Zurück zum Inhalt

Zum Inhaltsverzeichnis springen

Deutschland (Teil 1)

Deutschland (Teil 1)

Deutschland (Teil 1)

DEUTSCHLAND hat einen großen Einfluß auf die Geschichte ausgeübt. Die Deutschen stehen in dem Ruf, hart zu arbeiten und der Obrigkeit zu gehorchen. Diese Eigenschaften haben wesentlich zum wirtschaftlichen Wachstum der Nation beigetragen, so daß Westdeutschland mit seiner Bevölkerung von über sechzig Millionen heute eine der führenden Industrienationen der Welt ist und zu allen Teilen der Erde Handelsbeziehungen pflegt. Und um den Bedarf seiner blühenden Wirtschaft zu decken, ist es in den vergangenen Jahren nötig gewesen, über drei Millionen „Gastarbeiter“ aus Griechenland, Jugoslawien, Italien, Spanien, Portugal, der Türkei und aus anderen Ländern ins Land zu holen.

Doch der Einfluß, den Deutschland ausgeübt hat, war auch in anderer Hinsicht zu spüren. Während des Ersten Weltkrieges (1914—1918) stießen deutsche Truppen in der Richtung nach Osten, nach Rußland, vor und in der Richtung nach Westen, über Belgien nach Frankreich. Bevor der Konflikt zu Ende ging, befand sich Deutschland gegen eine Allianz von vierundzwanzig Nationen der Erde im Krieg. Deutschland wurde besiegt. Aber es dauerte nicht lange, bis Adolf Hitler, ein Teilnehmer an jenem Krieg, an die Macht kam. Im Jahre 1933 wurde er als Vorsitzender der Nationalsozialistischen Partei in Deutschland zum Reichskanzler eingesetzt. In kurzer Zeit unterwarf er das deutsche Volk einer Schreckensherrschaft, und im Jahre 1939 stürzte er die ganze Welt in einen Krieg, der noch weitreichender war und noch mehr Zerstörung anrichtete als der Erste Weltkrieg.

Wie verhielten sich die Kirchen in dieser Zeit? In Übereinstimmung mit einem Konkordat, das im Jahre 1933 zwischen dem Vatikan und Deutschland geschlossen worden war, betete die katholische Geistlichkeit jeden Sonntag um den Segen des Himmels für das Deutsche Reich. Erhob die protestantische Geistlichkeit dagegen Protest? Im Gegenteil, im Jahre 1933 gelobte sie vereint, den nationalsozialistischen Staat uneingeschränkt zu unterstützen. Und im Jahre 1941, lange nachdem der Zweite Weltkrieg begonnen hatte, dankte in Mainz die evangelische Kirche Gott dafür, daß er dem Volk einen Adolf Hitler gegeben hatte.

FRÜHERE RELIGIÖSE ENTWICKLUNGEN

Interessanterweise war es hier in Deutschland, am 31. Oktober 1517, daß Martin Luther seine fünfundneunzig Thesen an die Tür der Schloßkirche zu Wittenberg schlug und dadurch seinen Protest gegen Bräuche zum Ausdruck brachte, von denen er glaubte, sie seien im Widerspruch zu Gottes Wort. Aber der religiöse Protest wurde bald mit politischen Interessen verbunden, und schon lange vor dem zwanzigsten Jahrhundert konnte man erkennen, daß nicht nur die katholische Kirche, sondern auch die protestantischen Organisationen ein Teil der Welt waren.

Als jedoch die Zeit näher rückte, in der Gott „das Königreich der Welt“ einem himmlischen König, dem Herrn Jesus Christus, geben wollte, mußte in Deutschland sowie in anderen Teilen der Welt ein Werk verrichtet werden. (Offb. 11:15) Für dieses Werk waren Menschen erforderlich, die einen echten Glauben an die Bibel als das Wort Gottes hatten. Sie mußten erkennen, daß jemand, der ein wahrer Diener Christi sein möchte, „kein Teil der Welt“ sein darf. (Joh. 17:16; 1. Joh. 5:19) Warum nicht? Weil sie nicht irgendeine menschliche Regierung unterstützen, sondern das messianische Königreich Gottes als die einzige Hoffnung der Menschheit verkünden sollten. (Matth. 24:14; Dan. 7:13, 14) Wer würde diese Gelegenheit wahrnehmen?

In den 1870er Jahren hatte Charles Taze Russell in Amerika begonnen, eine kleine Gruppe von Bibelforschern zu versammeln, die sehr am zweiten Kommen Christi interessiert waren. Sie erkannten die Notwendigkeit, die wunderbaren Dinge, die sie aus Gottes Wort lernten, anderen mitzuteilen. Als das Werk Fortschritte machte und biblische Schriften in immer größerem Ausmaße verbreitet wurden, wurde es notwendig, die gesetzliche Körperschaft zu gründen, die heute als Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania bekannt ist, und Bruder Russell war ihr erster Präsident.

Da die Watch Tower Society sich der Wichtigkeit bewußt war, die gute Botschaft bis zu den entferntesten Teilen der Erde auszubreiten, traf sie im Jahre 1891 die Vorkehrung, daß Bruder Russell ins Ausland reiste, um festzustellen, welche Möglichkeiten es gab, das Werk auszudehnen. (Apg. 1:8) Während dieser Reise besuchte Bruder Russell Berlin und Leipzig. Aber später berichtete er: „Wir sehen ... nichts, was uns auf eine Ernte in Italien, in der Türkei, in Österreich oder Deutschland hoffen lassen würde.“ Dennoch wurden nach seiner Rückkehr Vorkehrungen getroffen, verschiedene Bücher und Druckschriften in deutscher Sprache zu veröffentlichen. Personen, die aus Deutschland in die Vereinigten Staaten ausgewandert waren und Schriften der Gesellschaft gelesen hatten, schickten diese Schriften an ihre Verwandten und Freunde in Deutschland und ermunterten sie, sie zum Bibelstudium zu benutzen.

Es verging eine Anzahl Jahre, bis 1897 die erste deutsche Ausgabe der Zeitschrift The Watch Tower unter dem Titel Zions Wacht-Turm und Verkünder der Gegenwart Christi in Allegheny (Pennsylvanien, USA) veröffentlicht wurde. Der Redakteur war Charles T. Russell; sein Hilfsredakteur war Otto A. Kötitz. Zu dieser Zeit waren bereits die ersten drei Bände des Werkes Millennium-Tagesanbruch in den Vereinigten Staaten in deutscher Sprache gedruckt worden.

Um den Versand nach Deutschland und in andere europäische Länder zu vereinfachen, wurde in Berlin, Nürnberger Straße 66 ein Literaturdepot eingerichtet. Schwester Margarete Giesecke war dafür verantwortlich, und sie sorgte auch für den regelmäßigen Versand von Zions Wacht-Turm, der am Anfang eine Auflage von 500 Exemplaren hatte. Anfang 1899 wurde das Literaturdepot von Berlin nach Bremen verlegt.

EIN LANGSAMER ANFANG

Trotz vermehrter Anstrengungen während des Jahres 1898 war die Lage so, daß es die Gesellschaft für nötig hielt, folgende Erklärung zu veröffentlichen: „Wir müssen unseren lieben Lesern mitteilen, obschon wir deren Interesse und Eifer anerkennen, daß im vergangenen Jahr die Bestellungen auf Exemplare des Wacht-Turms nicht in der Anzahl eingingen, als wir erwartet hatten, und daß die Frage sich uns stellt: Sollen wir die Ausgabe des Wacht-Turms entweder ganz einstellen oder ihn nur zweimonatlich oder vierteljährlich erscheinen lassen?“ Eine Zeitlang wurde er dann alle drei Monate gedruckt, allerdings mit der doppelten Anzahl Seiten.

Wenn auch bis dahin noch keine besonders großen Resultate erzielt werden konnten, so waren doch die Anstrengungen, die man unternommen hatte, bestimmt nicht umsonst. Damit das Werk nun noch wirkungsvoller durchgeführt werden konnte, wurde im Jahre 1902 in Elberfeld (Wuppertal) ein Büro eingerichtet, für das Bruder Henninges verantwortlich war. Im Oktober 1903 schickte Bruder Russell Bruder Kötitz nach Deutschland, um die Aufsicht zu übernehmen, und Bruder Henninges wurde mit einem Sonderauftrag nach Australien gesandt. Bruder Kötitz war mit seinen Eltern von Deutschland nach Amerika ausgewandert und war dort im Frühling des Jahres 1892 in Jehovas Dienst eingetreten. Mit nur einer kurzen Unterbrechung hatte er als Hilfsredakteur des deutschen Wacht-Turms gedient, bis Bruder Russell ihn nach Deutschland schickte. Dennoch waren — aus der Sicht des Hauptbüros — die Ergebnisse im Jahre 1903 noch nicht sehr befriedigend. So hieß es in dem Jahresbericht, der diese Zeit umfaßte: „Der deutsche Zweig nahm zuerst einen recht günstigen Anlauf, doch sind unsere Hoffnungen bisher nicht ganz erfüllt [worden]. Die Einheit des ,Leibes Christi‘ und sein ,Erntewerk‘ werden von den deutschen Brüdern noch nicht genug erkannt. ... Unsere Tätigkeit soll jedoch 1904 noch fortgesetzt werden, um dem Arbeitsfeld noch Gelegenheit zu bieten, Frucht zu bringen. Wir schauen auf den Herrn und bitten Ihn um Licht, ob es ratsam ist, für die Ihm geweihten Kräfte und Mittel einen günstigeren Boden zu suchen oder nicht.“

Dies waren schwierige Jahre im Hinblick auf das Predigen der guten Botschaft in Deutschland. Schon waren religiöse und politische Feinde auf den Plan getreten. Auch blühte seit der Gründung des deutschen Kaiserreiches im Jahre 1871 der Nationalismus, und er wurde nicht nur von den Politikern, sondern auch von den religiösen Führern gefördert. „Wir wollen kein amerikanisches, wir wollen ein deutsches Christentum“ und ähnliche Schlagworte waren in den Kirchen zu hören. Dies wirkte auf die zarten Pflänzchen der Wahrheit, die gerade erst angefangen hatten zu wachsen, wie ein plötzlicher Frosteinbruch im Frühling. Glücklicherweise gab es jedoch bald die ersten Anzeichen dafür, daß die vielen Anstrengungen, die unternommen worden waren, nicht vergebens waren.

DIE ERSTEN VERSAMMLUNGEN

Im Jahre 1902 zog eine christliche Schwester nach Tailfingen, das östlich des Schwarzwaldes liegt. Sie hatte die Wahrheit in der Schweiz kennengelernt und bemühte sich nun, sie an die Einwohner von Tailfingen weiterzugeben. Sie hieß Margarete Demut, wurde aber, weil sie immer von einem neuen „goldenen Zeitalter“ sprach, von den Ortsbewohnern „Goldne Gretel“ genannt. Durch ihre Tätigkeit kam sie mit einem Mann in Kontakt, der zusammen mit seiner Schwester und zwei Bekannten nach der Wahrheit suchte. Sie hatten schon versucht, die Wahrheit bei der Methodistenkirche zu finden. Nachdem sie ein Traktat gelesen hatten, das sie ihnen zurückgelassen hatte, schrieben sie sogleich nach Elberfeld und bestellten die zur Verfügung stehenden Bände Millennium-Tagesanbruch. Sie waren in der ganzen Gemeinde als fromme Männer bekannt und wurden wegen ihres korrekten Lebenswandels sehr geschätzt. Dort wurde eine der ersten Versammlungen in Deutschland gegründet, und sie war unter der Bevölkerung als „Millenniumsversammlung“ bekannt.

Diese christlichen Brüder wurden von einer anderen Schwester, nämlich von Rosa Möll, sehr eifrig unterstützt. Sie sprach zu jedem in der Gemeinde so freimütig über das „Millennium“, daß sie bald den Beinamen „Millenniums-Rösle“ erhielt. Diese Schwester ist nun 89 Jahre alt und dient Jehova bereits seit über 60 Jahren, 8 Jahre davon im Konzentrationslager Ravensbrück.

Der Same der Wahrheit begann auch im Bergischen Land, nordöstlich von Köln, aufzugehen. Um das Jahr 1900 zog ein Beauftragter der Watch Tower Society aus der Schweiz in diese Gegend. Sein Name war Lauper. In Wermelskirchen traf er den achtzigjährigen Gottlieb Paas sowie Otto Brosius, der Presbyter und gleichzeitig Mitglied des Kirchenvorstands war, und dessen Frau Mathilde. Sie alle suchten die Wahrheit, und nachdem sie die Schriften der Watch Tower Society gelesen hatten, erkannten sie, daß sie die Wahrheit gefunden hatten. Bald organisierten sie Zusammenkünfte in einem Restaurant in Wermelskirchen. Viele Verwandte der Familie Paas und der Familie Brosius besuchten die Zusammenkünfte; oft waren 70 bis 80 Personen anwesend. Bald darauf starb Gottlieb Paas, aber auf dem Sterbebett hielt er noch einmal den Wacht-Turm hoch und sagte „Das ist die Wahrheit, daran müßt ihr festhalten.“

Unterdessen versammelten sich im Kreis Lübbecke (Westfalen) durchschnittlich fünfundzwanzig Männer und Frauen aus verschiedenen Orten, um Gottes Wort zu betrachten. Sie gehörten der evangelischen Kirche an, waren aber keine fleißigen Kirchgänger, da sie oft unbefriedigt nach Hause gehen mußten, besonders dann, wenn der Geistliche über die Höllenlehre gepredigt hatte. Eines Tages fuhr einer ihrer Nachbarn zu einer Auktion nach Saarbrücken und fand in einem Zugabteil ein Traktat, in dem es hieß, es gäbe keine Feuerhölle. Er dachte, dies müsse etwas für seine Nachbarn sein, die er „die frommen Leute“ nannte, und er gab es ihnen nach seiner Rückkehr. Sogleich bestellten sie alle zur Verfügung stehenden Schriften, die dann ihr Studienmaterial wurden. Obwohl es noch geraume Zeit dauerte, bis sie die evangelische Kirche verließen und getauft wurden, wurden sie regelmäßig von den reisenden Pilgerbrüdern besucht, die die Watch Tower Society aussandte. So wurde die Grundlage für eine Versammlung in Gehlenbeck gelegt, aus der später weitere Versammlungen hervorgingen.

Auch in anderen Gegenden war Wachstum zu beobachten. Im Jahre 1902 lernte ein Guts- und Molkereibesitzer namens Cunow die Wahrheit kennen, und er legte die Grundlage für Versammlungen in der Gegend östlich von Berlin. Ungefähr um die gleiche Zeit lernten Bruder Miklich, ein Werkmeister bei der Eisenbahn, und seine Frau in Dresden die Wahrheit kennen. Die Versammlung dort wuchs so schnell, daß sie in den 1920er Jahren mit über 1 000 Brüdern und Schwestern bei weitem die größte Versammlung in Deutschland war.

DIE AUSBREITUNG DER GUTEN BOTSCHAFT BESCHLEUNIGT

Obwohl es kostspielig war, entschlossen sich die Brüder, verschiedenen Zeitungen achtseitige Prospektnummern von Zions Wacht-Turm beizufügen. Wie sehr dieses Unternehmen gesegnet wurde, geht aus einigen der Briefe hervor, die daraufhin eingingen. Hier folgt ein Beispiel:

„Habe heute die Prospektnummer Ihres Wacht-Turms, welche als Beilage der Tilsiter Zeitung kam, eingehend gelesen. Es ist dadurch mein Interesse ... erweckt [worden,] und [ich] möchte gerne mehr durch Ihre Schriften ... aufgeklärt werden, damit ich mir ein klareres Urteil über Tod und Hölle bilden kann. Ich bitte daher die geehrte Gesellschaft, mir das in dem Prospekt erwähnte Büchlein ... gütigst senden zu wollen. ... P. J., Ostpreußen.“

Der Wacht-Turm vom April 1905 hatte darüber folgendes zu sagen:

„Mehr als anderthalb Millionen Wachtturmprospekte sind dadurch zur Verbreitung gelangt, und das Werk [ist dadurch] in Gang gebracht worden, und der Erfolg ist erfreulich. Viele hungrige Seelen haben sich gemeldet, und die Zahl derer, die regelmäßig den Wachtturm beziehen, ist auf zirka tausend gestiegen.“

Während der Same, das Wort über Gottes Königreich, auf jede erdenkliche Weise ausgestreut wurde, wurden immer mehr Resultate sichtbar. Einige, wie Bruder Lauper, begannen als Kolporteure zu arbeiten, um in kurzer Zeit möglichst viel Gebiet zu bearbeiten.

EINIGE SUCHTEN DIE WAHRHEIT

Im Jahre 1905 war Bruder Lauper in der Gegend von Berlin tätig und verbreitete Ausgaben des Wacht-Turms. Eines Tages gab er sein letztes Exemplar in der Wohnung eines älteren Herrn namens Kujath ab, der der Baptistengemeinde angehörte. Sein Sohn Gustav war kurz zuvor ganz beunruhigt von einem Baptistenkongreß zurückgekehrt. Man hatte dort eindringlich vor einem Baptistenprediger namens Kradolfer gewarnt, der plötzlich begonnen hatte zu lehren, die Seele sei sterblich. Gustav horchte auf, begann die Bibel zu durchforschen und lud seinen Vater und seine Freunde ein, mit ihm zu suchen, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Im August des Jahres 1905 besuchte Gustav Kujath seinen Vater, der etwa eine Stunde entfernt wohnte, und sein Vater lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Exemplar des Wacht-Turms, das Bruder Lauper zurückgelassen hatte. Das war genau das, wonach sie beide gesucht hatten. Es war „Speise zur rechten Zeit“. — Matth. 24:45.

Sofort gab Kujath mehrere Wacht-Turm-Abonnements auf und fing an, fünf Serien an andere zu verleihen. Nach einer bestimmten Zeit ließ er die einzelnen Exemplare durch seine Kinder wieder abholen, und dann gab er sie an andere interessierte Personen weiter. Auf diese Weise kamen viele Menschen mit der Botschaft in Berührung. Natürlich fiel er bei den Baptisten in Ungnade, und er wurde am Silvesterabend des Jahres 1905 aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen. Man sagte ihm: „Du gehst den Weg des Teufels.“ Später traten mehr als zehn seiner Verwandten aus der Baptistengemeinde aus.

Der jüngere Kujath hatte auch verstanden, daß Christen nicht versäumen dürfen, sich zu versammeln. Aus diesem Grund schrieb er an das Zweigbüro der Watch Tower Society in Elberfeld und bat um die Adressen anderer, mit denen er zusammenkommen und studieren könnte. Bruder Kötitz konnte ihm nur die Adresse des neunzehnjährigen Bernhard Buchholz, der in Berlin wohnte, geben, den Kujath umgehend aufsuchte. Zu jener Zeit gehörte Buchholz zu einer Gruppe, die sich „Heilandsgemeinde“ nannte. Er hatte gerade die Bände Millennium-Tagesanbruch verbrannt, da er der Meinung war, daß er — ein Waisenkind und wegen einer geringfügigen Verfehlung stellungslos — unmöglich der einzig Würdige in Berlin sein könne, dem die Wahrheit in den Schoß gefallen sein sollte. Aber Kujath ermunterte ihn, die Bücher mit ihm zu studieren, und er ermunterte ihn sogar, Kolporteur zu werden. Kurze Zeit später nahm Kujath ihn in seiner Wohnung auf.

Um nun die Mittel zur Verbreitung der guten Botschaft in diesem Gebiet zur Verfügung zu haben, verzichtete Kujath auf sein Vorhaben, ein neues Haus zu bauen. Er verkaufte das Grundstück, auf dem das Haus gebaut werden sollte, und benutzte den Erlös, um zwei Zimmer in dem Haus seines Vaters zu einem Raum umzubauen, in dem man Zusammenkünfte abhalten konnte. Bis zum Jahre 1908 konnte schon eine kleine Gruppe von 20 bis 30 Personen zusammengebracht werden.

Ungefähr um die gleiche Zeit begann ein Baron namens von Tornow, der große Besitztümer in Rußland hatte, die Wahrheit zu suchen. Er war des ausschweifenden Lebens, das der Adel in Rußland führte, überdrüssig geworden und hatte daher beschlossen, über die Schweiz nach Afrika zu gehen und dort als Missionar zu dienen. Am Abend vor seiner Abreise besuchte er noch einmal eine kleine Bergkapelle in der Schweiz. Als er diese wieder verließ, bot ihm jemand eines der Traktate der Watch Tower Society an. Statt nun nach Afrika abzureisen, bemühte er sich am nächsten Tag, mehr von dieser Literatur zu erhalten. Das war um das Jahr 1907.

Im Jahre 1909 erschien er in seiner besten Garderobe und in Begleitung seines persönlichen Dieners in der Versammlung Berlin. Als er sah, wie einfach der Versammlungsraum war und wie anspruchslos und bescheiden die Menschen waren, die dort zusammenkamen, war er enttäuscht, denn seiner Meinung nach gehörten solche kostbaren Wahrheiten in einen entsprechenden äußeren Rahmen. Aber er war von dem, was er gehört hatte, beeindruckt. Monate später überwand er sich und kehrte zurück; diesmal war jedoch seine Erscheinung wesentlich unauffälliger, denn er kam ohne seinen Diener, und er war weniger auffällig gekleidet. Später gab er zu, daß er wahrscheinlich nie zurückgekehrt wäre, wenn er nicht in der Bibel die Worte gelesen hätte: „Denn ihr seht eure Berufung, Brüder, daß nicht viele, die dem Fleische nach Weise sind, berufen wurden, nicht viele Mächtige, nicht viele von vornehmer Geburt; sondern Gott hat das Törichte der Welt auserwählt, ... damit sich vor Gott kein Fleisch rühme.“ — 1. Kor. 1:26-29.

Nun überzeugt, die Wahrheit gefunden zu haben, kehrte er nach Rußland zurück, verkaufte sein gesamtes Besitztum und ließ sich in Dresden nieder. Er wollte von jetzt an ein bescheidenes Leben führen und war bereit, seinen ganzen Reichtum dem Dienste Jehovas zu widmen.

GUT ORGANISIERTE VORTRAGSREISEN

Im Jahre 1913 ließ Bruder von Tornow das Zweigbüro in Barmen drei Vortragsreisen vorbereiten, die er größtenteils selbst finanzierte. Bruder Hildebrandt, ein Bäcker aus Golnow (Pommern), verkaufte sein Haus und beteiligte sich ebenfalls an den Kosten. Es wurde eine Reisegruppe, bestehend aus 5 Brüdern und 4 jungen Schwestern, zusammengestellt, die sich dann zweckmäßigerweise in zwei kleinere Gruppen aufteilte.

Bruder Hildebrandt, der als „Quartiermacher“ und „Schriftenwart“ fungierte, fuhr mit 3 bis 4 Schwestern voraus, von denen heute noch 2 im hohen Alter bemüht sind, die Königreichsinteressen zu fördern. Nachdem die Unterkunftsfrage für sie und für die Gruppe, die einige Tage später eintreffen würde, geklärt war, holten sie die Kartons mit Traktaten und anderen Schriften ab, die an das Postamt gesandt worden waren, und brachten sie in ihre Unterkunft. Dort stempelten sie auf die Traktate die Adresse des Saales, in dem der Vortrag stattfinden sollte, sowie die Zeit (die Traktate dienten dadurch gleichzeitig als Einladung), und dann wurden die großen Traktate so gefaltet, daß mindestens 1 200 bis 1 600 Stück in den Ledertaschen untergebracht werden konnten, die Bruder von Tornow eigens für diesen Zweck gekauft hatte. Die Brüder und Schwestern strengten sich sehr an, sie zu verbreiten, denn sie versuchten, morgens um 8.30 Uhr an der ersten Tür zu sein, und sie arbeiteten gewöhnlich bis 7 Uhr abends. Lediglich mittags legten sie eine Pause von einer Stunde ein. Für Kaffeepausen nahmen sie sich keine Zeit.

Ein paar Tage später folgten Bruder Buchholz, Bruder von Tornow und Bruder Nagel nach. Bruder Buchholz hielt die Vorträge. Die Säle waren gewöhnlich überfüllt, und so viele Personen gaben ihre Anschrift ab, daß die drei Brüder am nächsten Tag voll damit beschäftigt waren, sie alle zu besuchen.

Die zweite Reise unseres Vortragsteams führte durch Wittenberg und Halle bis nach Hamburg. Die dritte Reise führte bis zur russischen Grenze, und so konnte in diesem östlichen Raum ein gutes Zeugnis gegeben werden, bevor der Erste Weltkrieg ausbrach.

ENTSCHLOSSEN, AN DER WAHRHEIT FESTZUHALTEN

Im Jahre 1908 begann sich auch im Siegerland etwas zu regen. Otto Hugo Lay, heute neunzig Jahre alt, kam schon im Jahre 1905 durch einen Berufskollegen mit der Wahrheit in Berührung. Zwei Jahre später trat er zusammen mit seinen beiden Kindern aus der Kirche aus und weigerte sich daraufhin, Kirchensteuern zu zahlen, die dann aber durch eine Pfändung eingezogen werden sollten. Der Gerichtsvollzieher wollte die Pfandmarke unauffällig an die Rückseite eines Schrankes kleben, doch Bruder Lay protestierte und sagte, jeder könne und solle sie sehen; er wollte allen, die sie sahen, die Wahrheit über diese Angelegenheit erklären. Im Jahre 1908 wurde er in Weidenau in einer Badewanne getauft und schloß sich dann der Versammlung Siegen an.

Hermann Herkendell lernte die Wahrheit im Jahre 1905 durch ein Traktat kennen, das er in einem Zugabteil gefunden hatte. Er war ein junger Lehrer und befand sich gerade auf dem Weg nach Jena, um sich an der dortigen Universität fortzubilden. Der Inhalt dieses Traktats beeindruckte ihn jedoch so sehr, daß er bald seinen Austritt aus der evangelischen Kirche erklärte. Die Folge war die sofortige Suspension vom Religionsunterricht in der Schule. Bald danach verlor er seine Stellung als Lehrer.

