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Deutschland (Teil 3)

Deutschland (Teil 3)

Deutschland (Teil 3)

GEISTIGE SPEISE IN DEN KONZENTRATIONSLAGERN

In den Jahren, in denen die Brüder, besonders die in den Konzentrationslagern, „isoliert“ waren, hatten sie sehr wenig Gelegenheit, in den Besitz einer Bibel oder anderer biblischer Schriften zu gelangen. Um so eifriger rekonstruierten sie den Inhalt wichtiger Wachtturm-Artikel, wenn sie stundenlang auf dem Appellplatz stehen mußten oder wenn sie abends in ihrer Baracke etwas Ruhe hatten. Besonders groß war ihre Freude, wenn es ihnen möglich war, irgendwie in den Besitz einer Bibel zu gelangen.

Jehova bediente sich manchmal interessanter Methoden, um seinen Dienern eine Bibel zukommen zu lassen. Franz Birk aus Renchen (Schwarzwald) erzählt, daß er eines Tages in Buchenwald von einem weltlichen Häftling gefragt wurde, ob er gern eine Bibel hätte. Er hatte eine in der Papierfabrik, in der er arbeitete, gefunden. Natürlich nahm Bruder Birk das Angebot dankbar an.

Bruder Franke kann sich noch daran erinnern, wie im Jahre 1943 ein älterer SS-Mann, der dieser Organisation nur unter dem Druck der Verhältnisse beigetreten war, an einem dienstfreien Tag eine ganze Anzahl Geistliche aufsuchte und sie um eine Bibel bat. Sie alle bedauerten, keine Bibel mehr zu besitzen. Erst am Abend fand er einen Geistlichen, der ihm sagte, er besitze eine kleine Luther-Bibel, die er für besondere Zwecke aufbewahrt habe. Er war jedoch so glücklich, daß ein SS-Mann Interesse an der Bibel bekundete, daß er ihm sagte, er könne die Bibel haben. Am nächsten Morgen gab dieser grauhaarige SS-Mann die Bibel Bruder Franke und war sichtlich erfreut, dem Häftling, den er bewachte, dieses Geschenk machen zu können.

Mit der Zeit gelang es, auch neue Wachtturm-Artikel in die Konzentrationslager zu schmuggeln. Im Konzentrationslager Birkenfeld geschah das auf folgende Weise: Unter den Häftlingen befand sich ein Bruder, der wegen seiner Fachkenntnisse als Tiefbauarchitekt mit einem Zivilisten zusammen arbeiten mußte, der wiederum Jehovas Zeugen gegenüber freundlich eingestellt war. Über diesen freundlichen Mann nahm der Bruder Verbindung mit Brüdern außerhalb des Lagers auf, die ihm bald die neuesten Wachttürme zukommen ließen.

Unsere Brüder im Lager Neuengamme hatten ähnliche Gelegenheiten. Die meisten der etwa siebzig im Lager untergebrachten Brüder wurden zu Aufräumungsarbeiten nach Fliegerangriffen in Hamburg eingesetzt. Dort, in Hamburg, fielen ihnen auch Bibeln in die Hand, und einmal fanden sie innerhalb weniger Minuten sogar drei Exemplare. Willi Karger, der dies persönlich erlebt hat, erzählt: „Ich möchte hier noch von weiterer geistiger Speise berichten, die uns durch eine Schwester aus Döbeln überbracht wurde. Das sei ihr nie vergessen. Ihr Bruder, Hans Jäger, gehörte mit zu unserem Außenkommando in Bergedorf bei Hamburg, das in der Eisenfirma Glunz eingesetzt war. Schwere Arbeit und scharfe SS-Bewachung war unser Los. Trotzdem war es Bruder Jäger gelungen, seiner Schwester durch einen nach draußen geschmuggelten Brief über seinen Arbeitsplatz und auch über den Ort zu berichten, wo wir unsere Mittagspause abhielten. Die Schwester fuhr per Bahn nach Hamburg und tastete sich von dort mit aller Umsicht bis zu unserem Arbeitsplatz vor, um dort ihrem Bruder die erbetenen Wachtturm-Abschriften in die Hände zu spielen, was ihr auch gelang. Somit erreichten uns trotz der SS-Posten diese wertvollen Schriften, und unter der Überwaltung Jehovas konnten wir sie auch, ohne entdeckt zu werden, in das Lager bringen.“

Jeder dachte sich andere Methoden aus, und mit der Zeit gab es eine ganze Anzahl Bibeln im Lager. Ein Bruder schrieb seiner Frau in Danzig, er würde gern „Elberfelder Pfefferkuchen“ essen, und mit dem nächsten Lebensmittelpaket (das die Brüder in diesem Lager damals empfangen durften) bekam er eine Elberfelder Bibel, fein in Pfefferkuchen eingebacken. Einige hatten auch Kontakt mit Häftlingen, die im Krematorium arbeiteten. Diese erzählten, daß dort viele Bücher und Zeitschriften verbrannt würden, und so vereinbarten die Brüder heimlich, daß sie ihnen im Austausch gegen einige der Lebensmittel Bibeln und Zeitschriften geben sollten.

