Abgrund
Gemäß dem Handwörterbuch der griechischen Sprache (Nachdruck: Darmstadt 1983, Bd. I/1, S. 6) von Franz Passow bedeutet das griechische Wort ábyssos „sehr tief“ oder auch „unermesslich, ungeheuer“. (Siehe auch A Greek-English Lexicon von Liddell und Scott [Oxford 1968, S. 4].) In der Septuaginta wird es durchweg verwendet, um das hebräische tehṓm (Wassertiefe) wiederzugeben, zum Beispiel in 1. Mose 1:2; 7:11.
Das Wort ábyssos kommt in den Christlichen Griechischen Schriften neunmal vor, siebenmal allein in der Offenbarung. Aus dem Abgrund (ábyssos) kommen die symbolischen Heuschrecken unter ihrem König Abaddon oder Apollyon, dem „Engel des Abgrunds“ (Off 9:1-3, 11). Auch das „wilde Tier“, das gegen Gottes „zwei Zeugen“ Krieg führt und sie tötet, steigt „aus dem Abgrund“ herauf (Off 11:3, 7). Offenbarung 20:1-3 beschreibt, wie Satan für tausend Jahre in den Abgrund geworfen wird. Eine Legion von Dämonen bat dagegen Jesus einmal inständig, ihnen dies nicht anzutun (Luk 8:31).
Biblische Bedeutung. Es ist beachtenswert, dass in der Septuaginta ábyssos nicht als Wiedergabe für das hebräische Wort scheʼṓl verwendet wird, und angesichts der Tatsache, dass Geistgeschöpfe in den Abgrund geworfen werden, kann die Bedeutung richtigerweise insofern nicht auf Scheol oder Hades beschränkt werden, als diese beiden Wörter sich eindeutig auf das allgemeine Grab der Menschheit beziehen (Hi 17:13-16; siehe HADES; SCHEOL). ábyssos bezieht sich nicht auf den „Feuersee“, weil Satan nach seiner Freilassung aus dem Abgrund in den Feuersee geworfen wird (Off 20:1-3, 7-10). Die Worte des Paulus aus Römer 10:7, wo er von Christi Aufenthalt im Abgrund spricht, schließen eine solche Möglichkeit ebenfalls aus und zeigen außerdem, dass der Abgrund nicht dasselbe ist wie der Tartarus. (Siehe TARTARUS.)
Römer 10:6, 7 trägt zur Klärung der Bedeutung des Wortes „Abgrund“ bei, indem es dort heißt: „Die Gerechtigkeit aber, die aus Glauben kommt, redet so: ‚Sag nicht in deinem Herzen: „Wer wird in den Himmel hinaufsteigen?“, nämlich um Christus herabzuholen, oder: „Wer wird in den Abgrund hinabsteigen?“, nämlich um Christus von den Toten heraufzuholen.‘“ (Vgl. 5Mo 30:11-13.) „Der Abgrund“ bezieht sich hier offenkundig auf den Ort, an dem sich Christus an Teilen von drei Tagen aufhielt und von dem ihn sein Vater zurückholte, indem er ihn auferweckte. (Vgl. Ps 71:19, 20; Mat 12:40.) In Offenbarung 20:7 bezieht sich Abgrund auf ein „Gefängnis“, und im Fall Jesu stimmt die Gefangenschaft oder die völlige Handlungsunfähigkeit zufolge seines Todes gewiss damit überein. (Vgl. Apg 2:24; 2Sa 22:5, 6; Hi 38:16, 17; Ps 9:13; 107:18; 116:3.)
Was die Grundbedeutung von „unermesslich“ als Merkmal des „Abgrunds“ betrifft, so ist folgender Kommentar interessant, der in Hastings’ Encyclopædia of Religion and Ethics (1913, Bd. I, S. 54) zu Römer 10:6, 7 gegeben wird: „Die Worte des hl. Paulus lassen die unermessliche Größe dieses Bereichs vermuten, den zu erforschen ein vergebliches Unterfangen wäre.“ Paulus stellt die Unerreichbarkeit des „Himmels“ und des „Abgrunds“ der Erreichbarkeit der Gerechtigkeit durch Glauben gegenüber. Seine Anwendung des verwandten Wortes báthos in Römer 11:33 veranschaulicht dies: „O Tiefe [báthos] des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unausspürbar seine Wege!“ (Siehe ferner 1Ko 2:10; Eph 3:18, 19.) In Übereinstimmung mit Römer 10:6, 7 müsste der als „Abgrund“ dargestellte Ort also für jeden außer für Gott und seinen mit dem „Schlüssel des Abgrunds“ ausgestatteten Engel „unerreichbar“ sein (Off 20:1). Gemoll erklärt ábyssos unter anderem mit „Abgrund der Unendlichkeit“. (Siehe auch A Greek-English Lexicon von Liddell und Scott, S. 4.)
Die Pluralform des hebräischen Wortes mezōláh (oder mezuláh) wird in Psalm 88:6 mit ‘großer Abgrund’ wiedergegeben und bedeutet wörtlich „Abgründe“ oder „Tiefen“. (Vgl. Sach 10:11.) Es ist verwandt mit dem Wort zuláh, das „Wassertiefe“ bedeutet (Jes 44:27).