Schon im Jahre 1909 besuchte Bruder Herkendell in Vertretung von Bruder Kötitz Versammlungen, und gegen Ende des Jahres erschien sein Name zum erstenmal im Wacht-Turm in Verbindung mit einer geplanten Reise, auf der er die Gesellschaft als einer ihrer reisenden „Pilger“ vertreten sollte. Im Jahre 1911 heiratete er die Tochter von Bruder Jander, einem wohlhabenden Besitzer einer Gießerei. Statt einer Aussteuer erbat sich die junge Schwester Herkendell von ihrem Vater Geld für eine äußerst ungewöhnliche Hochzeitsreise. Das junge Paar wollte das Geld dazu verwenden, die Königreichsbotschaft unter der deutsch sprechenden Bevölkerung Rußlands auszubreiten. Das Büro in Barmen stellte ihnen die verfügbaren Adressen von Deutschrussen zur Verfügung. Die Reise dauerte viele Monate und war sehr anstrengend, da es oft viele Stunden in Anspruch nahm, um vom Bahnhof zu den Brüdern und den interessierten Personen zu gelangen. Außer der Bahn gab es keine Verkehrsmittel, und der Brief- und Telegrammverkehr war unzuverlässig, so daß sie selten vom Bahnhof abgeholt wurden. Wie viele jungverheiratete Ehepaare würden heute eine solche Hochzeitsreise unternehmen?

Während des Ersten Weltkrieges hatte Bruder Herkendell für kurze Zeit das Vorrecht, die Verantwortung im Büro Barmen zu tragen. Nach dem Krieg diente er dann wieder als reisender Pilgerbruder, bis er im Jahre 1926 auf einer Pilgerreise verstarb.

Als der Jahresbericht für 1908 zusammengestellt wurde, war es ermutigend zu sehen, daß zum erstenmal die meisten Traktate von den Wacht-Turm-Lesern selbst verbreitet worden waren und nur verhältnismäßig wenige durch die Zeitungen. Doch gerade aufgrund der zuletzt genannten Methode kam ein junger Mann von achtzehn Jahren in Hamburg mit der Wahrheit in Berührung. Nachdem er seine Schulzeit beendet hatte, begann er, täglich in der Bibel zu lesen mit dem aufrichtigen Wunsch, sie zu verstehen. Einige Jahre vergingen, und im Jahre 1908 fiel ihm ein Traktat in die Hände, das den Titel hatte „Das Erstgeburtsrecht wird verkauft“. Das interessierte den jungen Mann sehr. Ohne auf den Spott seiner Arbeitskollegen zu achten, schrieb er sofort an die Gesellschaft in Barmen und bestellte die sechs Bände der Schriftstudien. Bald darauf hatte er die Gelegenheit, Bruder Kötitz kennenzulernen, der ihn einlud, einmal nach Barmen zu kommen. Der junge Mann nahm die Einladung an und erklärte gleichzeitig, daß ein solcher Besuch in Barmen auch der Tag seiner Taufe sein würde. Dies geschah dann Anfang 1909. Der Zweigaufseher brachte den jungen Freund, der nun unser Bruder war, zum Bahnhof und fragte ihn, bevor er in den Zug einstieg, ob er gern den Pionierdienst aufnehmen würde. Unser junger Bruder sagte, die Gesellschaft werde von ihm hören, wenn es soweit sei.

Dieser junge Bruder hieß Heinrich Dwenger. Er ordnete bald seine Verhältnisse so, daß er am 1. Oktober 1910 mit dem Pionierdienst beginnen konnte. In den folgenden Jahrzehnten war es sein Vorrecht, in den meisten europäischen Bethelheimen der Watch Tower Society in fast allen Abteilungen zu dienen. Zeitweise reiste er im Auftrage der Gesellschaft, und in schwierigen Situationen vertrat er oft den Zweigaufseher. Viele haben ihn als einen hilfsbereiten Mitarbeiter kennen- und liebengelernt. Jetzt ist er sechsundachtzig Jahre alt und erfreut sich immer noch geistiger und physischer Gesundheit, nachdem er über sechzig Jahre ununterbrochen im Vollzeitdienst gestanden hat.

BRUDER RUSSELL ZUM ZWEITEN MAL IN DEUTSCHLAND

Im Jahre 1909 wurde in organisatorischer Hinsicht eine weitere Verbesserung erzielt, als das Büro in größere Räumlichkeiten in Barmen verlegt wurde. Das bedeutete natürlich zusätzliche Ausgaben. Ohne zu zögern, verkaufte Bruder Cunow seinen Besitz und stattete von dem Erlös das Bethelheim mit den notwendigen Möbeln aus. Doch auch zur geistigen Erbauung wurde im Jahre 1909 viel getan. Im Februar trafen die Brüder in Sachsen Vorkehrungen für eine Anzahl öffentlicher Vorträge, die Bruder Kötitz halten sollte. Sechsmal konnte er Zuhörerschaften von mindestens 250 bis 300 Personen Zeugnis geben.

Aber der Höhepunkt des Jahres 1909 war zweifellos der lang erwartete Besuch Bruder Russells in Deutschland. Nach einem kurzen Aufenthalt in Hamburg traf er in Berlin ein, wo er von einer Abordnung von Brüdern empfangen wurde. Sofort begaben sie sich in den sehr schön ausgestatteten Versammlungsraum, wo 50 bis 60 Brüder geduldig auf Bruder Russells Ankunft gewartet hatten. Eine Anzahl von ihnen sang ein schönes Begrüßungslied, verbunden mit einem Willkommensgruß und Segenswünschen. Bruder Buchholz eröffnete die Zusammenkunft mit einer kurzen Begrüßungsansprache. Dann sprach Bruder Russell über die Wiederherstellung dessen, was Adam verloren hatte, und hob besonders das Vorrecht hervor, das denjenigen zuteil würde, die die Aussicht hätten, Glieder des Leibes Christi zu werden. Nachdem sie gemeinsam einen Imbiß eingenommen hatten, fuhren sie zu den Hohenzollernsälen, wo der öffentliche Vortrag gehalten werden sollte. Der Saal war überfüllt. Über 500 hörten den Vortrag „Wo sind die Toten?“ Etwa 100 Personen mußten stehen. Weitere 400 mußten abgewiesen werden, weil einfach kein Platz mehr vorhanden war, doch sie erhielten außerhalb des Saales Traktate. In Dresden kamen mindestens 900 bis 1 000 Personen, um Bruder Russells zweistündigen öffentlichen Vortrag zu hören. Dann ging die Reise weiter nach Barmen, wo schätzungsweise 1 000 Personen seinen Vortrag hörten. Am folgenden Nachmittag versammelten sich 120 Brüder im Bibelhaus, und an jenem Abend kamen etwa 300 zusammen, um zu hören, wie Bruder Russell biblische Fragen beantwortete. Damit ging Bruder Russells Besuch in Deutschland zu Ende, und kurz nach 23 Uhr bestieg er den Zug in die Schweiz, wo ein zweitägiger Kongreß in Zürich stattfinden sollte.

Im Laufe des Jahres wurden die Brüder in Deutschland ermuntert, ihre Mittel zu verwenden, um das Königreichswerk in Deutschland zu unterstützen, damit keine Hilfe aus dem Ausland mehr nötig wäre. Doch gegen Ende des Jahres beliefen sich die Druckkosten und die Ausgaben für Porto, Fracht, Beilagengebühren, für die Veranstaltung öffentlicher Vorträge und für Reisekosten, Miete, Licht, Heizung und für anderes auf insgesamt 41 490,60 Mark, wohingegen die Spenden nur 9 841,89 Mark betrugen, so daß ein Defizit von 31 648,71 Mark blieb, das durch Vorschußbeträge von dem Hauptbüro in Brooklyn gedeckt wurde. Bruder Russell fühlte sich deswegen veranlaßt, folgendes in seinem Jahresbericht zu schreiben: „Welch große Summen Geldes die Gesellschaft in Deutschland für die freie Verbreitung der Wahrheit in Traktatform (jetzt Volks-Kanzel) ausgegeben hat ... Die Anstrengungen, die wir in Deutschland gemacht haben, sind im Verhältnis viel größer als in irgendeinem anderen Lande. Wir sollten entsprechende Resultate erwarten — es sei denn, daß die Mehrzahl der geweihten Deutschen schon nach den Vereinigten Staaten ausgewandert sind.“

Bruder Russell unterbrach die Weltreise, die er im Jahre 1910 unternahm, für etwa zehn Stunden in Berlin und sprach zu 200 Personen, die auf seine Ankunft gewartet hatten.

Etwa um diese Zeit begann Emil Zellmann, ein Straßenbahnschaffner aus Berlin, die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu ziehen. Er nahm jede Gelegenheit wahr, um in der Bibel zu lesen oder um seinen Fahrgästen Zeugnis zu geben, manchmal sogar zwischen den Haltestellen; einmal trug er zur Erheiterung der Fahrgäste bei, als er statt die nächste Straßenbahnhaltestelle „Psalm 91“ ausrief — er hatte gerade diesen Psalm gelesen. Bald besuchten mehr als zehn Straßenbahner mit ihren Familien die Zusammenkünfte. Diese kleine, aber sehr aktive Gruppe trug viel dazu bei, die Botschaft in Berlin auszubreiten. Obwohl die Brüder schon um fünf Uhr früh anfingen zu arbeiten, gingen sie in ihrem beispielhaften Eifer oft zwei Stunden früher zum Straßenbahndepot, um in den Straßenbahnwagen, die ausfahren sollten, auf jeden Sitzplatz ein Traktat zu legen.

Das Jahr 1911 zeichnete sich dadurch aus, daß Bruder Russell in Deutschland Ansprachen über das Thema „Der Zionismus in der Prophezeiung“ hielt, die in einigen Fällen unter den Zuhörern Verärgerung hervorriefen. Zum Beispiel gab es in Berlin eine Störung, und nahezu 100 Personen verließen bald nach Beginn der Ansprache den Saal, doch schätzungsweise 1 400 blieben zurück und folgten aufmerksam den Ausführungen Bruder Russells bis zum Schluß.

In seinem Reisebericht nahm Bruder Russell wieder auf die Entwicklung des Werkes in Deutschland Bezug und erwähnte — wie im Wacht-Turm vom Juli 1911 zu lesen ist —, daß „die Geschwisterzahl und ihr Interesse zunehme, aber er sei enttäuscht ... [wegen] der Gesamtanzahl der Interessierten, wenn die große Bevölkerung und die Anstrengungen und die angewandten Geldmittel in Betracht gezogen“ wurden. Die Entwicklung im Laufe der Jahre hatte tatsächlich gezeigt, daß die Voraussetzungen zum Wachstum in Deutschland zunächst nicht so günstig waren wie zum Beispiel in Amerika. Ein hoher Prozentsatz der deutschen Bevölkerung war katholisch, ein weiterer sozialistisch, und die Mehrheit war gegenüber der Bibel gleichgültig, und die meisten der Gebildeten waren von Gott entfremdet.

Bruder Russells Europareise im Sommer des Jahres 1912 führte nach München, Reichenbach, Dresden, Berlin, Barmen und Kiel. Für seinen öffentlichen Vortrag hatte er sich das vielversprechende Thema „Jenseits des Grabes“ gewählt. Der Vortrag wurde auf sehr großen Transparenten angekündigt, auf denen mehrere Kirchen dargestellt waren, die dafür bekannt sind, daß sie die Lehren von der Unsterblichkeit der Seele und von der Hölle vertreten. Im Vordergrund war eine große Bibel zu sehen, die mit einer an einer Stelle gerissenen Kette umschlungen war. Im Hintergrund stand Bruder Russell, der auf die Bibel zeigte. Diese Transparente erregten in vielen Städten einen Aufruhr, und einige Polizeibehörden verhinderten, daß sie angeschlagen wurden. Aber dennoch kamen jeweils 1 500 bis 2 000 Personen, um den Vortrag in München, Dresden und Kiel zu hören.

Der öffentliche Vortrag war auch in Berlin gut angekündigt worden. Die Zeitungen hatten mehrmals mit ungewöhnlich großen Anzeigen auf dieses Ereignis aufmerksam gemacht, und an allen Litfaßsäulen waren unsere Plakate zu sehen. Außerdem waren die Botenjungen aller führenden Zeitungen gemietet worden, um den Vortrag mit anzukündigen. Diese Botenjungen trugen blau-weiße Hosen und weiße Kappen, die, mit einem Band gehalten, schräg auf dem Kopf saßen. Vorn und hinten trugen sie Plakate und rasten mit ihren Rollschuhen durch die Straßen der Stadt. Immer, wenn diese Jungen irgendwo in Berlin auftauchten, wußte jeder, daß etwas Großes bevorstand.

Daher ist es verständlich, daß schon am frühen Nachmittag große Menschenmengen nach Friedrichshain strömten, um im größten Saal der Stadt, der etwa 5 000 Personen faßte, Bruder Russells Ansprache zu hören. Bereits Stunden bevor der Saal geöffnet wurde, war das ganze Gebiet belagert. Die unerwartet große Menschenmenge wuchs von Stunde zu Stunde, und die vorhandenen Beförderungsmittel reichten nicht mehr aus, um die Menschenmassen aufzunehmen. Viele, die es sich leisten konnten, kamen mit einer Pferdetaxe vorgefahren. Viele andere konnten überhaupt nicht dorthin gelangen, weil die Verkehrsmittel überfüllt waren. Die Polizei riegelte das Gebiet ab, und es wurde geschätzt, daß 15 000 bis 20 000 Personen keinen Einlaß mehr in den zum Bersten gefüllten Saal fanden. Eifrige Brüder und Schwestern nahmen die Gelegenheit wahr und verbreiteten Tausende von Traktaten sowie eine große Anzahl der Schriftstudien und anderer Schriften unter den vielen Tausenden, die im Saal keinen Platz mehr fanden. Bruder Russell konnte daher wirklich mit dem befriedigenden Gefühl abreisen, bei seinem letzten Besuch in Berlin ein eindrucksvolles Zeugnis gegeben zu haben.

Das nächste Jahr, 1913, war durch den aufrichtigen Wunsch gekennzeichnet, wenn möglich noch mehr Energie, Zeit und Geld einzusetzen, um noch mehr Menschen mit der guten Botschaft vom Königreich zu erreichen. Es wurden Vorkehrungen getroffen, daß Bruder Russells Predigten in der Wochenzeitschrift Der Volksbote erschienen, und dadurch wurden weitere Personen mit der Botschaft erreicht. Man dachte auch an die Blinden, und daher wurde Literatur in Blindenschrift herausgegeben. Die Gesellschaft erklärte sich sogar bereit, den Brüdern kostenlos Literatur zur Verbreitung zuzusenden.

Bruder Russell konnte aus zeitlichen Gründen im Jahre 1913 nicht nach Deutschland reisen, aber die Brüder waren überglücklich, als er Bruder Rutherford schickte, der damals der Rechtsberater der Gesellschaft war. Seine Ansprachen wurden gut besucht, und die Säle waren überall überfüllt. Wiederholt kam es vor, daß viele Personen keinen Einlaß mehr fanden. In Dresden zum Beispiel faßte der Saal etwa 2 000 Personen, und 7 000 bis 8 000 konnten keinen Platz mehr finden. Während seiner Ansprache in Berlin, die von 3 000 Personen besucht wurde, kam es zu einer Störung, als einige Störenfriede so viel Lärm machten, daß es Bruder Kötitz, der den Vortrag für Bruder Rutherford übersetzte, schwerfiel, sich verständlich zu machen. Man darf auch nicht vergessen, daß es zu jener Zeit keine Lautsprecheranlagen gab, so daß man sich unter solchen Schwierigkeiten nur mit einer kräftigen Stimme durchsetzen konnte. Obwohl sich Bruder Kötitz gewaltig anstrengte, konnte er die Lage nicht meistern und verstummte schließlich ganz, als er einen Lungenriß bekam. Kurz entschlossen sprang ein Bruder auf einen Tisch und rief mit kräftiger Stimme: „Was sollen denn die Amerikaner von uns Deutschen denken?“ Das schien die Ruhestörer zum Schweigen zu bringen. Bruder Kötitz übersetzte die Ansprache zu Ende, aber die Brüder, die ihn kannten, berichten, daß er sich von diesen Strapazen nie mehr richtig erholt hätte.

Besonders erfreulich am Ende des Jahres war die Tatsache, daß die finanziellen Kosten, die das Werk verursacht hatte, nicht nur durch die freiwilligen Beiträge gedeckt werden konnten, sondern daß darüber hinaus noch ein kleiner Überschuß bestand. So ging für die Brüder in Deutschland ein Jahr zu Ende, das überaus gesegnet war, und sie waren überzeugt, daß ihnen ein weiteres Jahr eifriger Tätigkeit bevorstand, ein Jahr, von dem viele glaubten, es würde das „letzte Jahr der Ernte“ sein.

1914 — EIN LANGE ERWARTETES JAHR

Nun war das Jahr 1914 gekommen, ein Jahr von welthistorischer Bedeutung, auf das viele Wacht-Turm-Leser seit Jahrzehnten gewartet hatten. Die erste Hälfte jenes Jahres ging genauso ruhig vorüber wie das vorangegangene Jahr. Es ist wahr, daß in Europa eine spannungsgeladene Atmosphäre herrschte, aber da keine Gewalttätigkeiten aufflammten, begannen Gegner des Königreiches, negative Bemerkungen zu machen, und nicht wenige kündigten den „Millenniumsleuten“ schadenfroh eine Niederlage an. Doch dies konnte den Glauben derer, die sich an diesem Zeugniswerk jahrelang beteiligt hatten, nicht erschüttern.

Unterdessen drehte sich das Rad der Geschichte weiter. In verschiedenen europäischen Ländern wurden Manöver abgehalten, denn man wollte „für alle Fälle“ gerüstet sein. Noch schien alles ruhig zu sein, aber die dröhnenden Schritte der exerzierenden Soldaten klangen wie das dumpfe Grollen eines Vulkans, der jeden Moment auszubrechen drohte. Plötzlich hielt die ganze Welt den Atem an. In Sarajevo waren Schüsse gefallen. „Extrablatt! Extrablatt!“ riefen in den Großstädten der Welt die Zeitungsverkäufer auf den Straßen. Der bis dahin mörderischste Krieg der Menschheitsgeschichte war ausgebrochen, ein Krieg, den Historiker zum erstenmal als einen „Weltkrieg“ bezeichneten. Für viele kam der Krieg wie ein Blitz aus heiterem Himmel, und genauso plötzlich wurden die Spötter zum Schweigen gebracht. Bruder Grabenkamp aus Lübbecke sagte zu seinen Söhnen: „So Jungs, jetzt ist es soweit!“, und ähnlich dachten und sprachen seine Brüder in der ganzen Welt. Sie hatten diese Ereignisse erwartet, ja nicht nur das, sie hatten sie im Auftrage Jehovas anderen angekündigt. Sie wußten, daß diese Ereignisse nur die Vorläufer unbeschreiblicher Segnungen sein würden, die Jehova für die Menschheit bereithält.

Nun konnten sie zurückblicken und mit eigenen Augen sehen, wie das Zeugnis, das sie gegeben hatten, bestätigt worden war. Ein Beispiel ist Bruder Dathe, der mit seiner Frau im Jahre 1912 getauft worden war und der Jahre später seinem guten Freund und Bruder, Fritz Dassler, folgendes schrieb:

„In den letzten zwei Stunden, die ich am 23. 6. 54 am Krankenbett meiner lieben Frau verbrachte, zweieinhalb Stunden vor ihrem Einschlafen, gedachten wir auch des für uns immer so wichtig gewesenen Tages, des 28. 6. 1914. — Es war ein Sonntag. Es herrschte wunderbares Sommerwetter. Wir tranken nachmittags Kaffee auf dem Balkon und bewunderten den tiefblauen Himmel. Die Luft war ganz rein und trocken. Kein Wölkchen war am Himmel zu sehen. Ich lenkte dann die Aufmerksamkeit auf die Tageszeitungen: Keine Spannung auf der ganzen Erde, ein tiefer Friede überall. Und doch erwarteten wir für dieses Jahr sichtbare Zeichen für den Beginn der Herrschaft des Christus. Die Zeitungen triumphierten schon und brachten einen Schmähartikel nach dem anderen über die wahrhaft Gläubigen, die für 1914 den Weltuntergang prophezeit hatten. Damals standen wir in einem heftigen Kreuzfeuer. Aber durch Gottes Güte und Macht vermochten wir allen Anfeindungen zu widerstehen. Wir wiesen immer wieder darauf hin, daß das Jahr 1914 noch lange nicht vorüber sei. ... Aber am Montag, dem 29. Juni 1914, nahmen wir frühmorgens die Zeitung in die Hand und lasen die ganz große Überschrift ,Das österreichische Thronfolgerpaar in Sarajevo ermordet‘. Über Nacht war da der politische Himmel ganz schwarz geworden. Und vier Wochen später begann der Erste Weltkrieg. Nun waren wir in den Augen unserer Gegner auf einmal die größten Propheten geworden.“

Die Bereitschaft dieser treuen Diener, Jehovas geoffenbarten Willen zu tun, half ihnen zu erkennen, daß ein noch größeres Werk vor ihnen lag, auch wenn das Jahr 1914 gekommen und vergangen wäre. Jehova lenkte sein Volk so, daß sein Vorhaben durchgeführt werden konnte. Die Vorbereitungen für das gewaltige Zeugnis, das durch das „Photo Drama der Schöpfung“ gegeben wurde, sind ein gutes Beispiel dafür. Die notwendige Ausrüstung, die Filme, Lichtbilder und die Anleitungen, traf kurz vor Ausbruch des Krieges in Deutschland ein. Ein Teil des Photo-Dramas war schon früher eingetroffen und am 12. April 1914 anläßlich eines Kongresses in Barmen gezeigt worden, ebenso auf einem Kongreß in Dresden, der vom 31. Mai bis zum 2. Juni stattfand und an dem auch eine Anzahl Brüder aus Rußland und Österreich-Ungarn teilnahmen.

Als der restliche Teil des Films drei Wochen vor dem Ausbruch des Krieges in Deutschland eintraf, traf die Gesellschaft sogleich Vorkehrungen, um das Drama in der Stadthalle in Elberfeld zu zeigen. Gemessen an dem Interesse, das die Bevölkerung dem Drama entgegenbrachte, war der Saal viel zu klein, und es mußte noch einmal gezeigt werden. Der große Start aber war in Berlin, wo es zweimal täglich in einem überfüllten Haus gezeigt wurde. Vom 1. bis 23. November 1914 war die Serie (die in vier Teilen an vier aufeinanderfolgenden Tagen gezeigt wurde) fünfmal vorgeführt worden.

Aber der Krieg brachte Probleme mit sich, und die erste Schwierigkeit bestand darin, daß die Verbindung mit Amerika zeitweise unterbrochen war.

SCHWIERIGKEITEN IN DER AUFSICHT DES WERKES

Gottes Volk in Deutschland trat nun in eine Zeit großer Spannungen ein, und es tauchten Probleme hinsichtlich der Aufsicht des Werkes auf. Gegen Ende des Jahres 1914, ungefähr elf Jahre nachdem Bruder Russell Bruder Kötitz beauftragt hatte, nach Deutschland zu gehen und die Aufsicht über das Werk hier zu übernehmen, wurde er plötzlich von verschiedenen Seiten angegriffen und beschuldigt, unkorrekt gehandelt zu haben. Dies führte zu einer Beunruhigung unter den Brüdern und hatte zur Folge, daß Bruder Russell ihn von seiner Dienststellung entband.

Der Bedarf an weiteren Pilgerbrüdern in Deutschland hatte Bruder Russell veranlaßt, einen Bruder aus den Vereinigten Staaten namens Conrad Binkele zu schicken, der in dieser Eigenschaft dienen sollte. Er war ein früherer Methodistenprediger, der erst seit etwa einem Jahr mit dem Wacht-Turm vertraut war, und Bruder Russell hatte daher zunächst gezögert, ihn zu schicken. Bruder Binkele traf in Deutschland ein, als die Schwierigkeiten unter den Dienern ernsthafte Formen annahmen, und im Jahre 1915 wurde ihm die Aufsicht über das Werk in Deutschland anvertraut.

Bruder und Schwester Binkele kehrten jedoch bald in die Vereinigten Staaten zurück. Im Wacht-Turm vom Oktober erschienen ihre Abschiedsworte fett gedruckt auf der letzten Seite mit dem Hinweis, die Zeitverhältnisse hätten ihr „Vermögen aufs äußerste geschwächt“. Unter den „Zeitverhältnissen“ waren wahrscheinlich die Schwierigkeiten zu verstehen, die während des Jahres 1915 immer mehr zugenommen hatten. Im Oktober sah sich Bruder Russell veranlaßt, dem Problem besondere Aufmerksamkeit zu widmen und die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um es zu lösen. In einem Brief, der überschrieben war „Ein persönliches Schreiben von Bruder Russell an die deutschen Bibelforscher“, hieß es:

„Brooklyn, Oktober 1915

Geliebte Geschwister!

Ich gedenke Euer sehr oft, auch in meinen Gebeten, und mein ernstlicher Wunsch ist, daß der Herr Euch segnen möge. Wir haben Mitgefühl für Euch in den Drangsalen des Krieges, von dem Ihr direkt oder indirekt betroffen seid. Auch möchten wir unser Mitgefühl für Euch zum Ausdruck bringen hinsichtlich der Trübsale, die Ihr im Interesse der Wahrheit in Deutschland zu erdulden habt. Es ist nicht unsere Sache, einander zu richten oder zu strafen durch Fällen eines endgültigen Urteils. Wir müssen uns zufriedengeben, wenn irrende Brüder Abbitte leisten, indem wir das Endurteil oder Strafen dem Herrn überlassen, der erklärt hat: „Der Herr wird sein Volk richten.“ — Hebr. 10:30.

