson davon überzeugt, dass er Bruder Russells Nachfolger sein sollte.

Unbefugt entließ Johnson einige Mitglieder der Bethelfamilie in England, die sich ihm widersetzt hatten. Außerdem versuchte er, die Kontrolle über das Bankkonto der Organisation in London an sich zu reißen. An diesem Punkt rief Bruder Rutherford ihn in die Vereinigten Staaten zurück.

In Brooklyn angekommen, wurde er für sein Verhalten zurechtgewiesen. Anstatt dies demütig anzunehmen, versuchte er mehrfach Bruder Rutherford zu überreden, ihn wieder nach England gehen zu lassen, um sein Werk fortzusetzen. Als das fehlschlug, fing er an den Vorstand zu beeinflussen; vier Mitglieder schlossen sich ihm an.

Bruder Rutherford ging davon aus, dass diese Männer versuchen würden, die Gelder der Organisation in den Vereinigten Staaten an sich zu reißen, wie es Johnson bereits in England getan hatte. Bruder Rutherford unternahm Schritte, sie aus dem Vorstand zu entlassen. Laut Gesetz musste jedes Vorstandsmitglied jährlich von den Mitgliedern der Körperschaft gewählt werden. Bei der Jahresversammlung am 6. Januar 1917 hatte man aber nur drei Vorstandsmitglieder gewählt: Joseph F. Rutherford in das Amt des Präsidenten, Andrew N. Pierson zum Vizepräsidenten und William E. Van Amburgh zum Schriftführer und Schatzmeister. Für die übrigen vier Vorstandsposten wurde keine Wahl durchgeführt. Die vier Gegner waren nämlich bereits in der Vergangenheit in den Vorstand gewählt worden und einige gingen davon aus, dies gelte auf Lebenszeit. Da man sie bei der Jahresversammlung nicht wiedergewählt hatte, gehörten sie rechtlich gesehen gar nicht zum Vorstand. Im Juli 1917 machte Bruder Rutherford von seinem Recht Gebrauch und berief vier treue Männer in den Vorstand, um die nun unbesetzten Posten zu vergeben.

Wie zu erwarten, waren die vier entlassenen Vorstandsmitglieder wütend und starteten eine Kampagne, um ihre Posten wiederzubekommen. Sie scheiterten jedoch. Einige Bibelforscher stellten sich zwar auf ihre Seite und gründeten neue Organisationen, die große Mehrheit blieb aber loyal. Den vier Gegnern gelang es nicht, ihre Vorstandspositionen zurückzuerobern.

Fortschritt trotz Schwierigkeiten

Während dieser ganzen Zeit hörten Bruder Rutherford und die anderen loyalen Brüder im Bethel nicht auf, die Königreichsinteressen voranzutreiben. Die Zahl der Pilgerbrüder, wie reisende Aufseher damals hießen, stieg von 69 auf 93; die Zahl der Kolporteure (allgemeine Pioniere) stieg von 372 auf 461. Auch wurden zum ersten Mal spezielle Kolporteure ernannt, ähnlich den heutigen Hilfspionieren. In einigen Versammlungen dienten bis zu 100 dieser eifrigen Bibelforscher.

Am 17. Juli 1917 wurde ein neues Buch veröffentlicht — Das vollendete Geheimnis. Bis Jahresende war der Bestand aufgebraucht und 850 000 weitere Exemplare mussten bei einer Druckerei in Auftrag gegeben werden. *

Die Umstrukturierung des Bethels, mit der Bruder Russell 1916 begonnen hatte, war 1917 abgeschlossen. Im Wacht-Turm vom Dezember 1917 war zu lesen: „Die Umstrukturierung des Büros wurde . . . durchgeführt und die Arbeit wird nun so reibungslos und effizient verrichtet, wie es für jedes gut geführte Unternehmen beispielhaft sein sollte. Den Büromitarbeitern ist bewusst, dass es kein Recht, sondern eine Ehre ist, im Bethel zu arbeiten.“

Im Wacht-Turm vom September 1917 hieß es: „Seit dem 1. Januar gab es jeden Monat eine Steigerung [der Literaturproduktion] im Vergleich zu demselben Monat des Jahres 1916 . . . Dies scheint für uns ein sehr klarer Beweis dafür zu sein, dass der Segen des Herrn auf der Arbeit hier in der Zentrale in Brooklyn ruht.“

Das Prüfen und Sichten geht weiter

Die gegnerischen Brüder hatten die Organisation verlassen. Das Ergebnis einer Abstimmung in den Versammlungen wurde im Wacht-Turm veröffentlicht und es machte deutlich, dass Bruder Rutherford und die treuen Männer im Bethel von der Mehrheit der Brüder unterstützt wurden. Ihre Prüfung war aber noch nicht vorbei. Das Jahr 1918 hatte zwar gut angefangen, allerdings würde die Organisation eine der schwersten Stunden ihrer neuzeitlichen Geschichte erleben.

^ Abs. 18 Bis 1920 wurde unsere Literatur bei kommerziellen Druckereien hergestellt.