In Sachsenhausen gelangten einige Bibeln in die Hände von Brüdern die sich noch in der „Isolierung“ befanden. So seltsam es klingen mag, erwies sich in diesem Fall die Isolation als ein gewisser Schutz, da ein Bruder nicht nur beauftragt war, die Tür zum Isolierungsgebiet zu bewachen, sondern auch den Schlüssel hatte und die Tür auf- und abschließen mußte. In einem Raum standen sieben große Tische, an denen fünfundsechzig Brüder sitzen konnten. Eine ganze Zeit lang gab jeweils einer der Brüder einen fünfzehnminutigen Kommentar über den Text, während die anderen Brüder ihr Frühstück aßen. Das wechselte dann turnusgemäß von Tisch zu Tisch sowie unter den Brüdern, die an den Tischen saßen. Dieser Kommentar war dann Gegenstand der Gespräche, wenn die Brüder stundenlang auf dem Appellplatz stehen mußten.

Während des schweren Winters 1939/40 beteten die Zeugen zu Jehova um Literatur. Und welch ein Wunder! Jehova hielt seine schützende Hand über einen Bruder, dem es trotz sorgfältiger Durchsuchung gelang, in seinem Holzbein drei Wachttürme in die „Isolation“ zu schmuggeln. Wenn auch die Brüder unter das Bett kriechen mußten und nur beim Schein einer Taschenlampe lesen konnten, während rechts und links Brüder Wache standen, war es ein Beweis für Jehovas wunderbare Führung. Als guter Hirte verläßt er sein Volk nie.

Im Winter 1941/42, als die Brüder aus der „Isolation“ freigelassen worden waren, trafen sieben Wachttürme, in denen Daniel, Kapitel 11 und 12 behandelt wurde, sowie der erste Teil der Artikelserie über das Bibelbuch Micha, ein Buch, betitelt Kreuzzug gegen das Christentum, und ein Bulletin (jetzt Königreichsdienst) zur gleichen Zeit ein. Das war wirklich ein Geschenk des Himmels, denn nun konnten sie wie ihre Brüder in anderen Ländern ein klares Verständnis über den „König des Südens“ und den „König des Nordens“ erlangen.

Dank der Tatsache, daß die Häftlinge, die nicht in der Isolierung waren, Sonntag nachmittags frei hatten und der Blockälteste der politischen Abteilung nachmittags in andere Baracken ging, um seine Freunde zu besuchen, war es den Brüdern mehrere Monate lang möglich, jeden Sonntag ein Wachtturm-Studium durchzuführen. Durchschnittlich beteiligten sich 220 bis 250 Brüder an diesem Studium, während 60 bis 70 auf dem Weg zum Lagereingang Wache hielten und bei Gefahr ein bestimmtes Zeichen gaben. So kam es, daß sie während ihres Studiums nie von einem SS-Mann überrascht wurden. Ein Studium, das an einem Sonntag im Jahre 1942 durchgeführt wurde, wird für die Anwesenden unvergeßlich bleiben. Die Brüder waren von den wunderbaren Erklärungen über die Prophezeiung aus Daniel, Kapitel 11 und 12 so beeindruckt, daß sie am Schluß in freudigem Marschtempo abwechselnd Volkslieder und dazwischen Königreichslieder sangen, so daß selbst der Wachtposten, der, wenige Meter von der Baracke entfernt, seinen Dienst auf einem Turm verrichtete, keinen Verdacht schöpfte, sondern sich auch an dem herrlichen Gesang erfreute. Man stelle sich einmal vor: Da ertönten die Stimmen von 250 Männern, die trotz ihrer Gefangenschaft in Wirklichkeit frei waren und von ganzem Herzen Lieder zum Preise Jehovas sangen. Welch eine Situation! Ob die Engel im Himmel wohl mitgesungen haben?

ERSTE ERLEICHTERUNGEN IN DEN KONZENTRATIONSLAGERN

Obwohl das Blut treuer Zeugen Jehovas an den Hinrichtungsstätten der Nationalsozialisten weiterhin bis zum völligen Zusammenbruch des Regimes floß, begannen doch die Waffen derer, die immer wieder geschworen hatten, Jehovas Zeugen würden die Konzentrationslager nur durch die Schornsteine des Krematoriums verlassen, stumpf zu werden. Dazu kamen die Probleme, die der Krieg verursachte. So gab es besonders von 1942/43 an Zeiten, in denen Jehovas Zeugen verhältnismäßig in Frieden gelassen wurden.

Der Krieg, der nun ein totaler Krieg war, hatte die Lage derart verändert, daß alle verfügbaren Kräfte mobilisiert wurden. Aus diesem Grunde begann man im Jahre 1942, die Häftlinge soweit wie möglich für Projekte einzusetzen, die der Förderung der Wirtschaft dienten. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Stellungnahme zu einer „Bestandsmeldung über die Konzentrationslager“ von dem SS-Führer Pohl an seinen Chef Himmler:

„Der Krieg hat eine sichtbare Strukturänderung der Konzentrationslager gebracht und ihre Aufgaben hinsichtlich des Häftlingseinsatzes grundlegend geändert.