Nichtsdestoweniger scheint es im Interesse der Wahrheit und Gerechtigkeit, des heiligen Wandels und des Einflusses der Vertreter der Gesellschaft notwendig, daß die Gesellschaft neue Vertreter in Deutschland hat. Der Krieg brachte gewisse Unbequemlichkeiten mit sich, Post und Telegraph arbeiteten unregelmäßig, und so erklärt [es] sich, daß für eine Zeitlang gewisse Mißverständnisse hinsichtlich der Leitung in Barmen vorherrschten. Wir glauben, daß unser lieber Bruder Binkele unter den obwaltenden Verhältnissen sehr richtig gehandelt und sein Bestes getan hat. Aber nun ist Bruder Binkele, wie Ihr wissen werdet, nach Amerika zurückgekehrt.

Wir möchten die deutschen Geschwister benachrichtigen, daß nunmehr alle Angelegenheiten der Gesellschaft durch ein Komitee von drei Brüdern geregelt werden sollen, und zwar durch die Brüder Ernst Haendeler, Fritz Christmann und Reinhard Blochmann. ...

Liebe Geschwister, ich möchte nun die neue Leitung in Barmen Eurer gemeinsamen Teilnahme und Unterstützung in jeder Hinsicht empfehlen. Der Leib Christi ist einer, lasset keine Spaltung am Leibe sein, wie der Apostel uns ermahnt.“

Aber diese Vorkehrung konnte nicht in Kraft treten, wie es geplant war, denn Bruder Blochmann mußte Barmen verlassen, und Bruder Haendeler war gestorben, noch bevor Bruder Russells Brief in Deutschland eintraf. Da die Spannung in den folgenden Monaten nicht nachließ, ernannte Bruder Russell im Februar des Jahres 1916 ein „Leitkomitee“, das aus fünf Brüdern zusammengesetzt war, nämlich H. Herkendell, O. A. Kötitz, F. Christmann, C. Stohlmann und E. Hoeckle.

Aber auch diese Regelung konnte nicht lange aufrechterhalten werden. Nur wenige Monate nachdem das Komitee noch einmal umbesetzt worden war, wurde Bruder Binkele, der in der Zwischenzeit nach Europa zurückgekehrt war und nun in Zürich (Schweiz) wohnte, dazu ernannt, als Hauptbevollmächtigter der Gesellschaft für Deutschland, die Schweiz und die Niederlande zu dienen, während Bruder Herkendell die Verantwortung für die Schriftleitung erhielt.

Bruder Kötitz, der im Jahre 1914 von Bruder Binkele ersetzt worden war, hatte seitdem das Photo-Drama vorgeführt. Er blieb jedoch das Angriffsziel einiger Brüder, deren Bemühungen nicht dem inneren Frieden der Organisation dienten, sondern der Verwirklichung ihrer eigenen, selbstsüchtigen Wünsche. Elisabeth Lang, die jahrelang mit Bruder Kötitz zusammengearbeitet hatte, traf ihn einmal, wie er tief betrübt auf einer Parkbank in der Nähe des Saales saß, in dem das Photo-Drama gezeigt wurde. Er erzählte ihr, daß er wieder einmal einen Anklagebrief erhalten habe, durch den beabsichtigt werde, ihm die letzten Dienstvorrechte zu nehmen. Er erzählte, daß er das Vorrecht hatte, etwa zehn Jahre lang an der Seite Bruder Russells zu arbeiten, bevor ihm die Verantwortung für das Werk in Deutschland auferlegt worden war. Nun prüfte er sich oft, ob er dieses Vertrauens würdig gewesen sei. Er tröstete sich jedoch mit dem Gedanken: „Nun, wenn nur ein einziger aufgrund meiner 24jährigen Tätigkeit gewürdigt wird, zu den 144 000 zu gehören, dann durfte ich den 144 000. Teil des Werkes tun.“

Es ist verständlich, daß diese ständigen Anschuldigungen an seiner Gesundheit zehrten, die durch den Lungenriß, den er in Berlin erlitten hatte, sehr geschwächt worden war. So kam es, daß er am 24. September 1916 im Alter von 43 Jahren starb. In dem Nachruf der Gesellschaft, der im Wacht-Turm erschien, wurde seine „Treue“ erwähnt und erklärt, daß „sein Eifer, seine Ausdauer und Beharrlichkeit, sein fester Glaube und Wille, seine Hingebung und treue Pflichterfüllung ... von den lieben Geschwistern wohl erkannt oder wertgeschätzt“ worden seien.

Kurz darauf erfuhren die deutschen Brüder, daß Bruder Russell am 31. Oktober, nur fünf Wochen nachdem Bruder Kötitz gestorben war, ebenfalls seinen irdischen Lauf beendet hatte. Dies wirkte auf einige Brüder so deprimierend, daß sie ihren christlichen Dienst aufgaben und abfielen. Aber für die meisten war die Nachricht vom Tode Bruder Russells ein Ansporn, ihre Kraft und Zeit noch intensiver einzusetzen und das begonnene Werk fortzusetzen.

Durch den Krieg waren wiederholt Änderungen in der Aufsicht erforderlich. Von Oktober 1916 bis Februar 1917 diente Paul Balzereit in dieser Eigenschaft; von Februar 1917 bis Januar 1918 Bruder Herkendell; und von Januar 1918 bis Januar 1920 Bruder M. Cunow, der dann von Bruder Balzereit ersetzt wurde.

NEUTRALITÄT

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bot dem Teufel eine Gelegenheit, in der Neutralitätsfrage unter den Brüdern Unsicherheit zu erwecken, eine Unsicherheit, die sogar im Bibelhaus in Barmen zu beobachten war, denn Bruder Dwenger, Bruder Basan und Bruder Hess waren alle im wehrpflichtigen Alter. Während Bruder Dwenger und Bruder Basan entschlossen waren, weder den Fahneneid zu leisten noch Dienst mit der Waffe zu tun, war Bruder Hess unentschlossen. Er ging mit denen, deren Hoffnung nicht Gottes Königreich war, an die Front nach Belgien. Er kehrte nie zurück. Bei einer Nachmusterung wurden auch Bruder Dwenger und Bruder Basan eingezogen. Bruder Basan konnte bald wieder nach Hause zurückkehren, aber Bruder Dwenger wurde nicht entlassen, sondern mußte im Militärbüro Akten abheften. Er war bereit, dies zu tun, da er es nach seinem damaligen Verständnis, das er über diese Frage hatte, mit seinem Gewissen vereinbaren konnte. Bruder Balzereit, ein Pilgerbruder, dachte jedoch ganz anders als Bruder Dwenger, der ihm gesagt hatte, im Ernstfall werde er den Eid und den Dienst mit der Waffe verweigern. Bruder Balzereit äußerte seinen Widerspruch mit den Worten: „Was denkst du, was du für das ganze Werk anrichtest, wenn du so eine Stellung einnimmst?“

Aufgrund der Unsicherheit, die unter ihnen vorherrschte, folgten nicht alle Brüder einem Lauf strenger christlicher Neutralität gegenüber den Angelegenheiten der Nationen. Eine beträchtliche Anzahl der Brüder leistete Militärdienst und kämpfte an der Front. Andere weigerten sich, Militärdienst mit der Waffe zu leisten, aber waren bereit, Sanitätsdienst zu leisten. Einige nahmen jedoch einen festen Standpunkt ein, weigerten sich, sich in irgendeiner Hinsicht am Krieg zu beteiligen, und wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Hans Hölterhoff wurde aufgrund seiner Einstellung einer gemeinen Täuschung ausgesetzt, als er auf den Hof geführt wurde unter dem Vorwand, vor ein Erschießungskommando gestellt zu werden. Schließlich wurde er von einem Militärgericht zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

In Anbetracht der Unsicherheit, die unter Gottes Volk über eine solch wichtige Angelegenheit wie die der christlichen Neutralität herrschte, können wir Jehova bestimmt dankbar sein, daß er weiterhin mit ihm barmherzig verfuhr.

WEITERE AUSDEHNUNG TROTZ UNGÜNSTIGER VERHÄLTNISSE

Das Photo-Drama der Schöpfung trug in diesen Jahren sehr zur Ausdehnung bei. Es wurde jetzt in kleineren Städten gezeigt, wie zum Beispiel in Kiel, wo eine sehr reiche Dame, die bald darauf unsere Schwester wurde, so beeindruckt war, daß sie sogleich den namhaften Betrag von 2 000 Mark spendete, um der inzwischen auf 45 bis 50 Personen angewachsenen Versammlung zu helfen, einen neuen Versammlungssaal zu erwerben.

Christian Könninger wurde durch das Buch Der göttliche Plan der Zeitalter veranlaßt aufzuhorchen. Eine Familienkrise bewog ihn, einen ihm bekannten Bibelforscher namens Ettel zu sich zu bitten, und es wurde ein Studium eingerichtet, an dem sich später auch seine Frau beteiligte. Der nächste Schritt war dann, daß sie um die Anschriften weiterer interessierter Personen und Wacht-Turm-Leser in den umliegenden Städten baten. Gemeinsam luden sie ihre Nachbarn, Freunde und Bekannten zu Vorträgen ein, die in Bruder Ettels Wohnung gehalten wurden. Bruder Könninger und die anderen Brüder nahmen jede Gelegenheit wahr, die sich ihnen bot, um Redner nach Eschweiler und Mannheim, später auch nach Ludwigshafen einzuladen, wo ihre Vorträge sowohl mündlich als auch durch Zeitungen und durch Plakate auf Litfaßsäulen und in Schaufensterscheiben bekanntgemacht wurden.

Im Jahre 1917 bemühte sich Bruder Ventzke aus Berlin, die Wahrheit außerhalb der Grenzen seiner Stadt auszubreiten. Er nahm jeweils einen Rucksack voller Bücher mit und ging zu Fuß nach Brandenburg, einer etwa 50 Kilometer westlich von Berlin liegenden Stadt, und kehrte immer erst einige Tage später, nachdem er alle Literatur abgegeben hatte, zurück. Zur gleichen Zeit besuchten Pilgerbrüder die Stadt Danzig und legten dort die Grundlage für eine Versammlung in Bruder Ruhnaus Wohnung.

KEIN STILLSTAND DES WERKES

Die Brüder hatten verschiedene Erwartungen auf das Jahr 1918 gesetzt. Einige waren sicher, daß es das Ende ihrer irdischen Laufbahn bedeuten würde, und sie hatten diese Hoffnung ihren Freunden und Bekannten gegenüber immer wieder zum Ausdruck gebracht. Schwester Schünke in Barmen hatte zum Beispiel ihren Arbeitskolleginnen erklärt, falls sie eines Tages nicht zur Arbeit erschiene, sei sie „heimgegangen“. Als sich ihre Hoffnungen jedoch nicht erfüllten, zogen sich einige enttäuscht zurück, wie es schon im Jahre 1914 der Fall gewesen war. Andere fragten sich, wie es nun weitergehen werde.

Es gab immer noch einiges zu tun. Die meisten Brüder waren darüber glücklich, denn es war ihr Herzenswunsch, Jehova heiligen Dienst darzubringen. Diese setzten ihre Tätigkeit fort. Sie stellten fest, daß es in den kritischen Zeiten, die nun in Deutschland herrschten, mehr hörende Ohren gab als je zuvor. Dies bestätigt die Erfahrung, die Fritz Winkler (aus Berlin) machte.

Im Jahre 1919 war er in Halle (Saale) beschäftigt und fuhr jeden Sonnabend mit der Eisenbahn nach Gera zu seinen Eltern. An einem Sonnabend stiegen ein Mann und seine Tochter an einer Zwischenstation in den Zug, er mit einem vollgepackten Rucksack und seine Tochter mit einer gefüllten Tasche. Der Zug hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, als der Mann, ein Bruder aus Zeitz, seinen Rucksack öffnete, der bis zum Rand mit Exemplaren des Buches Der göttliche Plan der Zeitalter gefüllt war, und den Reisenden einen Vortrag hielt, wozu er die „Karte der Zeitalter“ benutzte, die auf der ersten Seite dieses Buches zu finden war. Zum Schluß bot er allen den ersten Band der Schriftstudien an. Als er den Zug nach einigen Stationen wieder verließ, war sein Rucksack leer und die Tasche seiner Tochter halb leer. Dieses Erlebnis veranlaßte Fritz Winkler, einen öffentlichen Vortrag zu besuchen, durch den er zu einer Erkenntnis der Wahrheit kam.

EINE SICHTUNG

Aber nicht alle waren mit der Art und Weise, wie die gute Botschaft veröffentlicht wurde, einverstanden. Besonders unter den „Ältesten“, die auf demokratische Weise von den Versammlungen gewählt worden waren, gab es einige, die das Werk eher behinderten, statt es zu fördern. Es wurde notwendig, die Brüder davor zu warnen, mit ihnen zu streiten. Es war besser, sie ihre eigenen Wege gehen zu lassen und die Zeit, die sonst nur bei nutzlosen Auseinandersetzungen verlorengegangen wäre, im Königreichsdienst einzusetzen. Der Wacht-Turm ließ keinen Zweifel darüber, daß eine solche Sichtung eintreten würde, und aus diesem Grund waren Christen ermahnt worden, auf die zu achten, die Zwiespalt und Ärgernis hervorrufen würden, und sich von ihnen abzuwenden. Dadurch wurde es erforderlich, daß in einigen Nachbarländern im Jahre 1919 Veränderungen vorgenommen wurden, und diese betrafen auch die Brüder und das Werk in Deutschland. Im Laufe des Jahres begann zum Beispiel Bruder Lauper, nach seinen eigenen Vorstellungen zu handeln. Er wurde daher gebeten, seinen Vorrat an Büchern und Zeitschriften, die der Watch Tower Society gehörten und die er einige Jahre lang in Verwaltung hatte, wieder zurückzugeben.

Gegen Ende des Jahres 1919 wurden die Brüder von einem noch größeren Problem unterrichtet. Bruder Russell hatte einige Jahre zuvor A. Freytag beauftragt, sich des französisch-belgischen Werkes vom Büro der Gesellschaft in Genf aus anzunehmen. Dies schloß die Vollmacht ein, eine französische Übersetzung des englischen Wacht-Turms sowie der Schriftstudien herauszugeben. Er mißbrauchte jedoch seine Vollmacht und begann, eigene Schriften zu veröffentlichen, wodurch unter den Brüdern beträchtliche Verwirrung entstand. Freytag wurde aus seiner Stellung entlassen, das Büro der Gesellschaft aufgelöst, und ein neues Büro wurde in Bern unter der Leitung von Bruder E. Zaugg und unter der Gesamtaufsicht von Bruder Binkele eröffnet.

Unterdessen hatten Freytags Anhänger begonnen, eigene Zusammenkünfte abzuhalten und unter den Brüdern in Deutschland zu arbeiten, von denen einige die klare Sicht verloren, da Freytag die Gesellschaft kritisierte und verleumdete und sie beschuldigte, falsche Lehren zu verbreiten. Bruder Binkele erachtete es im September des Jahres 1920 für notwendig, Freytags falsche Anschuldigungen zu widerlegen und die vielen Fragen, die aus Deutschland kamen, in einem vierseitigen Rundschreiben zu beantworten. Trotzdem begann die Saat des Zweifels, die Freytag gesät hatte, aufzugehen, und eine Anzahl derer, die nicht standhaft waren, folgten ihm und gründeten ihre eigenen Versammlungen. Diese Gruppe existiert in Deutschland bis auf diesen Tag.

IN ERWARTUNG WEITERER DIENSTAUFTRÄGE

Vom Januar des Jahres 1919 an wurde der Wacht-Turm wieder als sechzehnseitige Ausgabe mit einer Titelseite veröffentlicht (was aus Ersparnisgründen während der Kriegsjahre nicht möglich war). Das Pilgerwerk wurde verstärkt, und nun besuchten vier Brüder regelmäßig die Versammlungen. Zur gleichen Zeit wurde fieberhaft an der Übersetzung des siebenten Bandes der Schriftstudien gearbeitet, nämlich an dem Buch Das vollendete Geheimnis. Außerdem wurde ein vierseitiges Traktat mit dem Titel Der Fall Babylons vorbereitet, das eine Zusammenfassung des Buches enthielt.

Es wurden sorgfältige Vorbereitungen getroffen. Beginnend mit dem 21. August, wurde in den folgenden Monaten eine wahre Flut von Traktaten und von Exemplaren des Buches Das vollendete Geheimnis verbreitet. Es war ein gewaltiger Feldzug, obwohl nicht alle daran teilnahmen, besonders nicht die „Wahlältesten“, die lieber Reden hielten. Selbst einige Brüder und Schwestern, die sonst bereitwillig waren, zögerten, nachdem sie den Inhalt des Buches kennengelernt hatten.

Bruder Richard Blümel aus Leipzig, der 1918 getauft worden war, hatte sich bis dahin noch gar keine Gedanken darüber gemacht, daß er, obwohl er getauft war, formell immer noch Mitglied einer Kirche der Christenheit war. Er war der Meinung: „Wenn ich nicht hineingehe, dann gehöre ich auch nicht dazu.“ Aber nachdem er das Traktat gelesen und erkannt hatte, daß er andere auffordern sollte, Babylon zu verlassen, wußte er, daß er nur dann mit Recht an diesem Werk teilnehmen könne, wenn er selbst aus der Kirche ausgetreten sei. Früh am Morgen des 21. August ließ er seinen Namen offiziell von der Liste der Kirchenmitglieder streichen, und am Nachmittag verbreitete er mit reinem Gewissen das Traktat Der Fall Babylons.

Später in jenem Jahr sprach Bruder Cunow, der zu jener Zeit das Werk in Deutschland beaufsichtigte, auf einem Kongreß in Leipzig über die Ausdehnung des Werkes — etwa 4 000 Brüder waren nun tätig — und kündigte an, daß die Zeitschrift Das Goldene Zeitalter in Deutschland veröffentlicht würde, sobald Anweisungen aus dem Hauptbüro eingingen. Die Anwesenden waren wirklich begeistert, und sie äußerten alle ihre Entschlossenheit, das Werk finanziell zu unterstützen.

DAS FELD REIF ZUR ERNTE

Wie sehr hatte sich doch Deutschland in wenigen Jahren verändert! Vor dem Ersten Weltkrieg waren nur verhältnismäßig wenige bereit, auf die gute Botschaft vom Königreich zu hören. Aber der Kaiser, der im Jahre 1914 siegesgewiß eine herrliche Zukunft für Deutschland verkündet hatte, war nun in die Niederlande, ins Exil, geflohen. Die deutsche Armee, die Frankreich schlagen sollte, war gedemütigt in die Heimat zurückgekehrt. Der Spruch auf dem Koppelschloß „Gott mit uns“ hatte sich als Trugschluß erwiesen. Die heimkehrenden Soldaten hatten die Sinnlosigkeit des Krieges gesehen, eines Krieges, der niemals Gottes Unterstützung hatte, obwohl die Geistlichkeit ihnen wiederholt das Gegenteil eingeredet hatte.

Viele Brüder, die heute noch am Leben sind, bestätigen, daß es gerade dieser grauenhafte und sinnlose Krieg war, der sie veranlaßte, auf die Wahrheit zu hören. Viele konnten nicht glauben, daß Gott irgend etwas mit dieser sinnlosen Zerstörung von Menschenleben zu tun hatte; vielmehr machten sie die Geistlichkeit dafür verantwortlich, die während der sogenannten „Feldgottesdienste“ denen einen himmlischen Lohn versprach, die im Kampf ihr Leben verlieren würden. Andere, die die Nachricht erhalten hatten, ihr Mann, Vater oder Sohn sei auf dem „Feld der Ehre“ gefallen, begannen sich zu fragen, ob sie sich — wie die Geistlichkeit lehrte — auch wirklich im Himmel befänden oder gar in einer Feuerhölle. Für diese Menschen war der Vortrag „Wo sind die Toten?“ sehr zeitgemäß. Die Brüder konnten so viele Bücher verbreiten wie noch nie. Zwei Kolporteurschwestern sollen zusammen durchschnittlich 400 Bände der Schriftstudien im Monat abgegeben haben. Jehovas treue Diener nutzten ihre Gelegenheiten, so gut sie konnten. Innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit blühten an vielen Orten gesunde Versammlungen.

Am 27. Mai 1920 sprachen sieben Redner in sieben großen Sälen verschiedener Stadtteile Berlins zu etwa 8 000 bis 9 000 wahrheitshungrigen Menschen über das Thema „Das Ende naht! Was dann?“ Das Interesse war so groß, daß 1 500 Personen darum baten, besucht zu werden, und 2 500 Bücher sowie andere Schriften abgegeben werden konnten.

Nun kam wirklich die große Zeit für das Photo-Drama. Eine der eindrucksvollsten Vorführungen fand im Gustav-Siegle-Haus in Stuttgart vor 1 000 Personen statt. Es war so viel Interesse vorhanden, daß die Brüder ihre Sitze interessierten Personen überließen. Für die Brüder fand am Sonntag eine besondere Vorführung statt, die nur von einer kurzen Mittagspause unterbrochen wurde. Normalerweise wurde das gesamte Programm an vier aufeinanderfolgenden Abenden vorgeführt.

Mit großer Wertschätzung wurde das Photo-Drama in Sachsen, einer Hochburg sozialistischen Denkens, aufgenommen, wo die Versammlungen wie Pilze nach einem milden Gewitterregen aus dem Erdboden schossen. Dazu gehörte auch eine Versammlung in Waldenburg, wo sich bald bis zu 100 Personen regelmäßig auf einem Gutshof, dessen Besitzer noch kurz zuvor Mitglied des Kirchenvorstandes gewesen war, zum Studium des Wortes Gottes versammelten.

WICHTIGE SCHRITTE AUF DEM WEG ZUR THEOKRATISCHEN ORGANISATION

Bruder Rutherford, der Deutschland in dieser Zeit persönlich besuchen wollte, aber keine Einreiseerlaubnis erhielt, lud nun sechsundzwanzig Brüder aus Deutschland für den 4. und 5. November 1920 nach Basel (Schweiz) ein, um mit ihnen Mittel und Wege zu besprechen, wie man das Werk in Deutschland noch wirkungsvoller durchführen könnte. Der deutsche Zweig wurde aufgelöst und ein neues Büro unter der Bezeichnung „Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft, Zentral-Europäisches Bureau“ eröffnet, dessen Sitz vorübergehend noch in Zürich bleiben, aber so bald wie möglich nach Bern verlegt werden sollte. Dieses Büro, für das ein vom Präsidenten ernannter „Hauptleiter“ verantwortlich war, der dem Herrn völlig ergeben war, sollte die Aufsicht über das Werk in der Schweiz, in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Österreich, Deutschland und Italien führen. Jedes der obengenannten Länder sollte einen „lokalen Leiter“ haben, der ebenfalls vom Präsidenten ernannt wurde. Der Zweck dieser Einrichtung bestand darin, das Werk in Mitteleuropa zu koordinieren, damit es am vorteilhaftesten durchgeführt werden konnte.

Die zweitägige Besprechung mit den sechsundzwanzig Brüdern aus Deutschland, unter denen Bruder Hoeckle, Bruder Herkendell und Bruder Dwenger waren, diente besonders dem Zweck, Mittel und Wege zu finden, wie das Werk in Deutschland am wirkungsvollsten durchgeführt werden konnte, und dazu zu ermitteln, wer der lokale Leiter sein sollte. Das Komitee, das viele Jahre in Deutschland gedient hatte, wurde aufgelöst. Bruder Cunow, der bis dahin das Werk einige Jahre lang geleitet hatte, bat darum, von seinem Amt entbunden und im Pilgerwerk eingesetzt zu werden, so daß es notwendig war, einen neuen Aufseher zu suchen. Paul Balzereit wurde als lokaler Leiter für Deutschland ausgewählt, und Bruder Binkele wurde zum Hauptleiter des Zentraleuropäischen Büros ernannt.

DER „MILLIONEN“-FELDZUG

Die Veröffentlichung der Broschüre Millionen jetzt Lebender werden niemals sterben wurde für den Monat Februar 1921 in Aussicht gestellt, und der Beginn eines Vortragsfeldzuges, der sich über mehrere Jahre erstrecken sollte, wurde offiziell auf den 15. Januar festgesetzt. Die besten Redner wurden beauftragt, die Vorträge zu halten, und wo keine Redner zur Verfügung standen, konnten die Versammlungen an die Gesellschaft schreiben, die dann entsprechende Vorkehrungen traf.

Dadurch wurde die Tür zu einem machtvollen Zeugnis aufgetan, wie es sich die meisten unserer Brüder ein Jahr zuvor nicht hätten träumen lassen. In dem Jahresbericht der Gesellschaft hieß es: „Niemals ist in Deutschland ein solches Interesse an den Tag gelegt worden wie zu dieser Zeit. Große Volksmengen kommen herbei, und obwohl die Opposition zunimmt, breitet sich die Wahrheit aus.“

Das traf auch auf Konstanz zu. Schwester Berta Maurer, die Jehova nun schon seit über fünfzig Jahren dient, erinnert sich heute noch, wie der öffentliche Vortrag „Die Welt ist am Ende — Millionen jetzt Lebender werden niemals sterben!“ auf riesigen Plakaten angekündigt und dann in dem größten Saal der Stadt gehalten wurde. Es war übrigens der gleiche Saal, in dem Johannes Huß zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt worden war. Es wurden weitere Vorträge gehalten, und am 15. Mai 1921 wurden 15 Personen getauft. Damit nahm die Versammlung Konstanz ihren Anfang.

In Dresden war der Vortrag eine regelrechte Sensation. Die Versammlung mietete drei große Säle, aber bereits zwei Stunden vor Beginn des Vortrages mußten Straßenbahnen stillgelegt werden, weil die großen Menschenmassen den Verkehr zum Stillstand gebracht hatten. Die überfüllten Säle konnten niemand mehr aufnehmen. Die Redner hatten große Mühe, sich ihren Weg durch die Menschenmengen zu bahnen, um die Säle zu erreichen. Erst nachdem der Menge das Versprechen gegeben worden war, daß der Vortrag für die Wartenden noch einmal gehalten werden würde, gab sie den Weg frei.

Elisabeth Pfeiffer aus Wiesbaden fand auf der Straße einen Einladungszettel, auf dem der „Millionen“-Vortrag angekündigt wurde. Sie sagte sich: „So ein Unsinn! Ich will aber trotzdem hingehen, denn die Leute, die so etwas glauben, möchte ich einmal kennenlernen.“ Sie ging also hin und war erstaunt, eine große Menge Menschen auf der Straße zu sehen, die vergebens versuchte, in der bereits überfüllten Aula der Höheren Töchterschule, in der der Vortrag gehalten werden sollte, Einlaß zu finden. Zu dieser Zeit waren noch die Franzosen als Besatzungsmacht im Land, und diese versahen freundlicherweise den Ordnungsdienst. Als sie sahen, daß der Saal gefüllt war und Hunderte weitere Personen auf der Straße standen, sprachen sie mit Bruder Bauer, dem Redner, und sagten dann den wartenden Menschen, er sei bereit, auch zu ihnen zu sprechen, nachdem er seinen Vortrag beendet habe. So warteten 300 bis 400 Personen geduldig, darunter auch Frau Pfeiffer. Was sie an jenem Abend hörte, beeindruckte sie so sehr, daß sie von da an alle Zusammenkünfte besuchte und bald eine eifrige Schwester wurde.

Ein andermal hatten Bruder Wandres und Bruder Bauer Vorbereitungen für den Vortrag getroffen, aber im Gegensatz zu den Erfahrungen, die sie mit überfüllten Sälen gemacht hatten, kam an jenem Abend zunächst überhaupt niemand. Als die Zeit für den Vortrag näher rückte, gingen sie beide auf die Straße hinaus, um zu sehen, ob jemand zu erwarten wäre. Sie fanden einige, die daran interessiert waren, den Vortrag zu hören, die aber aus einem den Brüdern unerklärlichen Grund zögerten, das Gebäude zu betreten. Als sie gefragt wurden, warum sie zögerten, erklärten sie, es sei ja der 1. April und sie seien nicht sicher, ob sich nicht einige Spaßvögel lediglich einen Aprilscherz erlauben wollten. Trotzdem stellten sich im Laufe der nächsten halben Stunde 30 bis 40 Leute ein, um dem Vortrag zuzuhören.

Bruder Erich Eickelberg aus Remscheid verbreitete die Millionen-Broschüre gerade in Solingen, als er folgende interessante Erfahrung machte: Er stellte sich einem Mann, den er antraf, mit den Worten vor: „Ich komme, um Ihnen die gute Botschaft zu bringen, daß Millionen jetzt Lebender nicht mehr sterben, sondern in ein goldenes Zeitalter hinüberleben werden, so daß sie unter den Vorkehrungen Jehovas für immer in Frieden und Glück leben können. Diese Broschüre ist dafür ein Beweis und kostet nur zehn Pfennig.“ Der Herr lehnte das Angebot ab, doch sein kleiner Junge, der neben ihm stand, sagte: „Papi kauf sie doch, ein Sarg ist doch viel teurer!“

ORGANISATION ZU NEUER TÄTIGKEIT GERÜSTET

Die Nachkriegsjahre (1919—1922) erwiesen sich für die Brüder in Deutschland als echte Entwicklungs- und Vorbereitungsjahre.

Die Gesellschaft, die daran interessiert war, das Werk nach innen und nach außen zu stärken, unternahm nun die notwendigen Schritte, das Werk hinsichtlich seiner Stellung gegenüber dem Staat gesetzlich zu befestigen. Der Erfolg war, daß die Watch Tower Bible and Tract Society, die im Jahre 1884 in Allegheny (USA) gegründet worden war, am 7. Dezember 1921 in Deutschland als rechtsfähige ausländische Körperschaft anerkannt wurde.

Die Botschaft, die im Jahre 1922 verkündigt wurde, drehte sich hauptsächlich um das Thema „Millionen jetzt Lebender werden niemals sterben“. Die Gesellschaft bestimmte den 26. Februar 1922 als den Tag, an dem auf der ganzen Erde „Millionen“-Vorträge gehalten werden sollten. In Deutschland wurde der Vortrag an jenem Tag in 121 verschiedenen Städten gehalten und von etwa 70 000 Personen besucht. Ein zweiter großer, weltweiter Zeugnistag war der 25. Juni, als in Deutschland 119 Vorträge gehalten wurden, die von ungefähr 31 000 Personen besucht wurden. In jenem Jahr wurde der Vortrag noch zweimal auf der ganzen Erde gehalten, und er wurde in Deutschland am 29. Oktober von 75 397 Personen und am 10. Dezember von 66 143 Personen besucht. So wurden Tausende von Menschen mit der guten Botschaft erreicht.

BRUDER RUTHERFORD BESUCHT EUROPA ERNEUT

Bruder Rutherford unternahm im Jahre 1922 eine ausgedehnte Europareise, während der er Hamburg, Berlin, Dresden, Stuttgart, Karlsruhe, München, Barmen, Köln und Leipzig besuchte. In Hamburg kamen etwa 500 Brüder zu einem eintägigen Kongreß — eine schöne Zunahme seit seinem Besuch acht Jahre zuvor! In Stuttgart stand ein Saal für den öffentlichen Vortrag zur Verfügung, der nur 1 200 Personen faßte; Hunderte mußten an den Türen abgewiesen werden. Und in München sprach Bruder Rutherford zu 7 000 Personen im überfüllten „Zirkus Krone“. Vor Beginn des Vortrages wurde bekannt, daß sich unter den Anwesenden eine Gruppe Antisemiten und auch eine Anzahl Jesuitengeistlicher befanden und daß sie mit der Absicht gekommen waren, Unruhe zu stiften und die Zusammenkunft nach Möglichkeit zu sprengen. Bruder Rutherford erklärte: „Es ist in dieser Stadt [München] und an anderen Orten behauptet worden, daß die Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher von den Juden finanziert würde.“ Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als Zwischenrufe zu hören waren, wie „Das ist auch wahr!“ Aber Bruder Rutherford sprach überzeugend und nachdrücklich und brachte die Unruhestifter bald zum Schweigen, obwohl sie versuchten, sich der Rednerbühne zu bemächtigen und den Redner zu hindern, seinen Vortrag zu Ende zu halten.

Das größte Ereignis in Deutschland während des Jahres 1922 war der Kongreß in Leipzig am 4. und 5. Juni. Die Gesellschaft hatte Leipzig als einen passenden Ort für den deutschen Kongreß ausgesucht. Die Brüder, von denen die meisten in Sachsen lebten, waren sehr arm und hätten eine weite Reise nicht finanzieren können. Daher war Leipzig wirklich der geeignetste Ort.

Für Montagmorgen war vorgesehen, daß Bruder Rutherford Fragen beantwortete. Unter den Fragen, die vorher schriftlich eingereicht worden waren, war eine von besonderem Interesse. Sie befaßte sich mit dem Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, das zur Erinnerung an die über hundert Jahre zuvor in der Umgebung Leipzigs ausgefochtene Völkerschlacht errichtet und im Jahre 1913 feierlich eingeweiht worden war. Die Frage, die in bezug auf dieses Denkmal gestellt wurde, lautete, kurz gesagt, wie folgt: „Wird in Jesaja 19:19 auf dieses Denkmal hingewiesen, wo es heißt: ,An jenem Tage wird sich ein Altar für Jehova mitten im Land Ägypten finden und eine Säule für Jehova neben seiner Grenze.‘?“

Hierzu sei bemerkt, daß schon drei Jahre zuvor — nämlich anläßlich des Kongresses, der im Jahre 1919 in Leipzig stattfand — eine Anzahl Brüder das Völkerschlachtdenkmal besichtigt hatten. An jenem Nachmittag hatte Bruder Alfred Decker, ein „Wahlältester“, der später ein erbitterter Gegner der Wahrheit wurde, einen Vortrag gehalten, in dem er zu beweisen suchte, daß das Völkerschlachtdenkmal tatsächlich die Säule sei, die in Jesaja 19:19 erwähnt werde. Zu dieser Feierstunde war auch der Erbauer des Denkmals, Geheimrat Thieme, mit seinen beratenden Architekten eingeladen worden, um entsprechende Erläuterungen zu geben.

Bevor Bruder Rutherford die Frage beantwortete, besichtigte er dieses gewaltige Denkmal. Als er später vor der ganzen versammelten Gruppe sprach, nahm er kein Blatt vor den Mund, als er erklärte, daß sich Jesaja 19:19 nicht auf dieses Denkmal beziehe. Es verdanke seine Entstehung lediglich dem brennenden Ehrgeiz eines Mannes, der unter dem Einfluß des großen Widersachers gestanden habe. Es liege kein Grund vor, weshalb Jehova am Ende des Evangeliumszeitalters ein solches Denkmal auf Erden errichten lassen sollte. Jeder Teil dieses gewaltigen Denkmals weise darauf hin, daß es seinen Ursprung beim Teufel habe und daß es das Werk seiner Verbündeten und Helfershelfer, der Dämonen, sei, die Menschen beeinflußt hätten, dieses „Denkzeichen der Torheit“ aufzurichten. Der deutsche Kaiser habe gehofft, einmal sagen zu können: „Dort stand Napoleon, der versucht hatte, die Welt zu erobern, dessen Plan aber völlig mißlang — und hier steht nun der deutsche Kaiser, der es ebenfalls unternahm, die Welt zu erobern, und dessen Plan ein großer Erfolg geworden ist, weshalb sich die ganze Welt vor ihm beugen sollte.“

„DIE HARFE GOTTES“

Um die Voraussetzungen für eine schnelle Verbreitung des neuen Buches Die Harfe Gottes, das nun in Deutsch erschienen war, zu schaffen, bereitete die Gesellschaft ein Flugblatt mit der Überschrift „Warum?“ vor, von dem fünf Millionen Exemplare gedruckt wurden. Leider blieben die Druckereien, die mit dem Drucken des Buches Die Harfe Gottes beauftragt worden waren, ständig hinter den Terminen zurück, so daß sich das Datum der Veröffentlichung wiederholt verschob. Der Preis für das Buch, der auf dem Flugblatt der Gesellschaft angegeben worden war, konnte aufgrund der schnell wachsenden Inflation nicht eingehalten werden; und Anfang Januar 1923 mußte der Preis von 100 Mark auf 250 Mark erhöht werden, was dem Gegenwert von einem Viertelpfund Margarine entsprach, obwohl die Kosten für die Veröffentlichung der Harfe Gottes bereits auf 350 Mark je Buch gestiegen waren. Der Inhalt des Buches löste unter den Brüdern und auch unter den Freunden der Wahrheit eine ungeheure Begeisterung aus.

In Langenchursdorf, das zum Gebiet der Versammlung Waldenburg gehörte, war ein junger Bruder namens Erich Peters, der gute rednerische Talente hatte, über den Inhalt des Buches und von der Anregung, damit Studien einzurichten, so begeistert, daß er seinen Vater um die Erlaubnis bat, seine Freunde und Nachbarn einmal wöchentlich an einem bestimmten Abend in die elterliche Wohnung einzuladen, damit er mit ihnen den Inhalt der Harfe Gottes besprechen könne. Dieser Studienabend wurde später von so vielen Personen besucht, daß im Erdgeschoß in allen Räumen Sitzmöglichkeiten eingerichtet werden mußten. Der junge Bruder, der mit Begeisterung über Jehovas Königreich und seine Segnungen sprach, stand zwischen den Zimmern im Türrahmen, damit er von allen gehört und gesehen werden konnte. Dieses Beispiel wurde schnell von vielen anderen Versammlungen nachgeahmt, und das sogenannte „Harfen-Studium“ wurde bald ein Teil des regulären Programms.

DIE ERSTE DRUCKEREI

Von April 1897 bis Dezember 1903 war die deutsche Ausgabe des Wacht-Turms in Allegheny (USA) gedruckt worden und vom Januar 1904 bis zum 1. Juli 1923 in weltlichen Druckereien in Deutschland. Jahrzehntelang waren die Bücher und andere Schriften der Gesellschaft von weltlichen Firmen gedruckt worden, wenn sie nicht direkt aus Amerika geschickt worden waren. Um Kosten zu sparen, wurden im Laufe der Zeit zwei große Flachpressen und andere Maschinen in Barmen aufgestellt, obwohl nur sehr wenig Platz zur Verfügung stand.

Da zunächst keine Brüder da waren, die Erfahrung im Setzen oder Binden von Büchern gehabt hätten, wurde Bruder Ungerer, ein erfahrener Buchdrucker und Schriftsetzermeister aus Bern (Schweiz), nach Barmen geschickt, um die ersten freiwilligen Mitarbeiter auszubilden. Ihre Bereitschaft zu arbeiten und die Entschlossenheit, mit der sie versuchten, trotz der bescheidenen Ausrüstung, die ihnen zur Verfügung stand, gute Druckschriften herzustellen, waren bewundernswert.

Da alle Räume als Schlafzimmer gebraucht wurden, wurden die Druckmaschinen in dem zweistöckigen Heim auf Treppenabsätzen und in einem 20 mal 8 Meter großen Holzschuppen aufgestellt. Bruder Hermann Görtz kann sich noch heute erinnern, wie 100 000 Exemplare der ersten Ausgabe der Zeitschrift Das Goldene Zeitalter (1. Oktober 1922) nachgedruckt wurden. Sie mußten jeden Bogen Papier zweimal mit der Hand anlegen, weil die Schnellpresse keinen automatischen Anleger hatte. Da die Brüder kaum den Bedarf an Druckschriften decken konnten, arbeiteten sie fast ein Jahr lang oft bis Mitternacht.

WIE EINIGE DIE WAHRHEIT KENNENLERNTEN

Manchmal trugen seltsame Umstände dazu bei, daß jemand seine Aufmerksamkeit der Wahrheit zuwandte. Das war bei Bruder Eickelberg der Fall, der eine Vorführung des Photo-Dramas besuchte. Als der Redner über die Reformation sprach und die Bemerkung machte, die Protestanten hätten es aufgegeben zu protestieren, rief jemand aus dem Publikum: „Wir protestieren heute immer noch!“ Der Redner bat darum, daß das Licht eingeschaltet würde, und jeder Anwesende drehte sich um, um zu sehen, wer dieser „mutige“ Zwischenrufer war. Wer anders konnte es sein als ein protestantischer Geistlicher, der zwischen zwei katholischen Geistlichen Platz genommen hatte! Das Publikum war empört und verlangte, daß der Geistliche den Saal verlasse. Bruder Eickelberg erkannte, daß die Wahrheit nicht in den Kirchen zu finden war.

Eugen Stark wollte sich das Photo-Drama in Stuttgart ansehen. Der Saal war bereits mit über 3 000 Personen überfüllt, als bekanntgegeben wurde, der Projektor sei nicht in Ordnung und könne an jenem Abend nicht mehr repariert werden. Alle wurden gebeten, am nächsten Abend wiederzukommen. Bruder Stark war enttäuscht und ging zu seiner Mutter, die der Neuapostolischen Kirche angehörte. Beide kamen zu dem Schluß, daß die Bibelforscher nicht die Wahrheit haben könnten, sonst wäre so etwas nicht vorgekommen. Bruder Stark war entschlossen, am folgenden Abend nicht wieder dorthin zu gehen, sondern statt dessen seine Schwester zu besuchen. Die Straßenbahn fuhr jedoch genau an dem Saal vorbei, in dem der Vortrag gehalten werden sollte, und er war erstaunt, als er sah, daß genauso viele Menschen hineinströmten wie am vorangegangenen Abend. Kurz entschlossen sprang er von der Straßenbahn ab, fiel dabei aber so unglücklich, daß er fast unter die Räder gekommen wäre. Trotz einiger Prellungen stand er auf und ging in den Saal. Hinterher war er so begeistert, daß er die angebotenen Bibelstudienhilfsmittel erwarb und seine Anschrift zurückließ, damit er besucht werden konnte. Von nun an konnte ihn niemand davon abhalten, die Bibel zu studieren.

Kurt Dießner fühlte sich von der Religion abgestoßen, als ihm sein Prediger in der Schule im Kriegsjahr 1915 ein Lied beibrachte. Es handelte von der Vernichtung der feindlichen Nationen, und es hieß darin die deutschen Truppen sollten ihre Gegner in die Seen, in die Sümpfe, in den Vesuv oder in den Ozean jagen. Später, im Jahre 1917, wurden Kirchenglocken abgenommen und zu Granatringen umgeschmolzen, und eine Kirchenzeitung veröffentlichte ein Bild von einer großen Glocke, die von einem Geistlichen mit ausgebreiteten Armen gesegnet wurde. Darunter stand folgender Text: „Und nun gehet hin und zerreißt die Leiber eurer Feinde.“ Darauf traf Kurt Dießner seine Entscheidung. Anfang der 1920er Jahre lernte er die biblische Wahrheit kennen, nahm sie an, und selbst heute ist es ihm noch ab und zu möglich, als Pionier auf Zeit zu dienen.

GANZHERZIG IM AUSDEHNUNGSWERK

Einige von denen, die bereits vor fünfzig oder mehr Jahren Jehovas Ruf, ihm zu dienen, gehört und erwidert haben, sind immer noch unter uns und sprechen begeistert über ihre Tätigkeit in der Zeit, in der sie noch „jung und stark“ waren. In materieller Hinsicht waren sie zwar arm, doch geistig waren sie reich.

Minna Brandt aus Kiel berichtet, daß sie weite Strecken zu Fuß zurücklegte, um die Königreichsbotschaft zu predigen, und wenn sie nicht am gleichen Tag nach Hause zurückkehren konnte, verbrachte sie die Nacht auf den Feldern in einem Heustadel. Später fuhr sie bis in die nördlichsten Städte Schleswig-Holsteins; oft wurde sie mit einem Lastwagen mitgenommen. In jenen Tagen waren die Brüder mit großen Lautsprechern ausgerüstet, die sie benutzten, um nachmittags einen öffentlichen Vortrag auf dem Markt oder an einem anderen geeigneten Ort zu halten, nachdem sie am Vormittag im Dorf gepredigt hatten.

Ernst Wiesner (der später als Kreisaufseher tätig war) und andere fuhren mit dem Fahrrad von Breslau aus 90 bis 100 Kilometer weit, um zu predigen. Die Brüder in Leipzig, wo Erich Frost und Richard Blümel dienten, waren sehr erfinderisch in ihrem Bemühen, die Aufmerksamkeit der Menschen auf die Königreichsbotschaft zu lenken. Eine Zeitlang bedienten sie sich einer kleinen Musikkapelle, welche aus Brüdern bestand, die spielten, während sie durch die Straßen zogen. Diejenigen, die sie begleiteten, gaben in den Häusern, die am Wege lagen, kurz Zeugnis, und dann beeilten sie sich, um mit dem Tempo der Musikkapelle Schritt zu halten.

Im Jahre 1923 wurde die Aufmerksamkeit mit Nachdruck auf den Vollzeitpredigtdienst gelenkt, und es erging der dringende Ruf: „Wir suchen 1 000 Pioniere!“ Das verursachte eine ziemliche Aufregung unter Gottes Volk, denn dies bedeutete, daß fast jeder vierte von den 3 642 „Arbeitern“, die damals Bericht erstatteten, aufgerufen wurde, den Pionierdienst aufzunehmen. Der Ruf verhallte nicht ungehört.

Willi Unglaube zum Beispiel fühlte sich angesprochen und nahm den Pionierdienst auf, doch, wie er sagte, „nicht nur für ein oder zwei Jahre, sondern solange mich Jehova in seinem Werk gebrauchen kann“. Er arbeitete in verschiedenen Gegenden Deutschlands und diente später einige Jahre im Bethel in Magdeburg. Im Jahre 1932 folgte er dem Ruf nach Pionieren im Ausland. Zuerst wurde er nach Frankreich geschickt, dann nach Algerien, Korsika, Südfrankreich, später wieder nach Algerien und dann nach Spanien. Von dort aus ging er nach Singapur, dann nach Malaysia, nach Java und im Jahre 1937 nach Thailand, wo er blieb, bis er im Jahre 1961 nach Deutschland zurückkehrte. Als er dem Ruf zum Pionierdienst folgte, war er fünfundzwanzig Jahre alt, und obwohl er sich jetzt dem siebenundsiebzigsten Lebensjahr nähert, ist er immer noch einer unserer willigsten und erfolgreichsten Pioniere.

Am 1. Februar 1931 nahm Konrad Franke den Pionierdienst auf. Er begann früh in seiner Jugend, seines Schöpfers zu gedenken. Jetzt freut er sich, als Glied der Bethelfamilie auf 42 Jahre ununterbrochenen Vollzeitdienstes zurückzublicken, wovon er 14 Jahre als Zweigaufseher in Deutschland diente.

PILGERDIENST

Die aufmunternden Ansprachen, die die Pilgerbrüder während der zwanziger Jahre hielten, trugen zweifellos viel dazu bei, die Brüder geistig zu erbauen. Es gab damals noch nicht viele Verkehrsmittel, und diejenigen, die zur Verfügung standen, waren nicht sehr komfortabel. Da die Pilgerbrüder viel ländliches Gebiet zu bearbeiten hatten, kam es nicht selten vor, daß sie einen Pferdewagen eines Bauern als Transportmittel benutzten. Zuweilen waren auch lange Fußmärsche nicht zu vermeiden.

Emil Hirschburger wurde einmal gebeten, einen Vortrag in Süddeutschland zu halten. Er reiste mit dem Zug und stellte fest, daß in seinem Abteil sechs Männer saßen, die an ihrer Kleidung als katholische Geistliche zu erkennen waren. Sie unterhielten sich über die Ansprache, die Bruder Hirschburger halten sollte, und wußten natürlich nicht, daß er sich in ihrer Mitte befand. Es schien, daß sie von einer Besprechung kamen und daß der Geistliche, der in der Stadt lebte, in der Bruder Hirschburger seinen Vortrag halten sollte, angewiesen worden war, ihn zu einer öffentlichen Debatte herauszufordern. Dieser Geistliche war daran interessiert, von seinen Amtskollegen Rat zu erhalten, wie er in dieser Diskussion vorgehen sollte, ohne „diesem Bibelforscher“ in der öffentlichen Konfrontation zu unterliegen. Was ihm aber auch von seinen Amtskollegen geraten wurde, es schien ihn offensichtlich nicht zu befriedigen. Einer nach dem anderen verließ den Zug und wünschte den anderen alles Gute. Als der letzte aussteigen wollte, fragte der besorgte Geistliche ihn in einem vertraulichen Ton, wie er darüber denke und ob er glaube, es sei ratsam, zu der Zusammenkunft zu gehen. Darauf erwiderte der Geistliche kurz und in breitem Schwäbisch: „Jo, wenn d’ no’ Kroft hoscht, kannst jo hiegehe!“ Bruder Hirschburger hat ihn bei dem Vortrag nicht gesehen.

SCHÖPFUNGSDRAMA

Zu Beginn der zwanziger Jahre waren die Filme, die das Photo-Drama enthielten, fast völlig abgenutzt. Jedoch gelang es der Gesellschaft, von verschiedenen weltlichen Filmgesellschaften Wochenschauen sowie biblische Filme zu kaufen, und nachdem sie sie überarbeitet hatte, das heißt gewisse unpassende Teile herausgeschnitten oder neue Teile hinzugefügt hatte, konnten diese gezeigt werden. Auf diese Weise entstanden völlig neue Filme von 5 000 bis 6 000 Meter Länge. Außerdem wurden die Lichtbilder, die bis dahin gezeigt worden waren, durch neue Bilder ersetzt, die entweder dem Buch Schöpfung oder anderen Büchern, die die Watch Tower Society veröffentlicht hatte, entnommen waren, oder durch Lichtbilder, die es in Geschäften zu kaufen gab. Es gab damals noch keine Farbfotografie, aber Wilhelm Schumann aus dem Bethel Magdeburg arbeitete unermüdlich, um die Schwarzweißaufnahmen zu kolorieren. Die schönen, bunten Bilder hinterließen bei den Zuschauern immer einen bleibenden Eindruck, und da viele Bilder die wunderbare Schöpfung Jehovas zeigten, wurde der Titel des Films in „Schöpfungsdrama“ abgeändert. Unter dieser Überschrift heißt es im deutschen Jahrbuch von 1932:

„Vom Schöpfungsdrama muß gesagt werden, daß von dem früheren Schöpfungsdrama natürlich nichts weiter übriggeblieben ist als der Name und die Benutzung der Glasbilder etc. Im übrigen ist der dazu gesprochene Text dem Buch Schöpfung und andern [Büchern] entnommen, und auch der Name ,Schöpfungsdrama‘ gründet sich auf das Buch Schöpfung.“

Als im Jahre 1928 eine Vorführung in Stettin beginnen sollte, wurde Erich Frost, ein Berufsmusiker, der bis dahin ein weltliches Orchester dirigiert hatte, nach Stettin gerufen, um die musikalische Begleitung des Films, der natürlich noch ein Stummfilm war, zu übernehmen. Bald schlossen sich dieser Gruppe noch weitere Musiker an. Später benutzten sie sogar ihre Instrumente, um das Vogelgezwitscher und das Rauschen der Bäume zu imitieren. Während einer Vorführung in München im Sommer des Jahres 1930 stieß Heinrich Lutterbach, ein hervorragender Geigenvirtuose, auf das Musikteam und wurde sogleich eingeladen mitzureisen. Freudig nahm er das Angebot an und vervollständigte so das Orchester, das überall gern gehört wurde. Zwei Jahre später erhielt Bruder Frost von der Gesellschaft eine zweite Garnitur Filme und Dias und wurde gebeten, damit nach Ostpreußen zu gehen. Danach übernahm Bruder Lutterbach die Leitung der kleinen Musikkapelle.

Im Jahre 1930 wurde geplant, den Film in München vorzuführen. Das Schöpfungsdrama war dort schon vorher mit großem Erfolg aufgeführt worden, so daß die religiösen Führer natürlich sehr beunruhigt waren. In ihrer Verzweiflung wiesen sie Hunderte von Personen in ihren Münchener Gemeinden an, an den öffentlich bekanntgegebenen Ausgabestellen Eintrittskarten für das Drama abzuholen, aber dann nicht zu erscheinen. Der Erfolg wäre ein leerer Saal. Die Brüder wurden jedoch rechtzeitig auf diesen Plan aufmerksam, und so waren sie in der Lage, entsprechende Gegenmaßnahmen zu treffen. Wie es sich herausstellte, wirkte sich die ganze Aktion auf die Anstifter wie ein Bumerang aus.

DIE GESELLSCHAFT ZIEHT UM

Die verantwortlichen Brüder erkannten bald, daß die Maschinen, die in Barmen zur Verfügung standen, nicht ausreichten. Offensichtlich unter der Leitung des Geistes Jehovas wurde ihre Aufmerksamkeit auf Magdeburg gelenkt, wo ein Grundstück zum sofortigen Kauf zur Verfügung stand. Obwohl sich die Gesellschaft schnell entscheiden mußte, kaufte sie das Grundstück an der Leipziger Straße. Der offizielle Wechsel von Barmen nach Magdeburg erfolgte am 19. Juni 1923. Plötzlich besetzten französische Truppen das Rheinland und das Ruhrgebiet, auch Barmen und Elberfeld. Das bedeutete natürlich, daß die Post, der Bahnhof und die Reichsbank ebenfalls besetzt wurden, und dadurch wäre es sehr schwer gewesen, die Versammlungen von Barmen aus zu betreuen. Im Jahresbericht von 1923 hieß es über dieses Ereignis: „Eines Morgens traf im Brooklyner Hauptquartier die Nachricht ein, daß das deutsche Werk ungefährdet nach Magdeburg umgezogen sei. Gleich am nächsten Morgen meldeten die Zeitungen, daß die Franzosen Barmen in Besitz genommen hätten. Wir dankten dem teuren Herrn für seinen Schutz und Segen.“

Nun konnten wir den Wacht-Turm in unserer eigenen Druckerei herstellen. Die erste Ausgabe, die dort gedruckt wurde, war die vom 15. Juli 1923. Drei oder vier Wochen später wurde eine große Flachpresse mit automatischem Anleger aufgestellt, und man begann, am ersten Band der Schriftstudien zu arbeiten. Gleich danach wurde das Buch Die Harfe Gottes auf der gleichen Maschine gedruckt.

Aber es wurden noch mehr Maschinen benötigt. Aus diesem Grunde bat Bruder Balzereit Bruder Rutherford um die Erlaubnis, eine Rotationsmaschine zu kaufen. Bruder Rutherford erkannte die Notwendigkeit und stimmte zu, doch nur unter einer Bedingung. Er hatte beobachtet, daß sich Bruder Balzereit im Laufe der Jahre einen Bart hatte wachsen lassen, der dem Bart sehr ähnlich sah, den Bruder Russell getragen hatte. Sein Beispiel machte bald Schule, denn es gab auch andere, die so aussehen wollten wie Bruder Russell. Dies hätte natürlich leicht zur Menschenverehrung führen können, und das wollte Bruder Rutherford vermeiden. Daher sagte er Bruder Balzereit bei seinem nächsten Besuch in Anwesenheit der gesamten Bibelhausfamilie, er könne eine Rotationspresse kaufen, doch nur unter der Bedingung, daß er seinen Bart abnehmen ließe. Bruder Balzereit stimmte schweren Herzens zu und ging danach zum Friseur. In den folgenden Tagen gab es manche Verwechslung und auch einige heitere Situationen, weil der „Fremde“ manchmal von seinen Mitarbeitern nicht erkannt wurde.

Ein Jahr später konnte bereits der erste Teil der Maschine im Kellergeschoß aufgestellt werden, und der zweite Teil wurde kurz darauf geliefert. Nun konnte man von einer gut ausgerüsteten Druckerei und Buchbinderei sprechen, und es konnten täglich 6 000 rund 400 Seiten starke Bücher hergestellt werden.

In den Jahren 1923 und 1924 nahm die Literaturverbreitung sehr zu. Um mit dem Bedarf Schritt halten zu können, kaufte die Gesellschaft 1925 ein Grundstück, das an ihr erstes Gebäude grenzte. Die Ausrüstung der Druckerei sowie der Buchbinderei wurde ergänzt und verbessert. Auf dem neu erworbenen Grundstück wurde ein fester Betonbau errichtet, der im Erdgeschoß die Buchbinderei und die Flachpressen aufnehmen konnte und wo auch Platz für zwei Rotationsmaschinen war, während im ersten Stock die Setzerei und andere der Vorbereitung dienende Abteilungen untergebracht wurden und im zweiten Stock das Büro. Dennoch war es oft erforderlich, Überstunden zu machen, denn es wurde immer mehr Literatur verbreitet. Eine zweite Rotationsmaschine wurde im Jahre 1928 angeschafft, aber der Bedarf war so groß, daß die Brüder die Maschinen in zwei Schichten von je zwölf Stunden laufen ließen, sogar sonntags. Das bedeutete, daß die Maschinen mehrere Jahre lang ununterbrochen Tag und Nacht liefen. In der Buchbinderei war es natürlich ähnlich, da die Brüder dort die gedruckte Literatur weiterverarbeiten mußten. Auf diese Weise war es möglich, daß täglich 10 000 Bücher hergestellt wurden.

Nun ergab sich auch die Möglichkeit, auf dem neu erworbenen Grundstück eine würdige Versammlungsstätte zu errichten. Sie wurde geschmackvoll ausgestattet und faßte etwa 800 Personen. Die Brüder nannten sie den „Harfensaal“, ohne Zweifel aus Wertschätzung für das Buch Die Harfe Gottes.

Diejenigen Glieder der Bibelhausfamilie, die sonntags abkömmlich waren, fuhren mit einem großen Lastwagen, auf dem für vierundfünfzig Mitarbeiter Notsitze errichtet worden waren, aber auch mit Bussen, mit der Eisenbahn, mit Personenwagen sowie mit Fahrrädern in die nähere und weitere Umgebung von Magdeburg, um sich am Predigtwerk zu beteiligen. Sie arbeiteten in einem Umkreis von einigen hundert Kilometern und konnten die Grundlage für viele Versammlungen legen.

Im Laufe der Zeit stieg die Zahl der Bibelhausarbeiter auf über zweihundert.

1924 — KONGRESS IN MAGDEBURG

Das größte Ereignis des Jahres 1924 war der Kongreß in Magdeburg, den auch Bruder Rutherford besuchte. Etwa 4 000 Brüder und Schwestern kamen aus ganz Deutschland, einige sogar auf Fahrrädern. Die meisten hatten nur eine kleine, unzureichende Wegzehrung in der Tasche, denn die ganze Nation war verarmt. Viele hatten keine Mittel, um die Reise zu bezahlen, und Tausende mußten zu Hause bleiben. Diejenigen, die mit dem Fahrrad fuhren, mußten damit rechnen, mehrere Tage unterwegs zu sein. Auch ihnen standen nur geringe Mittel für Nahrung und Unterkunft zur Verfügung. Viele brachten ihre Nahrung mit, die hauptsächlich aus trockenem Brot bestand. Wenn die Brüder während der Vorträge zu sehr den Hunger spürten, zogen sie das Brot aus der Tasche und bissen ein Stück ab. Bruder Rutherford war davon so bewegt, daß er kurz entschlossen Vorkehrungen traf, am nächsten Kongreßtag jedem der etwa 4 000 Anwesenden ein Paar heiße Würstchen, zwei Brötchen und eine Flasche Mineralwasser kostenlos aushändigen zu lassen. Wir können uns gut die Freude der Anwesenden vorstellen, als plötzlich an beiden Enden des Saales, in dem der Kongreß stattfand, große Kessel mit Würstchen auftauchten. Die Brüder bildeten lange Reihen, um ihre Mahlzeit entgegenzunehmen. Gestärkt durch die Mahlzeit, die sie gemeinsam eingenommen hatten, kehrten sie zu ihren Sitzen im Saal zurück und fühlten sich wie Gäste, die zu einem Festmahl eingeladen worden waren.

Bei seiner Begrüßungsansprache bat Bruder Rutherford all diejenigen, die sich Jehova hingegeben und dies durch die Taufe symbolisiert hatten, ihre Hand zu erheben. Als er die große Menge sah, fügte er hinzu: „Vor fünf Jahren waren es in ganz Europa nicht so viele.“

Später, während des öffentlichen Vortrages, gab es in der Haupthalle einen unglücklichen Zwischenfall. Durch die Unvorsichtigkeit eines Mannes fiel eine kleine Notlampe auf den Boden, und ein noch Unvorsichtigerer rief: „Feuer!“ und löste damit bei einigen eine furchtbare Panik aus. Da sich das alles am hinteren Ende des Saales abspielte, wußte auf der Rednerbühne niemand so recht, worum es sich handelte, und zunächst vermuteten die Brüder, daß Störenfriede versuchten, die Zusammenkunft zu sprengen. Als die Unruhe nicht nachließ, gab Bruder Rutherford dem Orchester ein Zeichen, damit es zu spielen anfinge. Darauf spielte es das Lied „Ich bete an die Macht der Liebe“, und siehe da, die Tausende im Saal begannen mitzusingen! So glätteten sich die Wogen der Unruhe sehr schnell, und Bruder Rutherford konnte seinen Vortrag ohne weitere Unterbrechung fortsetzen.

„ANKLAGE GEGEN DIE GEISTLICHKEIT“

Dies war der Titel einer Resolution, die im Jahre 1924 zur weltweiten Verbreitung vorbereitet wurde. Die Brüder in Deutschland beteiligten sich besonders im Frühjahr 1925 daran. Es handelte sich um eine äußerst wichtige Resolution, durch die die Geistlichkeit schonungslos bloßgestellt wurde. Die Reaktion war, als hätte man in ein Wespennest gestochen. Besonders in Bayern begann die Geistlichkeit, unsere Brüder anzugreifen und sie in ihrem Werk zu behindern. Der erste deutsche Präsident der Weimarer Republik war gerade gestorben, und es wurde nun eine Wahl vorbereitet. Da unter den Politikern die Tendenz vorherrschte: „Kein Katholik darf Präsident werden“, reagierte man im katholischen Bayern auf alle Publikationen, die nicht romfreundlich waren, mit größtem Mißtrauen. Nicht nur in Bayern, sondern auch in anderen Gebieten Deutschlands kämpfte die Geistlichkeit mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln.

Bruder Balzereits Leben war bedroht. In einem anonymen Brief, den er erhielt, hieß es auszugsweise:

„Sie Teufel in Schafskleidern!

Die Anklage gegen die Geistlichkeit ist Ihr Untergang! Noch ehe Sie es geahnt [haben], werden Sie für diese Welt erledigt sein, samt Ihrer Anhängerschaft, die durch Ihren elenden Tod vor weiteren Schandtaten zurückschrecken ... [wird]. Das Urteil gegen Sie ist gefällt!

Innerhalb dreier Wochen wird von Ihnen verlangt: öffentlicher Widerruf Ihrer Zeitschrift: Anklage gegen die Geistlichkeit. Sollte dies in der verlangten Zeit nicht von Ihnen erfüllt werden, sind Sie ... ein Kind des Todes.

Dies ist keine leere Drohung ...“

Aber dies war auch kein Grund, Kompromisse zu schließen. Im Gegenteil, die kleine, aber mutige Schar des gesalbten Überrestes unternahm Gegenmaßnahmen. Ein Traktat mit der Überschrift Wahr oder nicht wahr? wurde verbreitet, und so wurde die Öffentlichkeit von diesen Drohungen unterrichtet. Darin wurde die Frage aufgeworfen, ob die Beschuldigungen, die in dem Flugblatt Anklage gegen die Geistlichkeit erhoben worden waren, „wahr oder nicht wahr“ seien. Es wurden dann Äußerungen von Geistlichen und Auszüge aus religiösen Zeitschriften angeführt.

In seiner Verzweiflung reichte ein Geistlicher in Pommern bei der Staatsanwaltschaft eine Klage gegen die Wachtturm-Gesellschaft und ihre Beamten ein. Es kam dann zu einem Prozeß in Magdeburg. Aber der Staatsanwalt machte den Fehler, während des Verfahrens die gesamte Resolution vorzulesen, und widerlegte damit seine eigene Behauptung, die Resolution sei gegen das Konsistorium in Stettin gerichtet. Jedem im Verhandlungsraum wurde klar, daß die Resolution nicht nur gegen das Konsistorium in Stettin, sondern gegen die Geistlichkeit in der ganzen Welt gerichtet war. Das Gericht erkannte dies an und sprach Bruder Balzereit frei, fühlte sich aber verpflichtet, ihm den Rat zu geben, in Zukunft nicht mehr solche scharfen Angriffe zu veröffentlichen.

INFLATION

Den Verkündigern war schon im August 1921 der Rat gegeben worden, in Anbetracht der hohen Herstellungskosten mit der Verbreitung des Traktats Der Schriftforscher sparsam zu sein. Es sollte nicht zahllos verteilt, sondern nur solchen gegeben werden, die echtes Interesse zeigten.

Anfang des Jahres 1922 mußte die Gesellschaft bekanntgeben, daß der Preis für ein Jahresabonnement des Wacht-Turms, der zu jener Zeit nur monatlich gedruckt wurde, auf 16 Mark festgesetzt werden müsse. Einen Monat später war es nötig, den Preis auf 20 Mark zu erhöhen, und im Juli des gleichen Jahres stieg er auf 30 Mark. Die Inflation nahm jedoch in den folgenden Monaten solche Ausmaße an, daß die Gesellschaft im Oktober bekanntgeben mußte, sie könne künftig Abonnements nur noch für ein Vierteljahr entgegennehmen. Der Preis für drei Monate war in der Zwischenzeit auf 70 Mark gestiegen. Für das erste Quartal des Jahres 1923 mußten die Brüder 200 Mark bezahlen und für das zweite Quartal bereits 750 Mark. Am 15. Juni kostete ein Jahresabonnement 3 000 Mark und einen Monat später 40 000 Mark. Am 1. August war die Gesellschaft gezwungen, die Belieferung der Abonnenten ganz einzustellen. Jedem konnten nur noch Einzelexemplare gegen sofortige Bezahlung ausgehändigt werden. Am 1. September kostete ein einziges Exemplar bereits 40 000 Mark. Einen Monat später kostete ein Einzelexemplar 1 600 000 Mark, und am 25. Oktober hatte die Inflation solche Ausmaße erreicht, daß ein Einzelexemplar zweieinhalb Milliarden Mark kostete. Das Geld hatte seinen Wert verloren.

Diese kurze Betrachtung der kritischen Jahre der Inflation mag zeigen, unter welch schwierigen Bedingungen das Werk des Herrn in dieser Zeit durchgeführt werden mußte. Ja, während der letzten drei Monate des Jahres 1923 kam die Verbreitung der Schriften der Gesellschaft fast zum völligen Stillstand. Nur mit der Hilfe Jehovas konnte das Werk weiter durchgeführt werden.

„WAHLÄLTESTE“

Ein weiterer Grund, der geeignet gewesen wäre, den Vormarsch des Werkes in den zwanziger Jahren zu bremsen, war die demokratische Verfahrensweise bei der Wahl Ältester. Über die Art und Weise, wie solche Wahlen durchgeführt werden sollten, gab es ganz unterschiedliche Auffassungen. Einige verlangten, daß die Kandidaten in der Lage sein müßten, mindestens 85 Prozent der V.D.M.-Fragen richtig zu beantworten. (V.D.M. bedeutet Verbi Dei Minister oder Diener des Wortes Gottes.) Das war zum Beispiel in Dresden der Fall. Aber die Brüder in Halle machten eine Erfahrung, die uns zeigt, zu welchen Schwierigkeiten solche willkürlichen Erfordernisse führten. In dieser Versammlung gab es Brüder, deren Einstellung dem Werk gegenüber nicht gut war, die aber andererseits die Führung in der Versammlung übernehmen wollten. Als ihnen aber schließlich vorgehalten wurde, sie hätten nicht einmal die V.D.M.-Fragen richtig beantwortet, weshalb sie nicht für eine leitende Stellung in der Versammlung in Frage kämen, holten sie dieses anscheinende Versäumnis sofort nach. Als sie dann aber immer noch nicht die Stellung erhielten, nach der sie strebten, brach eine Rebellion aus, die zur Folge hatte, daß die Versammlung gespalten wurde, und von 400 Verkündigern blieben nur noch 200 bis 250 zurück.

In einigen Versammlungen kam es bei den Wahlen oft zu heftigen Auseinandersetzungen. So zum Beispiel in Barmen, wo im Jahre 1927 durch Handerheben über bestimmte Kandidaten abgestimmt werden sollte. Ein Augenzeuge berichtet, daß es nicht lange dauerte, bis alle durcheinanderschrien, so daß sich die Brüder gezwungen sahen, die nächste Wahl wieder geheim durchzuführen, wie es bei vielen Versammlungen üblich war. In Kiel war es sogar notwendig, eine Ältestenwahl unter Polizeischutz durchzuführen.

Dies geschah, weil einige Kandidaten keine reifen Christen waren. Ja, einige von ihnen widerstanden dem Königreichswerk direkt oder indirekt.

Als die Gesellschaft zum Beispiel anregte, daß der Wacht-Turm regelmäßig in den Versammlungen studiert werden sollte, lehnten sich besonders eine Anzahl „Wahlältester“ gegen diese Anregung auf und verursachten in zahlreichen Versammlungen Spaltungen. Der Erntewerksvorsteher in Remscheid erklärte, künftig sollten nur diejenigen das Wacht-Turm-Studium leiten, die sich Sonntag morgens am Predigtdienst beteiligten. Darauf hob einer der „Wahlältesten“ einen Stuhl hoch, bedrohte damit den Erntewerksvorsteher und verließ dann die Versammlung und nahm vierzig andere mit. Etwas Ähnliches geschah in Kiel, wo trotz der Bemühungen des Bibelhauses 50 der 200 Brüder und Schwestern die Versammlung verließen.

Wenn wir heute zurückblicken, können wir bestimmt sagen, daß die zweite Hälfte der 1920er Jahre in Deutschland eine Zeit der Sichtung war. Einige, die bis dahin mit uns gegangen waren, wurden nun offene Feinde des Königreiches, und ihr Weggang war für Gottes Organisation bestimmt kein Verlust, denn die 1930er Jahre erwiesen sich als eine Zeit wirklicher Prüfungen für diejenigen, die treu geblieben waren.

GESETZLICHE SCHWIERIGKEITEN

Für die Jahre 1924 bis 1926 hatte das Finanzamt die Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft als ausschließlich gemeinnütziges Unternehmen anerkannt und hatte die durch die Abgabe von Schriften vereinnahmten Gelder nicht versteuert. Doch im Jahre 1928 wurde die Gemeinnützigkeit aberkannt. Die Folge war ein Prozeß, der in der Öffentlichkeit viel Beachtung fand, da die Gesellschaft dafür sorgte, daß die Öffentlichkeit mit Hilfe des Wacht-Turms und des Goldenen Zeitalters von diesem Anschlag unterrichtet wurde, der von den Führern der beiden großen Konfessionen ausging. Daß dieser Angriff tatsächlich von den Kirchen ausgegangen war, wurde später von kirchlicher Seite offen eingestanden, und es wurde erklärt, der Zweck habe darin bestanden, „die Bibelforscher an der Verbreitung biblischer Erkenntnis zu hindern“. Die Brüder forderten alle gerechtgesinnten Personen auf, eine Petition gegen diese ungerechte Maßnahme zu unterzeichnen. Es ist verständlich, daß das Gericht tief beeindruckt war, als ihm eine Petition mit nicht weniger als 1 200 000 Unterschriften vorgelegt wurde. Das Finanzgericht entschied später zu unseren Gunsten.

Ein weiteres Mittel, das die religiösen Führer anwandten, um den gewaltigen Fortschritt des Werkes aufzuhalten, war das Bestreben, die Verkündiger mit den Gesetzen des Landes in Konflikt zu bringen. So gab es schon vor dem Jahre 1922 die ersten Gerichtsfälle wegen „unbefugten Hausierens bzw. wegen Hinterziehung der Hausiersteuer“. Im Jahre 1923 folgten weitere Gerichtsfälle, und wiederum lautete die Anklage: „Verstoß gegen die Gewerbeordnung“. Es wurden schwere Strafen verhängt. Im Jahre 1927 wurden 1 169 Brüder verhaftet und wegen „Verstoßes gegen die Gewerbeordnung“ und das „Hausiersteuergesetz“ vor Gericht gestellt. Im Jahre 1928 gab es 1 660 Gerichtsverfahren, und 1927 waren es 1 694. Aber die Geistlichkeit suchte weiter nach einem Gesetz, das sie als Waffe benutzen konnte, um die Bibelforscher zum Schweigen zu bringen. Schließlich glaubte sie, sie habe gefunden, wonach sie gesucht hätte. Die Saarbrücker Landes-Zeitung vom 16. Dezember 1929 berichtete darüber:

„Leider stand die Polizei dem Treiben der Bibelforscher bisher machtlos gegenüber. Die bisher eingeleiteten Strafverfahren ... endeten in allen Fällen mit einem Freispruch ... Nunmehr hat das Kammergericht in Berlin in einem gleichgelagerten Fall auf Bestrafung anerkannt und den Grundsatz aufgestellt, daß unter die durch Polizeiverordnung über die äußere Heilighaltung der Sonn- und Feiertage verbotenen Arbeiten am Sonntag auch das Feilbieten von Druckschriften religiösen Inhalts von Haus zu Haus und auf der Straße fällt, sofern es sich als eine mit körperlicher Anstrengung verbundene Arbeitsbetätigung darstellt und als solche öffentlich bemerkbar ist.

Erfreulicherweise haben nach Bekanntwerden dieses Urteils in letzter Zeit auch verschiedene saarländische Gerichte in ähnlichen Fällen die Angeklagten bestraft. Es ist also jetzt die Möglichkeit gegeben, dem Treiben der Bibelforscher ein Ende zu bereiten.“

BAYERN-AKTION

Derartige Bemühungen wurden in ganz Deutschland unternommen, aber Bayern nahm eine Vorrangstellung ein, denn es kam dort zu mehr Verhaftungen als irgendwo anders. Vorübergehend gelang es sogar, das Werk durch örtliche Gesetze zu verbieten. Im Jahre 1929 entschloß sich die Gesellschaft, an einem einzigen Sonntag das ganze Gebiet südlich von Regensburg mit etwa 1 200 Verkündigern zu bearbeiten. Mit der Reichsbahn wurden Vereinbarungen für zwei Sonderzüge getroffen, von denen der eine in Berlin eingesetzt werden und auch Brüder aus Leipzig mitnehmen sollte, während der zweite in Dresden abfahren und Brüder aus Chemnitz und anderen Städten in Sachsen mitnehmen sollte. Jeder Fahrtteilnehmer mußte 25 Mark bezahlen, was damals ein beachtlicher Betrag war. Aber die Brüder waren freudig bereit, dieses Opfer zu bringen. Für sie war nur wichtig, daß sie an dieser Aktion teilnehmen durften, denn auch der Feind schlief nicht.

Während die Vorbereitungen für diesen Feldzug getroffen wurden, waren sich die Brüder darüber im klaren, daß die Geistlichkeit, sollte sie vorher davon Kenntnis erhalten, ihren Einfluß geltend machen würde, um dieses Vorhaben zu vereiteln. Aus diesem Grund taten die Brüder alles, um den Plan geheimzuhalten. Dennoch konnten sie nicht verhindern, daß die Geistlichkeit eine Woche vorher irgendwie davon Kenntnis erhielt. Plötzlich war die Reichsbahn nicht mehr bereit, die zwei Sonderzüge zu stellen. Sogleich wurden alle betroffenen Versammlungen angewiesen, Busse zu mieten. Doch die Geistlichkeit erfuhr auch davon und veranlaßte, daß am darauffolgenden Wochenende alle Zufahrtsstraßen aus Sachsen von der Polizei überwacht werden sollten. Die Polizei sollte aus irgendeinem Vorwand alle Wagen anhalten, in denen Bibelforscher saßen, und sie so lange aufhalten, bis sie unverrichteter Dinge wieder nach Hause zurückkehren müßten.

In der Zwischenzeit hatte die Reichsbahn von unseren Vereinbarungen mit den Busunternehmen erfahren und erkannte, daß ihr ein großes Geschäft verlorenging. Daher bewilligte sie in letzter Minute die beiden Sonderzüge. Die Brüder bestellten sofort die Busse ab. Von dieser letzten Änderung, die nur zwei Tage vor der Abreise erfolgte, erfuhr die Geistlichkeit nichts. Darum konzentrierte sie sich mit ganzer Kraft auf die Landstraßen, während die zwei Sonderzüge in Reichenbach (Vogtland) zusammengekoppelt wurden und etwa 2 Uhr nachts Regensburg als e i n großer Sonderzug passierten. Von da an hielt der Zug an jedem Bahnhof, um eine Anzahl Brüder aussteigen zu lassen, die zum Teil ihre Fahrräder mitgebracht hatten, um auch in die weiten Landgebiete vorzudringen.

An jenem Tag wurde ein gewaltiges Zeugnis gegeben, denn jeder war mit genügend Literatur, auch mit genügend Gratisliteratur ausgerüstet worden. Die Brüder hatten sich vorgenommen, in jeder Wohnung etwas zurückzulassen. Eine Anzahl Brüder wurde verhaftet und konnte nicht mit dem Sonderzug nach Hause fahren, doch diejenigen, die das Vorrecht hatten, an dieser Aktion teilzunehmen, wurden später nie müde, davon zu erzählen. Und wir gehen sicher nicht fehl in der Annahme, daß sich unsere Gegner auch noch lange an dieses Wochenende erinnert haben.

BANKKRACH

Inmitten der wachsenden Arbeitslosigkeit und der labilen wirtschaftlichen Lage ging die Bank, in der die hauptsächlichen Geldbeträge des Werkes in Deutschland und Zentraleuropa hinterlegt worden waren, bankrott. Allein der deutsche Zweig erlitt dadurch einen Verlust von 375 000 Mark.

Die Gesellschaft war gezwungen, die Versammlungen zu unterrichten, daß der für den Sommer 1930 geplante Kongreß in Berlin nicht stattfinden könne. In diesem Brief wurde auch von einer möglichen „Produktionsunterbrechung“ gesprochen. Aber diese Information wirkte wie ein Alarmruf. Obwohl die finanzielle Lage der Brüder sehr schlecht war, da viele von ihnen arbeitslos waren, waren sie sofort bereit, das Geld, das sie bereits für den Kongreß in Berlin gespart hatten, und darüber hinaus alles, was sie sonst noch an finanziellen Mitteln erübrigen konnten, zu spenden, damit die Publikationen ohne Unterbrechung weiter gedruckt werden konnten. Ja viele opferten sogar ihre Eheringe und anderen Schmuck.

So kam es, daß die schon vor der Bankaffäre eingeleitete weitere Ausdehnung des Werkes nicht behindert, ja nicht einmal aufgehalten wurde. Im Frühling des Jahres 1930 wurde ein weiteres Grundstück gekauft, das an unseren früheren Besitz grenzte. Die alten Gebäude, die auf dem neu erworbenen Grundstück gestanden hatten, wurden abgerissen, und mit dem noch brauchbaren Material bauten die Brüder ein neues, großes Bethelheim mit 72 Zimmern, in denen je zwei Brüder untergebracht wurden, und einem großen Speisesaal.

WEITERE PROZESSE

Im Jahre 1930 wurden weitere 434 neue Prozesse begonnen. Das bedeutete, daß nun zusammen mit den noch schwebenden Prozessen 1 522 Fälle anhängig waren.

Aber unsere religiösen Feinde hatten auch im Jahre 1930 in ihrem Bemühen, uns als Gesetzesübertreter zu brandmarken, einen schweren Stand, denn am 19. April erging an alle Polizeibehörden ein Runderlaß des Ministers, der den folgenden Satz enthielt: „Die Vereinigung verfolgt zur Zeit rein religiöse Zwecke und betätigt sich nicht politisch ... Von der Einleitung von Strafverfahren, insbesondere wegen Vergehens gegen die Reichsgewerbeordnung usw., ist in Zukunft abzusehen.“

KONGRESSE IN PARIS UND BERLIN

Im Jahre 1931 plante Bruder Rutherford wieder eine Reise nach Europa. Vom 23. bis 26. Mai sollte ein Kongreß in Paris stattfinden und vom 30. Mai bis 1. Juni ein Kongreß in Berlin. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation in Deutschland schlug Bruder Rutherford vor, daß die Brüder aus Süddeutschland und aus dem Rheinland nach Paris eingeladen werden sollten, da es für sie billiger sei, dorthin zu reisen als nach Berlin. Es wurden Sonderzüge organisiert, die in Köln, Basel und Straßburg abfahren sollten. Die Brüder schätzten diese Vorkehrung sehr, und wie es sich herausstellte, waren von den 3 000 Anwesenden in Paris 1 450 aus Deutschland gekommen.

Der Kongreß in Berlin fand im Sportpalast statt. Es wurde keine große Anwesendenzahl erwartet, erstens wegen der Wirtschaftskrise und zweitens aufgrund der Tatsache, daß fast 1 500 nach Paris gefahren waren. Welche Freude war es daher, daß fast 10 000 Personen kamen — eine ganz unerwartete Zahl!

Bruder Rutherford, der jede Gelegenheit wahrnahm, um unter den Brüdern weltliche religiöse Bräuche auszumerzen, hatte schon bei einem früheren Kongreß durch seine Kleidung eine kleine Revolution ausgelöst. Er hatte beobachtet, daß die Brüder in Europa — und natürlich auch in Deutschland — bei Kongressen mit Vorliebe schwarze Kleidung trugen. Die Männer trugen nicht nur schwarze Anzüge — und bei Beerdigungen sogar Zylinder —, sondern auch eine schwarze Krawatte, wie es bei den Organisationen der falschen Religion Brauch war. Diese Beobachtung hatte Bruder Rutherford veranlaßt, einen sehr hellen Anzug zu kaufen und dazu eine dunkelrote Krawatte zu tragen. Nachdem er so gekleidet auch nach Deutschland gekommen war, begannen viele, ihre schwarze Kleidung abzulegen.

Während des Kongresses in Berlin lenkte er nun die Aufmerksamkeit auf die vielen Fotografien, die ihn oder Bruder Russell darstellten und die in Form von Postkarten oder Bildern, die teilweise sogar gerahmt waren, verkauft wurden. Nachdem er diese Bilder auf zahlreichen Tischen in dem Wandelgang rund um den Sportpalast entdeckt hatte, erwähnte er sie in seinen nächsten Vortrag, forderte die Anwesenden auf, kein einziges zu kaufen, und bat die verantwortlichen Diener mit unmißverständlichen Worten, die Bilder aus ihrem Rahmen zu entfernen und sie zu vernichten, was dann auch geschah. Er wollte alles tun, um zu vermeiden, daß Menschenverehrung getrieben wurde.

In Verbindung mit dem Kongreß in Berlin besuchte Bruder Rutherford natürlich auch das Zweigbüro in Magdeburg. Wie frühere Besuche wirkte auch dieser wie ein „frischer, befreiender Wind“. Kurz vor Bruder Rutherfords Besuch wurden in allen Zimmern Bilder von ihm und Bruder Russell aufgehängt. Nun wurden sie alle wieder entfernt, sobald Bruder Rutherford sie entdeckt hatte.

Bruder Rutherford waren auch verschiedene andere Dinge nicht entgangen, die im Laufe der Jahre geschehen waren. Nicht nur er, sondern auch zahlreiche Bethelmitarbeiter hatten die Gefahr erkannt, in der sich Bruder Balzereit befand. Es läßt sich nicht leugnen, daß er ein guter Organisator war und daß das Werk in Deutschland unter seiner Leitung gute Fortschritte machte. Sein großer Fehler war jedoch, daß er das gewaltige Wachstum mehr auf seine eigene Fähigkeit zurückführte als auf Jehovas Geist. Während einer Mahlzeit im Bethel forderte Balzereit die Bethelfamilie auf, ihn in Anwesenheit von Weltmenschen nicht mehr als „Bruder“ anzureden. In solchen Fällen sollten sie ihn mit „Herr Direktor“ ansprechen, und er ließ sogar an der Tür seines Büros ein Schild mit der Aufschrift „Direktor“ anbringen.

Während dieser Zeit wurde Balzereits Lauterkeit gegenüber Jehova aus einer anderen Richtung bedroht. Offensichtlich hatte er sich schon immer vor Verfolgung gefürchtet. Als verantwortlicher Leiter des deutschen Büros war er in Verbindung mit der Verbreitung der Resolution Anklage gegen die Geistlichkeit vor Gericht gestellt worden. Er wurde zwar freigesprochen, aber als der Richter ihm nahelegte, solche scharfen Erklärungen in unserer Literatur zukünftig zu vermeiden, war er offensichtlich entschlossen, diesen Rat zu befolgen, denn wenn ihm Ausdrücke und Erklärungen im Wacht-Turm oder in anderen Publikationen aus Brooklyn zu scharf erschienen, schwächte er sie ab.

Auch materialistische Wünsche begannen in ihm aufzusteigen. Balzereit hatte gern Gedichte geschrieben und sie in der Zeitschrift Das Goldene Zeitalter unter dem Pseudonym Paul Gerhard veröffentlicht, und nun hatte er ein Buch geschrieben und in Leipzig veröffentlicht. Dieses Buch wurde dann von den Versammlungen, die die wahren Umstände nicht kannten, mit in die Liste der zu verbreitenden Literatur aufgenommen, was Bruder Balzereit natürlich beachtliche finanzielle Vorteile einbrachte. Er ließ vor dem Bethel auch einen Tennisplatz anlegen, nur nicht so sehr zum Nutzen der gesamten Familie, sondern vielmehr zum eigenen Gebrauch.

Um das neue Gebäude rechtzeitig zum Besuch Bruder Rutherfords fertigstellen und der Bestimmung übergeben zu können, hatte Bruder Balzereit die Zahl der Bethelmitarbeiter, die Ende Dezember des Jahres 1930 noch 165 betrug, auf etwa 230 erhöht. Er ging aber dabei nicht ehrlich vor. Da er fürchtete, daß Bruder Rutherford die Zahl der Mitarbeiter nicht gutheißen würde, sorgte er dafür, daß 50 Brüder auf „Missionsfahrt“ geschickt wurden, damit sie nicht von Bruder Rutherford gesehen wurden. Nach ihrer Rückkehr wurden sie gefragt, ob sie lieber zu ihren Eltern zurückkehren oder den Pionierdienst aufnehmen wollten. Eine Anzahl Brüder, die erkannten, daß es sich hier um das Werk Jehovas und nicht um das von Menschen handelte, ergriff diese Gelegenheit, den Pionierdienst aufzunehmen, wohingegen andere verbittert nach Hause zurückkehrten.

DIE VERFOLGUNG NIMMT ZU

Im Jahre 1931 übernahmen wieder einmal die bayrischen Behörden die Führung im Kampf gegen Gottes Volk. Durch eine falsche Anwendung der Notverordnung vom 28. März 1931, bei der es um politische Ausschreitungen ging, sahen sie plötzlich eine Gelegenheit, die Literatur der Bibelforscher zu verbieten. Am 14. November 1931 wurden unsere Bücher in München beschlagnahmt. Vier Tage später gaben die Polizeibehörden von München eine Erklärung heraus, die für ganz Bayern galt und durch die sämtliche Literatur der Bibelforscher verboten wurde.

Natürlich legten die Brüder dagegen sofort Berufung ein. Im Februar des Jahres 1932 erhielt die Regierung von Oberbayern das Verbot aufrecht. Gegen diesen Beschluß wurde sogleich beim bayrischen Innenministerium eine Beschwerde eingelegt, die am 12. März 1932 als „unbegründet“ abgewiesen wurde.

Der Polizeipräsident von Magdeburg dagegen stellte sich am 14. September 1932 auf unsere Seite, indem er erklärte: „Hiermit [wird] bescheinigt, daß die Internationale Bibelforscher-Vereinigung als eine Gemeinschaft zu betrachten ist, die sich ausschließlich mit biblischreligiösen Fragen befaßt. Sie ist bisher nicht politisch hervorgetreten. Staatsfeindliche Tendenzen sind nicht beobachtet worden.“

Aber die Schwierigkeiten nahmen von Monat zu Monat zu, selbst in anderen Ländern des Deutschen Reiches. Paul Köcher war mit sechs Sonderpionieren nach Simmern gefahren, um die gekürzte Fassung des Photo-Dramas an zwei Abenden vorzuführen. Er wurde jedoch gezwungen, die Vorführung zu unterbrechen, denn als David mit seiner Harfe gezeigt und ein Psalm von ihm zitiert wurde, begann der ganze Saal zu toben. Schnell stellte es sich heraus, daß es sich bei den Anwesenden fast ausschließlich um Angehörige der SA (Hitlers „Sturmabteilung“) handelte.

Ähnliche Erfahrungen machten wir auch im Saargebiet. Im Dezember 1931 mußte die Regierung gebeten werden, die Polizeibehörden anzuweisen, unsere Arbeit nicht behindern zu lassen. Diese Anweisung wurde auch herausgegeben, aber sie erregte so den Zorn der Geistlichkeit, daß sie wöchentlich von der Kanzel vor den Bibelforschern warnte. Die Feindseligkeit nahm immer mehr zu, und gegen Ende des Jahres 1932 waren nicht weniger als 2 335 Gerichtsfälle anhängig. Trotz dieser Tatsache erwies sich das Jahr 1932 als das bis dahin beste Jahr, was die Herstellung von Publikationen betraf.

Am 30. Januar 1933 übernahm Hitler das Amt des Reichskanzlers. Am 4. Februar erließ er eine Verordnung, die es der Polizei gestattete, Literatur zu beschlagnahmen, die die „öffentliche Ordnung und Sicherheit“ gefährdete. Durch diese Verordnung wurde auch die Versammlungs- und Pressefreiheit eingeschränkt.

DANKSAGUNGSPERIODE DES ÜBERRESTES

Das Gedächtnismahl fiel in jenem Jahr auf den 9. April, und in Übereinstimmung damit wurde die „Danksagungsperiode des Überrestes“ für die Zeit vom 8. bis 16. April eingeplant. Es sollte ein weltweites Zeugnis mit der Broschüre Die Krise gegeben werden.

Die Brüder in Deutschland konnten jedoch diese achttägige Zeugnisperiode nicht in Frieden beenden. Der Feldzug mit der Broschüre Die Krise führte in Bayern am 13. April zu einem Verbot. Darauf folgte ein Verbot in Sachsen (am 18. April), in Thüringen (am 26. April) und in Baden (am 15. Mai). Kurz darauf wurde das Werk in den übrigen deutschen Ländern verboten. Bruder Franke, der zu dieser Zeit in Mainz als Pionier tätig war, berichtet, daß die über 60 Verkündiger starke Versammlung dort 10 000 Broschüren zur Verfügung hatte. Die Brüder erkannten, daß sie schnell handeln mußten, wenn sie sie verbreiten wollten. Sie hatten den Einsatz ihrer Zeit so organisiert, daß in den ersten drei Tagen des Feldzuges bereits 6 000 Broschüren verbreitet werden konnten. Aber am vierten Tag wurde eine Anzahl Brüder verhaftet, und ihre Wohnungen wurden durchsucht. Die Polizei konnte jedoch nur wenige Exemplare der Broschüre finden, da die Brüder mit dieser Aktion gerechnet und die restlichen 4 000 Broschüren an einem sicheren Ort versteckt hatten.

Alle verhafteten Brüder wurden noch am gleichen Tag freigelassen. Sogleich organisierten sie einen Feldzug und teilten die 4 000 Broschüren unter allen Brüdern in der Versammlung auf, die daran teilnehmen konnten. An jenem Abend fuhren sie mit ihren Fahrrädern nach Bad Kreuznach, einer Stadt, die etwa 40 Kilometer von Mainz entfernt ist, und dort verbreiteten sie die restlichen Broschüren unter der Bevölkerung, indem sie sie teilweise verschenkten. Der nächste Tag bestätigte ihnen, daß es richtig war, daß sie diese Aktion durchgeführt hatten, denn inzwischen hatte schon die Gestapo bei allen ihr bekannten Bibelforschern Haussuchungen durchgeführt. Aber alle 10 000 Broschüren waren verbreitet worden.

In Magdeburg hatten Regierungsorgane das Büro wissen lassen, daß das Bild auf der Titelseite der Broschüre (ein Krieger mit einem bluttriefenden Schwert) anstößig sei, und hatten verlangt, daß es entfernt würde. Bruder Balzereit, der wiederholt seine Kompromißbereitschaft gezeigt hatte, befolgte die Anweisung, die farbigen Umschläge von den Broschüren zu entfernen, sofort.

Diese Zeugniswoche war mit Spannung geladen. Täglich zeigte der Feind immer deutlicher seinen Entschluß, mit äußerster Härte zuzuschlagen. Um so ermutigender war der Bericht, der zusammengestellt wurde und der zeigte, daß 24 843 Personen das Gedächtnismahl besucht hatten, während es ein Jahr zuvor nur 14 453 waren. Die Anzahl der Verkündiger, die während der Zeugnisperiode tätig waren, war ebenfalls ein Grund zur Freude: Es waren 19 268 im Gegensatz zu den 12 484, die im vorangegangenen Jahr an der Aktion mit der Königreichs-Broschüre teilgenommen hatten. Während der acht Tage des Feldzuges waren 2 259 983 Exemplare der Broschüre Die Krise verbreitet worden.

GESTAPO DURCHSUCHT BETHELHEIM

Die Nationalsozialisten hofften, irgendwelches Material zu finden, das uns mit dem Kommunismus in Verbindung bringen würde, als sie das Büro und die Fabrik der Gesellschaft am 24. April besetzten. In diesem Fall hätten sie ein neues Gesetz anwenden und das gesamte Eigentum beschlagnahmen und verstaatlichen können, wie man es schon mit den Gebäuden getan hatte, die den Kommunisten gehörten. Nachdem die Polizei das Gebäude durchsucht hatte, rief sie eines Abends bei der Regierung an und teilte ihr mit, daß sie nichts Verdächtiges gefunden hätte. Doch der Befehl war: „Ihr müßt etwas finden!“ Aber sie hatte keinen Erfolg, und das Eigentum mußte am 29. April an die Brüder zurückgegeben werden. Das Büro in Brooklyn hatte noch am gleichen Tag durch die amerikanische Regierung gegen die ungesetzliche Beschlagnahme des Eigentums (das ja einer amerikanischen Körperschaft gehörte) protestiert.

KONGRESS IN BERLIN AM 25. JUNI 1933

Bis zum Sommer des Jahres 1933 war das Werk der Zeugen Jehovas in den meisten deutschen Ländern verboten worden. Regelmäßig wurden die Wohnungen der Brüder durchsucht, und viele Brüder wurden verhaftet. Die Versorgung mit geistiger Speise wurde teilweise behindert, wenn auch nur vorübergehend; doch viele Brüder fragten sich, wie lange das Werk noch fortgesetzt werden könne. In dieser Situation wurden die Versammlungen kurzfristig zu einem Kongreß nach Berlin eingeladen, der am 25. Juni stattfinden sollte. Da zu erwarten war, daß viele den Kongreß wegen der verschiedenen Verbote nicht besuchen könnten, wurden die Versammlungen ermuntert, mindestens einen oder einige Delegierte zu senden. Aber wie sich herausstellte, konnten immerhin 7 000 Brüder kommen. Viele von ihnen waren drei Tage unterwegs, einige fuhren die ganze Strecke mit dem Fahrrad und wieder andere mit Lastwagen, da sich die Busunternehmen weigerten, Busse an eine verbotene Organisation zu vermieten.

Bruder Rutherford, der zusammen mit Bruder Knorr erst ein paar Tage zuvor in Deutschland eingetroffen war, um zu sehen, was getan werden könnte, um das Eigentum der Gesellschaft sicherzustellen, hatte mit Bruder Balzereit eine Erklärung vorbereitet, die den Kongreßdelegierten zur Annahme vorgelegt werden sollte. Es handelte sich dabei um einen Protest gegen die Einmischung der Hitlerregierung in das Predigtwerk. Alle hohen Regierungsbeamten, vom Reichspräsidenten abwärts, sollten ein Exemplar der Erklärung erhalten, und zwar möglichst per Einschreiben. Einige Tage vor dem Kongreß kehrte Bruder Rutherford nach Amerika zurück.

Viele Anwesende waren von der „Erklärung“ enttäuscht, da sie in vielen Punkten nicht so offen war, wie die Brüder es erhofft hatten. Bruder Mütze aus Dresden, der bis dahin eng mit Bruder Balzereit zusammengearbeitet hatte, beschuldigte ihn später, den ursprünglichen Text abgeschwächt zu haben. Es war nicht das erstemal, daß Bruder Balzereit die offene und unmißverständliche Sprache, die in den Veröffentlichungen der Gesellschaft gesprochen wurde, verwässert hatte, um Schwierigkeiten mit den Regierungsorganen zu vermeiden.

Eine große Anzahl Brüder weigerte sich aus diesem Grund, die Resolution anzunehmen. Ja, ein früherer Pilgerbruder namens Kipper weigerte sich, sie zur Annahme vorzulegen, so daß ein anderer diese Aufgabe übernehmen mußte. Es konnte nicht mit Recht gesagt werden, die Erklärung sei einstimmig angenommen worden, obwohl Bruder Balzereit später Bruder Rutherford mitteilte, daß dies der Fall gewesen sei.

Die Kongreßteilnehmer kehrten müde und zum Teil enttäuscht nach Hause zurück. Sie nahmen jedoch 2 100 000 Exemplare der „Erklärung“ mit nach Hause, die sehr schnell verteilt und auch an zahlreiche verantwortliche Persönlichkeiten versandt werden sollten. Das für Hitler vorgesehene Exemplar enthielt ein Begleitschreiben, in dem es unter anderem hieß:

„Das Brooklyner Präsidium der Watch-Tower-Gesellschaft ist und war seit jeher in hervorragendem Maße deutschfreundlich. Aus diesem Grunde wurden im Jahre 1918 der Präsident der Gesellschaft und die sieben Glieder des Direktoriums in Amerika zu 80 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil der Präsident sich weigerte, zwei von ihm in Amerika geleitete Zeitschriften zur Kriegspropaganda gegen Deutschland zu gebrauchen.“

Obwohl die Erklärung abgeschwächt worden war und viele Brüder ihre Annahme nicht ganzherzig unterstützen konnten, war die Regierung empört und leitete eine Welle der Verfolgung gegen diejenigen ein, die sie verbreitet hatten.

BÜRO MAGDEBURG ERNEUT BESETZT

Die Erklärung, die einen Tag nach dem Verbot in Preußen, in Berlin, gefaßt und in ganz Deutschland verbreitet wurde, war das Signal für Hitlers Polizei, in Tätigkeit zu treten. Am 27. Juni wurden alle Polizeidienststellen angewiesen, „Ortsgruppen und Geschäftsstellen sofort zu durchsuchen und staatsfeindliches Material zu beschlagnahmen“. Einen Tag später, am 28. Juni, wurde das Gebäude in Magdeburg von dreißig SA-Leuten besetzt, die die Fabrik schlossen und die Hakenkreuzfahne über dem Gebäude hißten. Gemäß einem offiziellen Erlaß der Polizeibehörde war es sogar verboten, auf dem Gelände der Gesellschaft die Bibel zu studieren und zu beten. Am 29. Juni wurde die Maßnahme durch den Rundfunk dem ganzen deutschen Volk bekanntgemacht.

Trotz energischer Versuche gelang es Bruder Harbeck, dem Zweigaufseher in der Schweiz, nicht, zu verhindern, daß am 21., 23. und 24. August Bücher, Bibeln und Bilder mit einem Gesamtgewicht von 65 189 Kilogramm aus der Fabrik der Gesellschaft geholt, auf fünfundzwanzig Lastwagen geladen und dann am Stadtrand von Magdeburg öffentlich verbrannt wurden. Die Druckkosten des Materials beliefen sich auf 92 719,50 Mark. Außerdem wurden in verschiedenen Versammlungen zahlreiche Veröffentlichungen beschlagnahmt und dann verbrannt oder sonstwie vernichtet, so zum Beispiel in Köln, wo Literatur im Werte von mindestens 30 000 Mark vernichtet wurde. Im Goldenen Zeitalter wurde in der Ausgabe vom 1. Juni 1934 berichtet, daß der wahrscheinliche Gesamtwert des vernichteten Eigentums (Möbel, Literatur usw.) zwischen zwei und drei Millionen Mark betrug.

Der Verlust wäre aber noch größer gewesen, wenn nicht Schritte unternommen worden wären, den größten Teil der Literatur aus Magdeburg — in einigen Fällen sogar mit Schiffen — abzutransportieren und dann an geeigneten Orten zu lagern. Auf diese Weise war es möglich, große Mengen Literatur vor den Augen und vor dem Zugriff der Geheimpolizei jahrelang versteckt zu halten. Ein großer Teil dieser Literatur wurde in den darauffolgenden Jahren für die Predigttätigkeit im Untergrund verwendet.

Dank der Intervention der amerikanischen Regierung erhielt die Gesellschaft im Oktober ihr Gebäude in Magdeburg zurück. Im Freigabebescheid vom 7. Oktober 1933 hieß es, daß das Besitztum der Gesellschaft völlig freigegeben und der Gesellschaft zur freien Verfügung zurückgegeben werde, daß es aber weiterhin verboten sei, irgendwelche Tätigkeit auszuüben, Literatur zu drucken oder Zusammenkünfte abzuhalten.

„FREUNDSCHAFT MIT DER WELT“

Die Geistlichkeit der Christenheit schämte sich nicht, Hitler und seine Bemühungen, Jehovas Zeugen zu verfolgen, zu unterstützen. Wie in der Oschatzer Gemeinnützigen vom 21. April 1933 berichtet wurde, sagte der evangelische Pfarrer Otto in einer Rundfunkansprache am 20. April 1933 zu Ehren des Geburtstages Hitlers:

„Die Evangelische Deutsche Kirche des Staates Sachsen hat sich bewußt auf den Boden der neugeschaffenen Tatsachen gestellt und wird in engster Zusammenarbeit mit den politischen Führern unseres Volkes versuchen, in dem Volksganzen nun aufs neue die Kräfte des alten Evangeliums von Jesus Christus zugänglich zu machen. Als ersten Erfolg bei dieser Zusammenarbeit dürfen wir verbuchen, daß am heutigen Tag für das Gebiet Sachsen die Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher und ihre Unterorganisationen verboten worden sind. Ja, welch eine Wendung durch Gottes Führung! Bis hierher hat uns Gott geholfen.“

BEGINN DER UNTERGRUNDTÄTIGKEIT

Obwohl die Untergrundtätigkeit der Zeugen in dem Jahr, in dem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, praktisch unorganisiert war und nicht überall Zusammenkünfte in kleinen Gruppen abgehalten wurden, fand die Gestapo doch neue Gründe, die Brüder zu verhaften.

Bald nachdem die ersten Brüder verhaftet und ihre Wohnungen durchsucht worden waren, begannen die Brüder, die die Lage objektiv beurteilten, zu erkennen, daß es sich bei diesen Maßnahmen nur um den Anfang einer schlimmeren Verfolgungskampagne handelte. Sie wußten, daß es völlig sinnlos war, den Versuch zu unternehmen, diese Fragen am Verhandlungstisch auszuhandeln. Die einzig richtige Möglichkeit war, für die Wahrheit zu kämpfen.

Doch ein beachtlicher Teil der Brüder zögerte und war der Meinung, es sei am besten abzuwarten, denn Jehova werde gewiß etwas unternehmen, um diese Verfolgung seines Volkes zu verhindern. Während diese Gruppe ihre Zeit durch Unentschlossenheit verschwendete und ängstlich versuchte, nicht durch eigenes Dazutun die Lage noch mehr zu verschlimmern, waren die anderen Verkündiger entschlossen, das Werk fortzusetzen. Bald begannen mutige Brüder, Zusammenkünfte in kleinen Gruppen in ihrer Wohnung abzuhalten, obwohl sie wußten, daß dies zu ihrer Verhaftung und zu schwerer Verfolgung führen konnte.

An manchen Orten begannen die Brüder, Artikel aus dem Wachtturm zu vervielfältigen, von dem immer einige Exemplare aus Nachbarländern eingeschmuggelt wurden. Karl Kreis aus Chemnitz war einer der ersten, die Vorkehrungen dafür trafen. Wenn er die Matrizen geschrieben hatte, fuhr er damit zu Bruder Boschan in Schwarzenberg, und dort wurden die Abzüge hergestellt. Zu denen, die besonders aktiv waren, gehörten Hildegard Hiegel und Ilse Unterdörfer. Sobald das Verbot erlassen worden war, faßten sie den Entschluß, sich durch nichts daran hindern zu lassen, ihren von Gott gegebenen Auftrag auszuführen. Schwester Unterdörfer kaufte sich ein Motorrad und fuhr zwischen Chemnitz und Olbernhau hin und her, um den Brüdern die vervielfältigten Exemplare des Wachtturms zu bringen. Brüder in der näheren Umgebung suchte sie mit dem Fahrrad auf, um nicht zu sehr aufzufallen.

Bruder Johann Kölbl traf Vorkehrungen, daß 500 Exemplare des Wachtturms in München vervielfältigt wurden, und diese wurden dann unter den Brüdern dort sowie in weiten Gebieten des Bayerischen Waldes verteilt.

In Hamburg war es Bruder Niedersberg, der sogleich die Initiative ergriff. Er war einige Jahre Pilgerbruder gewesen, bevor er an multipler Sklerose erkrankte. Trotz dieser Behinderung tat er, was er nur tun konnte. Während dieser Zeit der Prüfungen besuchten ihn die Brüder gern, denn dadurch wurde ihr Glaube immer wieder gestärkt. Seine Liebe zu den Brüdern bewog ihn bald, Schritte zu unternehmen, um dafür zu sorgen, daß sie regelmäßig geistige Speise erhielten. Er fing an, den Wachtturm in seiner Wohnung zu vervielfältigen. Er brachte Helmut Brembach bei, wie man Matrizen schreibt, und erklärte ihm die Handhabung des Vervielfältigungsapparates. Als er dann sah, daß die Arbeit auch ohne seine Hilfe durchgeführt werden konnte, sagte er den Brüdern, er wolle jetzt auf Reisen gehen und die Versammlungen an der Westküste Schleswig-Holsteins besuchen, um ihnen Mut zuzusprechen und um dafür zu sorgen, daß sie ebenfalls den Wachtturm erhielten. Noch einmal besprach er mit den Brüdern ausführlich, wie sie die Zeitschriften verschicken sollten, und arbeitete mit ihnen einen Code aus, mit dessen Hilfe sie aus seinen Briefen erkennen würden, wie viele Exemplare an jede Versammlung geschickt werden sollten.

Es war der 6. Januar 1934, als Bruder Niedersberg trotz seines schlechten Gesundheitszustandes auf Reisen ging. Er konnte sich nur mühsam und mit Hilfe eines Stockes vorwärts bewegen, aber er tat es im Vertrauen auf Jehova. Nachdem er mehrere Versammlungen besucht hatte, trafen die ersten verschlüsselten Nachrichten in Hamburg ein, und der Versand der vervielfältigten Ausgaben des Wachtturms konnte beginnen. Als er in die Gegend von Meldorf kam, war gerade ein Bruder gestorben, der unter der Bevölkerung gut bekannt war. Da zu erwarten war, daß auch aus benachbarten Versammlungen viele Brüder zur Beerdigung anwesend sein würden, wurde Bruder Niedersberg gebeten, die Beerdigungsansprache zu halten. Er nahm diese Gelegenheit wahr und hielt eine kraftvolle Ansprache, durch die er die anwesenden Brüder stärken wollte, die schon einige Monate lang keine Zusammenkünfte mehr besuchen konnten. Wie erwartet, waren sehr viele anwesend und kehrten gestärkt durch das, was sie gehört hatten, in ihr zugeteiltes Gebiet zurück.

Natürlich waren auch andere anwesend, sogar Beamte der Gestapo. Nachdem Bruder Niedersberg seine Ansprache gehalten hatte, fragten sie ihn nach seinem Namen und seiner Adresse, aber sie verhafteten ihn nicht, was sie offensichtlich wegen des besonderen Anlasses nicht wagten. So konnte er seine Reise fortsetzen, die für ihn aber immer beschwerlicher wurde. Als er bei Bruder Thode in Hennstedt angelangt war, bekam er plötzlich heftige Kopfschmerzen, und kurz darauf starb er an einem Gehirnschlag. So hatte er seine letzten Kräfte dazu benutzt, um dafür zu sorgen, daß die Brüder die erbauende geistige Speise erhielten. Zwei Wochen später erschien die Gestapo in seiner Wohnung in Hamburg-Altona, um ihn zu verhaften.

Außer den vervielfältigten Exemplaren des Wachtturms, die in Deutschland hergestellt wurden, wurden auch einige aus der Schweiz, aus Frankreich, der Tschechoslowakei, ja sogar aus Polen nach Deutschland gesandt, und sie erschienen in verschiedener Aufmachung und in unterschiedlichem Format. Zuerst wurden viele Wachtturm-Artikel aus Zürich (Schweiz) geschickt, die den Titel „Der Jonadab“ trugen. Nachdem die Gestapo diese Methode entdeckt hatte, wurden sämtliche Postämter in Deutschland angewiesen, alle Umschläge, die diesen Titel trugen, zu beschlagnahmen und gegen diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, an die die Zeitschriften adressiert waren. In den meisten Fällen führte dies zu ihrer Verhaftung.

Später änderte sich der Titel und auch die Verpackung des Wachtturms praktisch mit jeder Ausgabe. In den meisten Fällen wurde der Titel des Wachtturm-Artikels benutzt, der im allgemeinen nur einmal erschien, wie zum Beispiel „Die drei Feste“, „Obadja“, „Der Kämpfer“, „Die Zeit“ und „Tempelsänger“. Aber selbst einige dieser Ausgaben fielen der Gestapo in die Hände, und es wurde dann jeweils ein Rundschreiben an alle Polizeidienststellen in Deutschland gesandt mit der Nachricht, diese besondere Zeitschrift sei verboten. Aber in den meisten Fällen kam diese Nachricht zu spät, weil schon ein weiterer Wachtturm-Artikel in völlig anderer Aufmachung und mit einem ganz anderen Titel erschienen war. Die Gestapo mußte bald zornig zugeben, daß Jehovas Zeugen ihr auf dem Gebiet der Strategie voraus waren.

Ähnlich verhielt es sich mit der Zeitschrift Das Goldene Zeitalter. Eine Zeitlang war sie nicht auf der Liste der verbotenen Zeitschriften aufgeführt. Als sie später offiziell verboten worden war, wurde sie privat an deutsche Brüder gesandt, und zwar im allgemeinen von Brüdern aus dem Ausland, besonders aus der Schweiz. Diejenigen, die die Zeitschriften versandten, achteten immer darauf, daß die Adresse mit der Hand geschrieben wurde, und zwar jedesmal von jemand anders.

Je weniger es der Gestapo gelang, die Zufuhr an geistiger Speise zu unterbrechen, desto brutaler wurde sie im Umgang mit den Brüdern. Sie verhaftete sie im allgemeinen, nachdem sie ihre Wohnungen durchsucht hatte, obwohl oft gar kein Grund dazu bestand. Im Polizeipräsidium wurden die Brüder meistens grausam mißhandelt in dem Versuch, ihnen irgendwelche Schuldgeständnisse abzuzwingen.

„FREIE“ WAHLEN

Eine andere Waffe, die benutzt wurde, um die Bevölkerung einzuschüchtern, und die besonders gegen Jehovas Zeugen gerichtet war, um sie zu Kompromissen zu zwingen, waren die sogenannten „freien“ Wahlen. Diejenigen, die sich nicht zwingen ließen zu wählen, wurden als „Juden“, „Vaterlandsverräter“ und „Schufte“ verschrien.

Max Schubert aus Oschatz (Sachsen) wurde am Wahltag fünfmal von Wahlhelfern besucht, die ihn zur Wahl abholen wollten. Frauen besuchten seine Frau mit dem gleichen Ansinnen. Doch Bruder Schubert sagte seinen Besuchern jedesmal, er sei ein Zeuge Jehovas und habe Jehova gewählt, und das genüge; darum brauche er keinen anderen zu wählen.

Am nächsten Tag hatte er es schwer. Er war bei der Reichsbahn am Fahrkartenschalter beschäftigt und hatte daher ständig Kontakt mit Menschen. An jenem Tag wurde er mit besonderem Nachdruck mit „Heil Hitler!“ begrüßt. Als Erwiderung sagte er dann immer: „Guten Tag!“ oder etwas Ähnliches. Er spürte jedoch, daß etwas „in der Luft“ lag, und besprach dies beim Mittagessen mit seiner Frau. Er sagte ihr, sie solle sich auf alle Eventualitäten einstellen. Nachdem er seinen Dienst an jenem Nachmittag beendet hatte, wurde er gegen 5 Uhr von einem Polizisten abgeholt und zur Ortsgruppenleitung der Nationalsozialistischen Partei gebracht. Ein kleiner Wagen, der mit zwei Pferden bespannt war, stand vor der Tür. Bruder Schubert mußte sich in die Mitte des Wagens stellen, und ringsherum setzten sich eine Anzahl SA-Männer, von denen jeder eine brennende Fackel in seiner Hand trug. Vorn auf dem Wagen stand einer mit einem Horn und hinten einer mit einer Trommel, und sie schlugen abwechselnd Lärm, damit sich jeder die Prozession ansah. Zwei SA-Männer auf dem Wagen hielten ein großes Schild, auf dem geschrieben stand: „Ich bin ein Lump, ein Vaterlandsverräter, weil ich nicht gewählt habe.“ Bald hatte jemand von denen, die hinter dem Wagen herzogen, einen Sprechchor gebildet, der ständig den auf dem Schild geschriebenen Satz wiederholen mußte. Am Schluß des Satzes riefen sie: „Wo gehört er hin?“, worauf die Kinder im Chor schreien mußten: „Ins Konzentrationslager!“ Zweieinhalb Stunden lang wurde Bruder Schubert so durch die Straßen seines 15 000 Einwohner zählenden Heimatortes gefahren. Am nächsten Tag berichtete der Radiosender Luxemburg darüber.

Einige Brüder waren im Staatsdienst tätig. Da sie nicht den „Deutschen Gruß“ benutzten und sich weigerten, an Wahlen und politischen Demonstrationen teilzunehmen, hatte die Regierung schon seit Sommer 1934 Pläne vorbereitet, um die Bibelforscher im ganzen Reichsgebiet zu verbieten, so daß sie aus dem Staatsdienst entlassen werden konnten. Zu diesem Zweck mußte ein allgemeines Reichsverbot erlassen werden, da Verbote durch die Länderregierungen nicht ausreichend waren. Ein solches Gesetz wurde am 1. April 1935 erlassen. Doch einzelne Amtsstellen hatten schon vorher eigenmächtig gehandelt.

Ludwig Stickel war Stadtrechnungssekretär in Pforzheim. Am 29. März 1934 erhielt er vom Oberbürgermeister einen Brief, in dem es hieß: „Ich [eröffne] gegen Sie das Dienststrafverfahren mit dem Ziel der Entfernung aus dem Amte. Sie werden beschuldigt, daß Sie sich an der Volksabstimmung und Reichstagswahl am 12. November 1933 nicht beteiligt haben. ...“ In einem langen Schreiben legte Bruder Stickel seine Einstellung dar, aber da das Urteil in Wirklichkeit schon gefällt worden war, wurde er benachrichtigt, daß er am 20. August entlassen würde.

Man hatte das Ziel, Jehovas Zeugen aller Verdienstmöglichkeiten zu berauben, indem man sie fristlos aus ihren Stellungen entließ, sie von ihren Arbeitsplätzen jagte, ihre Geschäfte schloß und ihnen verbot, ihren Beruf auszuüben.

Das mußte auch Gertrud Franke aus Mainz feststellen, nachdem ihr Mann im Jahre 1936 zum fünften Mal verhaftet worden war und die Geheimpolizei ihr versichert hatte, daß sie nicht die Absicht hätte, ihn je wieder zu entlassen. Nachdem Schwester Franke freigelassen worden war — sie war etwa fünf Monate lang als Geisel festgehalten worden —, ging sie zum Arbeitsamt, um eine Arbeitsstelle zu finden. Sie stellte jedoch fest, daß sie niemand anstellen wollte, da sie im Gefängnis gewesen war. Endlich wurde eine Zementfabrik gezwungen, sie einzustellen. Zwei Wochen später erlebte sie ihre nächste Überraschung, als sie feststellte, daß sie ohne ihre Einwilligung in die Deutsche Arbeitsfront aufgenommen worden war und daß man ihr auch die entsprechenden Beiträge vom Lohn abgezogen hatte. Da sie den politischen Charakter dieser Organisation erkannt hatte, ging sie sofort ins Lohnbüro und beschwerte sich, ihr seien für eine Organisation, der sie überhaupt nicht beigetreten sei, Beiträge abgezogen worden, und aus diesem Grunde bat sie darum, die Angelegenheit zu berichtigen. Darauf wurde sie fristlos entlassen. Als sie dann wieder auf dem Arbeitsamt erschien, wurde ihr eröffnet, daß ihr das Arbeitsamt künftig weder eine Arbeitsstelle vermitteln noch eine Unterstützung gewähren würde. Wenn sie sich weiterhin weigere, der Arbeitsfront beizutreten, sollte sie selbst zusehen, wie sie durchs Leben käme.

JUGENDLICHE ERLEBEN PRÜFUNGEN

In zahlreichen Fällen wurden Kinder von Zeugen Jehovas der Gelegenheit beraubt, eine Schulbildung zu erhalten. Wir wollen Helmut Knöller seine Erfahrung mit eigenen Worten erzählen lassen:

„Gerade zu der Zeit, als die Tätigkeit der Zeugen Jehovas in Deutschland im Jahre 1933 verboten wurde, ließen sich meine Eltern zum Zeichen ihrer Hingabe an Jehova taufen. Aber für mich mit meinen 13 Jahren brach mit dem Verbot die Zeit der Entscheidung an: Im Gymnasium gab es nun öfters Prüfungen wegen des Flaggengrußes, wobei ich mich für die Treue gegenüber Jehova und die Hingabe an ihn entschied. Unter diesen Verhältnissen war an ein Hochschulstudium nicht mehr zu denken, und so begann ich eine kaufmännische Lehre in Stuttgart, die zweimal in der Woche den Besuch der Handelsschule einschloß; aber auch dort wurde jedesmal die Flagge gehißt. Natürlich fiel ich als der Größte durch meine Weigerung, die Fahne zu grüßen, prompt auf.

Wenn der Lehrer das Schulzimmer betrat, war es für die Schüler Vorschrift, aufzustehen, laut mit ,Heil Hitler!‘ zu grüßen und die rechte Hand vorzustrecken. Dies machte ich auch nicht mit. Natürlich schaute der Lehrer nur auf mich, und dann gab es oft Szenen wie diese: ,Knöller, kommen Sie mal raus! Warum grüßen Sie nicht mit „Heil Hitler!“?‘

,Das ist gegen mein Gewissen, Herr Lehrer.‘ ,Was, Sie Schwein, Sie! Gehen Sie bloß weiter weg von mir, Sie stinken ja. Noch weiter! Pfui, so ein Volksverräter ...‘ Ich wurde dann in eine andere Klasse versetzt. Und als mein Vater selbst beim Rektor vorsprach, erhielt er folgende markante Erklärung: ,Kann Ihnen Ihr Gott, auf den Sie hoffen, auch nur ein Stück Brot geben? Adolf Hitler kann es, der hat es bewiesen.‘ Darum müsse man ihn auch verehren und mit ,Heil Hitler!‘ grüßen.“

Nach Beendigung seiner Lehre brach der Zweite Weltkrieg aus, und Bruder Knöller wurde zum Kriegsdienst eingezogen. Er berichtet darüber wie folgt:

„Am 17. März 1940 wurde ich zum Kriegsdienst eingezogen. Meine Kalkulation für diesen Fall war schon lange: Wenn ich mich am Einsatzort melde und dort [den Militärdienst] verweigere, dann komme ich vor ein Kriegsgericht und werde erschossen. Und dies war mir lieber als ins KZ zu kommen. Aber es kam anders. Ich kam gar nicht vor ein Kriegsgericht, sondern wurde in Arrest gesteckt — bei Wasser und einem Stück Brot täglich. Nach fünf Tagen kam die Gestapo und nahm mich mit. Dort gab es ein stundenlanges Verhör mit allen möglichen Drohungen. Nachts wurde ich dann ins Gefängnis gebracht. Ach, wie war ich glücklich! Keine Spur von Angst mehr, sondern nur noch Freude und gespannte Erwartung, was noch alles kommen würde und wie Jehova mir wieder dabei helfen würde! Nach drei Wochen wurde mir ein Schutzhaftbefehl der obersten Gestapobehörde vorgelesen. Darin stand, daß ich wegen meiner staatsfeindlichen Gesinnung und der Gefahr, mich für die verbotenen Internationalen Bibelforscher zu betätigen, in Schutzhaft bleiben müßte. Das bedeutete Konzentrationslager! Es war also genau umgekehrt gekommen, als ich in meiner menschlichen Einfalt kalkuliert hatte. Zusammen mit noch anderen Gefangenen wurde ich dann am 1. Juni in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert.“

Bruder Knöller lernte nicht nur daß Leben in Dachau, sondern auch in Sachsenhausen kennen. Später wurde er zusammen mit einer Anzahl anderer Gefangener auf die englische Kanalinsel Alderney gebracht. Nach einer dramatischen Fahrt, die bis nach Steyr (Österreich) führte, wurden er und die mit ihm Verbundenen schließlich am 5. Mai 1945 befreit. Wie turbulent die zurückliegenden Jahre waren, zeigt allein die Tatsache, daß Bruder Knöller, der Gegenstand so großer Verfolgung gewesen war, bis dahin nicht die Gelegenheit gehabt hatte, seine Hingabe an Jehova durch die Wassertaufe zu symbolisieren, obwohl er seine Hingabe durch seine Treue selbst unter den schwierigsten Umständen bewiesen hatte. Unter der kleinen Gruppe von Überlebenden, mit denen er nach Hause zurückkehrte, befanden sich neun weitere Brüder, die alle vier bis acht Jahre in Konzentrationslagern treu ausgeharrt hatten und die nun dankbar die Gelegenheit wahrnahmen, sich in Passau taufen zu lassen.

KINDER IHREN ELTERN ENTRISSEN

Wie wenig Jehovas Zeugen in jener aufregenden Zeit die Aussicht hatten, Rechtsschutz zu erhalten, mußten Bruder und Schwester Strenge erfahren. Bruder Strenge wurde verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, wonach Schwester Strenge, die nun mit ihren Kindern allein war, bald in eine Situation gestürzt wurde, die ihre letzten Kräfte erforderte. Sie berichtet:

„In der Schule sollte mein Junge ein nationales Lied und ein nationales Gedicht auswendig lernen. Da er die darin enthaltenen Ausdrücke nicht mit seiner Gesinnung in Einklang bringen konnte, weigerte er sich, das zu tun. Daraufhin ließ ihn der Lehrer wie einen Gefangenen, von zwei Jungen geführt, zu dem Rektor, einem gewissen Herrn Hanneberg, bringen. Dieser sagte ihm, daß ihm die Finger so lange blutig geschlagen werden müßten, bis sie blau angeschwollen seien, ,so daß er sie nicht mehr in den A... stecken‘ könne. Ferner drohte er ihm und sagte, daß er seinen Vater in seinem Leben nie wiedersehen würde. Schließlich fragte er diesen zehnjährigen Jungen, ob er auch den Wehrdienst verweigern werde. Günter wies auf die Bibel hin und sagte, wer das Schwert anfasse, würde auch durch das Schwert umkommen. Darauf sagte der Rektor zum Klassenlehrer: ,Züchtigen Sie ihn wie üblich.‘ Anschließend wurde Günter von dem Rektor mit der Bemerkung nach Hause geschickt, daß er sofort die Polizei anrufen werde, die schon fünf Minuten später bei ihnen zu Hause sein werde, um ihn sofort in die Erziehungsanstalt zu bringen. Kaum war mein Junge zu Hause angekommen, fuhr auch schon die Polizei mit einem großen Auto vor unserem Hause vor. Mehrere Beamte forderten stürmisch Einlaß. Ich machte jedoch die Tür nicht auf. Nach einer Weile ging die Polizei zu meiner Nachbarin und verlangte von ihr ein Zeugnis, das mich belasten sollte. Als diese nichts vorbringen konnte, wurde sie so lange gedrängt, bis sie zugab, gehört zu haben, daß wir jeden Morgen ein Lied gesungen und gemeinsam gebetet hätten. Damit entfernte sich die Polizei wieder.

Am nächsten Morgen kam die Polizei um etwa 10.30 Uhr wieder. Da ich nicht willens war, freiwillig die Tür zu öffnen, riefen die Gestapobeamten: ,Verfluchte Bibelforscher! Aufmachen!‘ Dann gingen sie zu einem in der Nachbarschaft wohnenden Schlosser und ließen unsere Wohnung gewaltsam aufbrechen.

Einer der Gestapobeamten hielt mir den Revolver auf die Brust und schrie: ,Die Kinder her!‘ Doch ich hielt sie fest umschlungen, und sie hatten sich schutzsuchend selbst an mich geklammert. Aus Angst, daß wir nun gewaltsam auseinandergerissen würden, schrien wir alle aus Leibeskräften um Hilfe.

Da das Fenster offenstand, sammelte sich vor dem Haus eine große Menschenmenge an, während ich aus lauter Verzweiflung schrie: ,Ich habe meine Kinder mit großen Schmerzen geboren, ich gebe sie Ihnen nicht. Erst müssen Sie mich totschießen!‘ Dann fiel ich, von Erregung übermannt, in Ohnmacht. Wieder aufgewacht, wurde ich von den Gestapobeamten drei Stunden lang verhört mit dem Ziel, aus mir Aussagen herauszupressen, die meinen Mann belasten sollten. Da ich aber immer wieder in Ohnmacht fiel, mußte das Verhör einige Male unterbrochen werden, während die immer größer werdende Menschenmenge vor dem Haus durch ihren Lärm ihren Unwillen gegen die Vorgänge zum Ausdruck brachte, so daß es schließlich die Gestapo vorzog, die Wohnung unverrichtetersache wieder zu verlassen. Nun sollten die Kinder auf heimlichem Wege von mir getrennt werden. Offensichtlich zu diesem Zweck wurde ich wenige Tage später vor das Sondergericht in Elbing geladen. Am gleichen Tag sollten sich aber auch meine Kinder bei dem über sie bestellten Vormund melden. Ich ahnte Unheil und ging schon einen Tag früher mit meinen Kindern zu diesem Vormund, der mir jetzt eröffnete, daß meine 15jährige Tochter in ein Arbeitslager gebracht und der 10jährige Günter einer national eingestellten Familie zur Erziehung überwiesen werden sollte. Würden sie dort nicht gehorchen, kämen beide in eine Erziehungsanstalt. In meiner großen Erregung sagte ich: ,Sagen Sie, leben wir schon in Rußland, oder sind wir noch in Deutschland?‘, worauf er mir antwortete: ,Frau Strenge, ich will nichts gehört haben. Auch ich stamme aus einer religiösen Familie. Mein Vater ist Pfarrer!‘ Als ich dann noch die Bitte äußerte, meine Tochter wenigstens in einer Stellung unterzubringen, antwortete mir dieser Rechtsanwalt: ,Ich werde mich Ihretwegen keinen Unannehmlichkeiten aussetzen. Lieber will ich mit zwanzig anderen Kindern zu tun haben als mit einem von den Bibelforschern.‘

Nun kam der Sonnabend, wo ich schweren Herzens nach Elbing fahren mußte, um für meinen Glauben an Jehova und seine Verheißungen als Angeklagte vor Gericht zu stehen. Um mich für diesen schweren Gang noch einmal zu stärken und auch um mein Herz noch einmal ausschütten zu können, suchte ich vorher meinen Mann im Gefängnis auf. Als er vorgeführt wurde, brach ich an seiner Brust zusammen und konnte nichts als weinen. All der Jammer und die schrecklichen Ereignisse der letzten Tage zogen noch einmal an meinem Auge vorüber: der Mann für drei Jahre im Gefängnis, die Kinder von mir weggerissen, die auch ihrerseits wieder voneinander getrennt würden. Ich war völlig gebrochen und befand mich am Rande meiner Kraft. Doch wie Engelsworte drang es an mein Ohr, als mein Mann mich mit den Erfahrungen Hiobs tröstete und mir dessen Leid schilderte, aber auch die unentwegte Treue zu Gott, so daß er ihm, nachdem er alles verloren hatte, nichts Ungereimtes zuschob. Dann erzählte er mir, wie er selbst nach den zahlreichen Verhören und der Verhandlung, die für ihn schwere Prüfungen waren, von Jehova überaus reichlich gesegnet worden sei. Das gab mir wieder neue Kraft. Mit aufrechter Haltung ging ich nun zur Verhandlung, um dort noch einmal zu vernehmen, mit welchem Eifer meine Kinder vor ihren Lehrern und anderen höherstehenden Beamten für Jehova und ihren Glauben und sein Königreich eingestanden waren. Das Urteil dieses ,deutschen Gerichtes‘ lautete: Weil ich die Erziehung meiner Kinder nicht in nationalsozialistischem Sinne durchgeführt und weil ich mit ihnen Loblieder zur Ehre Jehovas gesungen habe, müsse ich mit acht Monaten Gefängnis bestraft werden.“

VON KLASSENKAMERADEN GEÄCHTET

Der zwölfjährige Bruder Willi Seitz aus Karlsruhe machte eine andere Erfahrung. Er berichtet selbst:

„Was ich bis jetzt, Ihr Lieben, alles durchgemacht habe, kann ich fast nicht beschreiben. In der Schule wurde ich von meinen Mitschülern geschlagen; bei Ausflügen, sofern ich dabei war, mußte ich allein gehen, durfte auch mit meinen anderen Schulkameraden, soweit sie noch für mich waren, nicht sprechen. Mit anderen Worten: Ich wurde gehaßt und verspottet gleich einem räudigen Hunde. Bei alledem war mein einziger Trost, daß Gottes Königreich doch bald kommen würde. ...“

Am 22. Januar 1937 wurde Willi aus der Schule entlassen — „wegen Verweigerung des Deutschen Grußes, Nichtmitsingens der nationalen Lieder und Nichtteilnahme an den bekannten Schulfeiern“.

WEGEN BETENS UND SINGENS VERURTEILT

Max Ruef aus Pocking erkannte ebenfalls, wie systematisch man vorging, um Jehovas Zeugen dazu zu zwingen, ihre Lauterkeit aufzugeben. Seine Existenz wurde vollständig ruiniert. Eine Hypothek, die er aufgenommen hatte, um bauliche Veränderungen vorzunehmen, wurde ihm gekündigt. Da er die Hypothek nicht sofort zurückzahlen konnte, wurde sein ganzes Besitztum im Mai 1934 versteigert.

„Die Verfolgungen hörten indessen keineswegs auf“, erzählt Bruder Ruef. „Im Gegenteil, ich wurde auf Betreiben der politischen Leitung bewußt falsch angeklagt und vor Gericht gestellt. Und weil man mir nichts zur Last legen konnte, hat mich das Sondergericht München wegen verbotenen Betens und Singens in meiner Wohnung zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten verurteilt, die ich am 31. Dezember 1936 antreten mußte. Meine Frau, die ihr drittes Kind erwartete, erhielt mit den anderen beiden Kindern von neun und zehn Jahren außer dem Wohnzins von 12 RM keinerlei Unterstützung. Es kam die Zeit der Entbindung. Wir reichten beide, meine Frau und ich, Gesuche ein, mir einige Wochen Strafunterbrechung zu gewähren, damit ich mich der notwendigen Dinge annehmen könne. Etwa eine Woche vor der Entbindung kam die Abweisung mit der Begründung: ,Zur Genehmigung nicht geeignet.‘

Am 27. März wurde mir im Gefängnis eröffnet, daß meine Frau gestorben sei und ich zur Erledigung der notwendigen Angelegenheiten für drei Tage beurlaubt werde. Ich begab mich nach meiner Entlassung sofort in die Klinik, wohin man meine Frau nach der Entbindung gebracht hatte, die aber schon auf dem Transport dorthin verstorben war. Dort drangen eine Ärztin und auch die Krankenschwestern, die noch nicht wußten, daß ich Zeuge Jehovas bin, förmlich in mich und sagten: ,Herr Ruef, erheben Sie sofort gegen den Arzt und die Hebamme Anzeige, denn Ihre Frau war gesund, und alles war bei ihr in Ordnung‘, worauf ich nur müde antwortete: ,Da hätte ich viel zu tun.‘ Zu Hause angekommen, fand ich im Schlafzimmer das tote Kind vor und die beiden anderen Kinder in einer sich leicht vorzustellenden Situation. Nun, sollte ich diese wieder unversorgt zurücklassen, vielleicht auf Nimmerwiedersehen?“

Bruder Ruefs Schwiegereltern verlangten, daß die Leiche seiner Frau nach Pocking überführt wurde, wo niemand, der nicht zur Familie gehörte, die Erlaubnis erhielt, am Grab zu sprechen. So kam es, daß Bruder Ruef selbst die Beerdigungsansprache seiner Frau halten mußte, und Jehova gab ihm die Kraft dazu.

Der Gedanke, nun seine beiden Kinder unbeaufsichtigt zurücklassen zu müssen, war Bruder Ruef unerträglich. Da ihm nur noch wenige Stunden blieben, bis der gewährte Urlaub ablief, brachte er eines der beiden Kinder zu seinen Schwiegereltern, obwohl sie keine Zeugen Jehovas waren, und das andere brachte er zu Brüdern, die in der Nähe der Schweizer Grenze lebten. Schließlich unternahm er eine dramatische Flucht in die Schweiz, wo er mit seinem Kind Asyl erhielt.

ERST BESTRAFUNG, DANN „FREUNDLICHKEIT“, UM DIE LAUTERKEIT ZU BRECHEN

Es gab Fälle, in denen Kinder, die von ihren Eltern getrennt wurden, vorübergehend im Glauben schwach wurden und tatsächlich in der Gefahr standen, in das nationalsozialistische Lager abgetrieben zu werden, so, wie sich dies die Führer der „Bewegung“ gedacht hatten. Ein Beispiel dafür ist Horst Henschel aus Meißen, der im Jahre 1943 im Alter von 12 Jahren zusammen mit seinem Vater getauft wurde. Er schreibt:

„Meine Kindheit war ... ein Auf und Ab. Ich trat aus der Hitlerjugend aus — soweit das überhaupt möglich war —, freute mich und fühlte mich stark. In der Schule wurde jeden Tag der Hitlergruß verlangt, den ich verweigerte, wofür ich Schläge bekam. Trotzdem war es jedesmal ein Grund zur Freude, wenn ich, gestärkt durch meine Eltern, treu geblieben war. Doch zwischendurch gab es auch immer wieder Gelegenheiten, wo ich entweder nach körperlichen Strafen oder in schwierigen Situationen doch ,Heil Hitler!‘ sagte. Ich weiß, daß ich dann immer mit Tränen in den Augen nach Hause kam, wie wir dann gemeinsam zu Jehova beteten und ich dann wieder die Kraft hatte, den Angriffen des Feindes für die nächste Zeit zu widerstehen, bis mir dann erneut eine solche oder ähnliche Sache passierte.

Dann kam die Gestapo und machte Haussuchung. ,Sind Sie ein Zeuge Jehovas?‘ fragte einer der breitschultrigen SS-Männer meine Mutter. Noch heute sehe ich, wie sie, an den Türrahmen gelehnt, mit einem festen ‚Ja!‘ antwortete. Sie wußte, das bedeutete für sie früher oder später ihre Verhaftung, die auch schon 14 Tage später erfolgte.

Meine Mutter war gerade dabei, meine kleine Schwester, die einen Tag später ein Jahr alt wurde, zu versorgen. Die Polizei kam mit dem Haftbefehl für meine Mutter. ... Da aber mein Vater gerade zu Hause war, blieben wir noch unter seiner Obhut. ... Doch schon vierzehn Tage später wurde auch er verhaftet. Ich sehe heute noch, wie er vor dem Küchenherd hockte und ins Feuer schaute. Bevor ich zur Schule ging drückte ich ihn noch einmal fest an mein Herz. Doch mein Vater drehte sich nicht mehr nach mir um. Ich habe viel über den harten Kampf nachgedacht, den er in diesen Tagen kämpfte. Noch heute bin ich Jehova dafür dankbar, daß er ihm die Kraft gab, mir ein solches Vorbild zu geben. Als ich nach Hause kam, war ich allein. Mein Vater, der zum Wehrdienst eingezogen werden sollte, war inzwischen zum Wehrbezirkskommando des Ortes gegangen, um dort zu erklären, daß er den Kriegsdienst ablehne. Darauf wurde er sofort verhaftet. Meine Großeltern und die anderen Verwandten, die alle gegen Jehovas Zeugen, ja zum Teil Mitglieder der Nazipartei waren, hatten sich inzwischen um meine einjährige Schwester und mich bemüht, so daß wir nicht in ein Heim oder gar in eine Erziehungsanstalt, sondern zu ihnen kamen. Eine zweite Schwester von mir, die zu dieser Zeit 21 Jahre alt war, wurde vierzehn Tage nach der Verhaftung meines Vaters ebenfalls verhaftet. Drei Wochen später starb sie im Gefängnis an Diphtherie und Scharlach.

Nun waren meine kleine Schwester und ich bei meinen Großeltern. Ich erinnere mich noch heute an Gelegenheiten, wie ich vor dem Bett meiner Schwester gekniet habe. Mir wurde nicht erlaubt, in der Bibel zu lesen, aber ich tat es unbeobachtet, nachdem ich von einer Nachbarin heimlich eine bekommen hatte. ...

Einmal machte sich mein Großvater, der nicht in der Wahrheit war, auf, um meinen Vater im Gefängnis zu besuchen. Voller Empörung und außer sich vor Erregung, kehrte er zurück. ,Dieser Verbrecher, dieser Lump! Wie kann er seine Kinder so allein lassen!‘ Mein Vater war an Händen und Füßen gefesselt gewesen, als er vor meinen Großvater gebracht worden war und als an ihn appelliert worden war, um der Kinder willen doch den Kriegsdienst aufzunehmen, war er weiter standhaft geblieben und hatte entschieden abgelehnt, worauf ein Offizier zu meinem Großvater gesagt hatte: ,Und wenn dieser Mann zehn Kinder hätte, er würde nicht anders handeln.‘ Für die Ohren meines Großvaters war dies abscheulich, für mich ein Beweis der Treue meines Vaters, aber auch der Hilfe Jehovas, die er ihm in dieser schwierigen Situation gab.

Ein wenig später erhielt ich einen Brief von meinem Vater. Es war sein letzter. Da er nicht wußte, in welchem Gefängnis sich meine Mutter befand, schrieb er diesen Brief an mich. Ich ging in meine Bodenkammer, in der ich schlief, und las die ersten Worte dieses Briefes: ,Freue Dich, wenn Du diesen Brief erhältst, denn ich habe ausgeharrt. In zwei Stunden wird mein Urteil vollstreckt ...‘ Ich war traurig und habe auch geweint, obwohl ich die Tiefe der Sache damals nicht so erfaßt hatte wie heute.

Bei all diesen einschneidenden Erlebnissen blieb ich relativ stark. Ohne Zweifel gab mir Jehova die nötige Kraft, mit diesen Problemen fertig zu werden. Doch Satan hat viele Wege, um uns in seine Schlinge zu locken. Das mußte ich bald erfahren. Einer meiner Angehörigen ging zu meinen Lehrern und bat sie, Geduld mit mir zu haben. Auf einmal wurden alle sehr, sehr freundlich zu mir. Die Lehrer unternahmen nichts mehr, auch wenn ich nicht mit ,Heil Hitler!‘ grüßte, und auch meine Angehörigen wurden besonders nett und lieb zu mir. Dann geschah es.

Auf eigenen Wunsch ging ich in die Hitlerjugend, ohne von irgend jemand dazu aufgefordert worden zu sein, und das nur wenige Monate vor Ende des Zweiten Weltkrieges. Was also Satan durch Härte nicht erreicht hatte, gelang ihm durch Schmeichelei und List. Ja ich kann heute wohl sagen, daß harte Verfolgungen von außen eine Prüfung für unsere Loyalität sein können, die schleichenden Angriffe Satans auf verschiedenen Gebieten aber keineswegs ungefährlicher sind als Brutalität von außen. Ich weiß heute, daß meine Mutter während dieser Zeit im Gefängnis viele schwere Glaubensprüfungen durchzumachen hatte. Ich erhielt den letzten Brief meines Vaters, der von seiner Treue und Ergebenheit bis zum Tode berichtete und mich noch sehr stärkte. Sie dagegen erhielt seine Wäsche und seine Anzüge, auf denen noch die Blutspuren zu sehen waren — Zeugen der Drangsalierungen vor seinem Tode. Später sagte mir meine Mutter, daß dies für sie alles sehr schwer war, aber ihre härtesten Prüfungen um jene Zeit seien meine Briefe gewesen, die ich ihr dann schrieb, aus denen sie erkennen mußte, daß ich aufgehört hatte, Jehova zu dienen.

Nun ging der Krieg bald zu Ende. Meine Mutter kam wieder nach Hause und half mir, auf den Weg der Hingabe zurückzugelangen. Sie erzog mich weiter in der Liebe zu Jehova und in der Hingabe an ihn. Zurückblickend kann ich heute wohl sagen, daß ich damals dieselben Probleme hatte wie viele jugendliche Brüder in unseren Tagen. Aber meine Mutter kämpfte um mich, damit ich den Weg der Hingabe nicht mehr verließe. Seit zweiundzwanzig Jahren darf ich nun durch Jehovas unverdiente Güte im Vollzeitdienst stehen. In dieser Zeit hatte ich auch das Vorrecht — wie meine Eltern —, sechs Jahre und vier Monate im Gefängnis in der Ostzone zu verbringen.

Oft habe ich mich gefragt, womit ich es verdient habe, daß mich Jehova in der Vergangenheit so reichlich gesegnet hat. Aber ich glaube heute, es sind die Gebete meines Vaters und meiner Mutter gewesen, die mir in meinem christlichen Lauf kein besseres Beispiel geben konnten, als sie es getan haben.“

Es sind 860 Fälle bekanntgeworden, in denen Kinder ihren Eltern fortgenommen wurden, obwohl die genaue Zahl noch wesentlich höher liegen mag. In Anbetracht solcher Unmenschlichkeit ist es nicht verwunderlich, daß die Behörden im Laufe der Zeit so weit gingen, selbst das Zeugen weiterer Kinder unmöglich zu machen, indem einfach der Ehemann einer „Erbkrankheit“ verdächtigt wurde. Er konnte dann aufgrund dieses Gesetzes sterilisiert werden.

VERNEHMUNGSMETHODEN

Eine der grausamen Methoden, die angewandt wurden, war, den Ehepartner und andere Glieder der Familie die Qualen, die ihre Lieben bei den Verhören zu ertragen hatten, unmittelbar miterleben zu lassen. Emil Wilde beschreibt, wie grausam dies war. Er wurde gezwungen, von seiner Zelle aus mit anzuhören, wie seine Frau buchstäblich zu Tode gemartert wurde.

„Am 15. September 1937, früh gegen 5 Uhr, machten zwei Beamte der Gestapo bei uns eine Haussuchung, nachdem sie zuerst meine Kinder ausgefragt hatten. Anschließend wurden meine Frau und ich ins Polizeipräsidium gebracht und dort sogleich in Gefängniszellen eingeschlossen. Nach Verlauf von ungefähr zehn Tagen erfolgte die erste Vernehmung. Wie man mir sagte, sollte am selben Tag auch meine Frau vernommen werden, was auch der Fall war.

Von Mittag, ungefähr 1 Uhr, an hörte ich das laute Schreien einer Frau. Dieses Schreien rührte von den Schlägen her, die ihr fortwährend versetzt wurden, und während es immer lauter wurde, hörte ich um so deutlicher, daß es von meiner Frau kam. Ich klingelte und erkundigte mich, warum die Frau, die meine Frau sei, so geschlagen werde; da sagte man mir, das sei nicht meine Frau, sondern eine andere, die diese Schläge auch verdiene, weil sie sich ungezogen benehme. Am späten Nachmittag setzte das Schreien wieder ein und nahm an Heftigkeit dermaßen zu, daß ich wieder klingelte, um mich über die Behandlung meiner Frau zu beschweren. Abermals stritten die Gestapobeamten ab, daß es meine Frau sei. Nachts gegen 1 Uhr konnte ich es nicht mehr mit anhören. Darum klingelte ich erneut, doch jetzt sagte der Polizeibeamte, dessen Namen ich nicht kenne: ,Wenn du noch einmal klingelst, machen wir es mit dir genauso, wie wir es mit deiner Frau gemacht haben.‘ Jetzt trat Ruhe im ganzen Gefängnis ein, denn meine Frau hatten sie inzwischen in die Nervenklinik gebracht. Am 3. Oktober, am frühen Morgen, kam der Gestapo-Hauptwachtmeister Glassin in meine Zelle und teilte mir mit, daß meine Frau in der Nervenklinik verstorben sei. Da habe ich ihm auf den Kopf zugesagt, daß sie am Tode meiner Frau schuld seien, und erhob am Begräbnistag meiner Frau schriftlich Anklage gegen die Gestapo wegen Totschlags, was zur Folge hatte, daß ich nun meinerseits wegen Beleidigung der Gestapo angeklagt wurde.

Dies hatte auch einen zusätzlichen Prozeß zur Folge, der an meinen ersten angehängt wurde. Als es dann soweit war, standen während der Sondergerichtsverhandlung zwei Schwestern auf und sagten: ,Auch wir haben gehört, daß Frau Wilde geschrien hat: „Ihr schlagt mich ja tot, ihr Teufel!“ ‘ Darauf sagte der Richter zu mir: ,Aber Sie haben es nicht gesehen, sondern nur etwas gehört; deshalb bestrafen wir Sie mit einem Monat Gefängnis.‘ Einige Schwestern, die meine Frau auf der Totenbahre gesehen hatten, bestätigten mir, daß sie ganz entstellt gewesen sei. Am Hals und quer über das Gesicht hätten sie lauter große Striemen gesehen. Ich selbst durfte nicht mit zur Beerdigung gehen.“

In anderen Fällen versuchte man, die Brüder zu hypnotisieren. Einige von ihnen erhielten Speisen, denen Drogen beigefügt waren, so daß sie vorübergehend über das, was sie aussagten, keine Kontrolle mehr hatten. Anderen wurden während einer ganzen Nacht die Hände und Füße auf dem Rücken zusammengeschlossen, um so ein Geständnis zu erpressen. Da einige diesen schrecklichen Folterungen nicht gewachsen waren, gelang es der Gestapo, sich Informationen darüber, wie das Werk der Zeugen Jehovas organisiert war und durchgeführt wurde, zu beschaffen.

FREUNDLICHE BEAMTE UND ARBEITGEBER

Obwohl sich die Beamten der „neuen, kraftvollen und lautstarken Umgangssprache“ bedienten, die besonders die Führer des auf dem sogenannten „Führerprinzip“ aufgebauten neuen Staates kennzeichnete, gab es erfreulicherweise doch hier und da einige Polizeibeamte, die in ihrem Umgang mit Jehovas Zeugen innerhalb und außerhalb des Gefängnisses zeigten, daß sie in ihrem Innern immer noch etwas Mitgefühl gegenüber ihren Mitmenschen bewahrt hatten.

Carl Göhring wurde aus seiner Stellung bei der Privateisenbahn der Leunawerke bei Merseburg fristlos entlassen, weil er sich geweigert hatte, den Deutschen Gruß zu erweisen und in die Arbeitsfront einzutreten. Das Arbeitsamt weigerte sich, ihm andere Arbeit zu vermitteln, und das Sozialamt lehnte es ab, ihm irgendeine Unterstützung zukommen zu lassen. Aber Jehova, der die Bedürfnisse seines Volkes kennt, lenkte die Dinge so, daß Bruder Göhring bald eine Stellung in der Papierfabrik in Weißenfels fand. Der Direktor, ein Herr Kornelius, stellte alle Brüder aus der Umgebung ein, die aus ihrer Stellung entlassen worden waren, und verlangte von ihnen nichts, was sie mit ihrem Gewissen in Konflikt gebracht hätte.

Wie es sich später herausstellte, gab es auch andere Arbeitgeber wie diesen, allerdings nicht viele. Dadurch sind manche Brüder dem Zugriff der Gestapo entzogen worden.

Es gab auch einzelne Richter, die in ihrem Innern keineswegs mit den gewalttätigen Methoden einverstanden waren, deren sich die Hitlerregierung bediente. Besonders am Anfang legten eine ganze Anzahl Richter den Brüdern ein völlig belangloses Schriftstück zur Unterschrift vor, in dem lediglich erklärt wurde, daß sie sich in keiner Weise politisch betätigen würden. Das konnten die Brüder ohne Bedenken unterschreiben, und viele wurden so davor bewahrt, die Freiheit zu verlieren.

Auch bei Haussuchungen stellte es sich häufig heraus, daß nicht alle Beamten Jehovas Zeugen so haßten, wie es nach außen hin erschienen sein mag. Dies erlebten Bruder Hans Poddig und seine Frau, als ihre Wohnung durchsucht wurde. Sie hatten gerade von Schwester Poddigs leiblicher Schwester, die in den Niederlanden lebte, Post erhalten, unter anderem Exemplare des Wachtturms und anderer Publikationen. Bevor sie jedoch die Gelegenheit hatten, etwas zu lesen, klingelte es plötzlich an der Tür.

„Schnell“, rief Schwester Poddig, „alles in die Speisekammer und abschließen!“ Da dies aber aufgefallen wäre, beschlossen sie in letzter Minute, die Tür offenzulassen. Unterdessen hatte der Gestapobeamte, der von einem SA-Mann begleitet wurde, das Haus betreten. „Na“, sagte er, „dann wollen wir gleich hier beginnen.“ Damit meinte er die Speisekammer, deren Tür gerade offenstand. Da sagte plötzlich der kleine Junge von Bruder Poddig: „In der Speisekammer können Sie aber lange suchen, da finden Sie nichts“ Da mußte der Beamte unwillkürlich lachen und sagte: „Na, dann wollen wir mal ins andere Zimmer gehen.“ Die ganze Haussuchung verlief erfolglos. Ja, Brüder Poddig und seine Familie hatten den Eindruck, daß sie — zumindest der Gestapobeamte — überhaupt nichts finden wollten. Anscheinend dachte der SA-Mann, die Suche sei nicht gründlich genug durchgeführt worden, und wollte die Suche fortsetzen. Doch der Gestapobeamte wies ihn zurecht und verbot ihm weiterzusuchen. Als sie fortgingen, drehte er sich noch einmal allein um und flüsterte Schwester Poddig zu: „Frau Poddig, hören Sie, ich will es Ihnen sagen. Man will Ihnen die Kinder wegnehmen, weil sie nicht in der Hitlerjugend sind. Bitte schicken Sie die Kinder doch dahin, und wenn es nur der Form nach ist.“ „Dann gingen beide fort, und wir konnten in aller Ruhe die Post lesen, die wir aus Holland erhalten hatten und die so manches Neue enthielt, und dankten Jehova, daß auch wieder ein Wachtturm dabei war“, schreibt Bruder Poddig.

ÜBERLISTET

Es gibt natürlich auch zahlreiche Fälle, in denen Gestapobeamte bei Haussuchungen offensichtlich mit Blindheit geschlagen und durch blitzschnelles Handeln der Brüder überlistet wurden, wobei oft ganz klar der Schutz Jehovas und die Hilfe der Engel zu erkennen waren.

Schwester Kornelius aus Marktredwitz erzählt eine solche Erfahrung: „Eines Tages kamen wieder einmal Kriminalbeamte in unsere Wohnung, um eine Haussuchung durchzuführen. Wir hatten einige Publikationen in der Wohnung, darunter einige vervielfältigte Wachttürme. Ich sah im Moment keine andere Möglichkeit, als sie in eine leere Kaffeekanne zu stecken, die gerade auf dem Tisch stand. Nachdem die Beamten alles durchsucht hatten, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auch dieses Versteck gefunden hätten. In diesem Augenblick kam zufällig meine leibliche Schwester in unsere Wohnung. Ganz unvermittelt sagte ich zu ihr: ‚Hier, nimm deinen Kaffee mit!‘ Meine Schwester schaute zunächst etwas ungläubig, begriff dann aber sofort und entfernte sich mit der Kaffeekanne. So war die Literatur wieder außer Gefahr. Die Beamten hatten nicht gemerkt, daß sie überlistet worden waren.“

Amüsant ist die Geschichte, die Bruder und Schwester Kornelius über ihren fünfjährigen Sohn Siegfried erzählten, der damals noch keine Schwierigkeiten mit dem „Deutschen Gruß“ und ähnlichen Dingen hatte, weil er noch nicht zur Schule ging. Aber da ihn seine Eltern in der Wahrheit erzogen hatten, wußte er, daß die Literatur seiner Eltern, die sie immer versteckten, nachdem sie sie gelesen hatten, sehr wichtig war und das die Gestapo sie nicht finden durfte. Als er eines Tages sah, wie zwei Beamte auf den Hof seiner Eltern kamen, war ihm sogleich klar, daß sie nach versteckter Literatur suchen würden, und er wußte sofort, was er tun mußte, um zu verhindern, daß sie etwas fanden. Obwohl er noch nicht zur Schule ging, nahm er die Schultasche seines älteren Bruders, leerte sie aus und stopfte die ganze Literatur hinein. Dann hing er sich die Tasche auf den Rücken und ging damit auf die Straße. Dort wartete er, bis die Beamten nach einer erfolglosen Haussuchung wieder fortgingen. Danach ging er ins Haus zurück und versteckte die Literatur wieder dort, wo er sie hergeholt hatte.