Die Verwahrung von Häftlingen nur aus Sicherheits-, erzieherischen oder vorbeugenden Gründen allein steht nicht mehr im Vordergrund [erwähnt wird nicht die Massenvernichtung]. Das Schwergewicht hat sich nach der wirtschaftlichen Seite hin verlagert. Die Mobilisierung aller Häftlingsarbeitskräfte zunächst für Kriegsaufgaben (Rüstungssteigerung), später für Friedensaufgaben, schiebt sich immer mehr in den Vordergrund.

Aus dieser Erkenntnis ergeben sich die notwendigen Maßnahmen, welche eine allmähliche Überführung der Konzentrationslager aus ihrer früheren einseitigen politischen Form in eine den wirtschaftlichen Aufgaben entsprechende Organisation erfordern.“

Diese Umstellung setzte natürlich voraus, daß die Häftlinge besseres Essen erhielten, wenn sie mehr zu Arbeiten eingesetzt werden sollten. Das brachte eine weitere Erleichterung für die Brüder mit sich. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren die Beamten auch klug genug, nicht zu versuchen, die Brüder in der Rüstungsindustrie einzusetzen. Sie wurden statt dessen, ihren handwerklichen Fähigkeiten entsprechend, in den verschiedenen Werkstätten eingesetzt.

Inzwischen hatte Jehova das Seine getan, denn er kann das Herz der Menschen — auch das seiner Feinde — beeinflussen. Ein markantes Beispiel dafür ist Himmler. Jahrelang glaubte er, er allein könne über das Leben der treuen Diener Jehovas entscheiden, aber plötzlich begann er seine Meinung über die „Bibelforscher“ zu ändern. Sein Leibarzt, ein finnischer Mediziner namens Kersten, spielte dabei eine entscheidende Rolle.

Der Masseur Kersten begann einen starken Einfluß auf Himmler auszuüben, der sich immer krank fühlte. Er erfuhr, daß Jehovas Zeugen grausam verfolgt wurden, und bat eines Tages Himmler, ihm für sein Gut in Hartzwalde, etwa fünfzig Kilometer nördlich von Berlin, einige der Frauen als Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Nach einigem Zögern sagte Himmler zu, und später gewährte er Kersten eine weitere Bitte und entließ eine Schwester aus einem Konzentrationslager, damit sie in Kerstens zweiter Wohnung in Schweden arbeiten konnte. Erst durch diese Schwestern erfuhr Kersten die Wahrheit über die Zustände in den Konzentrationslagern und über die unbeschreiblichen Leiden, die dort seit Jahren besonders über Jehovas Zeugen gebracht worden waren. Er war sehr empört, denn er wußte, daß er durch seine Massagen diesen Unmenschen immer wieder so weit herstellte, daß er sein Mordgeschäft weiterbetreiben konnte. Er beschloß daher, seinen Einfluß geltend zu machen, damit das Leiden all dieser Häftlinge wenigstens etwas gemildert wurde. Es kann daher seinem Einfluß zugeschrieben werden, daß Zehntausende, besonders gegen Ende des Krieges, nicht umgebracht wurden. Besonders für Jehovas Zeugen wirkte sich sein Einfluß sehr nützlich aus. Das kann man aus einem Brief ersehen, den Himmler an seine engsten Mitarbeiter, die obersten SS-Führer Pohl und Müller, schrieb. Dieser Brief, mit „Geheim“ abgestempelt, enthielt folgende Gedanken:

„Anliegend einen Vorgang über die zehn Bibelforscherinnen, die auf dem Gut meines Arztes Kersten arbeiten. Ich hatte die Gelegenheit, dort die Frage der Ernsten Bibelforscher von allen Seiten zu studieren. Mir wurde von Frau Kersten ein sehr guter Vorschlag gemacht. Sie sagte mir, daß sie noch nie ein so gutes, williges, treues und gehorsames Arbeitspersonal hatte wie die zehn Frauen. Aus Liebe und Güte tun diese Menschen sehr viel. ... Eine der Frauen bekam einmal 5 RM Trinkgeld von einem Gast. Sie nahm das Geld an, um das Haus nicht zu blamieren, lieferte es aber bei Frau Kersten ab, weil der Besitz von Geld im Lager verboten wäre. Die Frauen übernahmen dort freiwillig jede Arbeit. Am Abend strickten sie. Sonntags sind sie ebenfalls in irgendeiner Form tätig. Im Sommer haben sie bei zehn-, elf- und zwölfstündiger Arbeit, als Pilze im Wald zu finden waren, es sich nicht nehmen lassen, zwei Stunden früher aufzustehen, um Körbe voll Pilze zu sammeln. Insgesamt ergänzen diese Tatsachen mein Bild, das ich von diesen Bibelforschern habe. Es sind unerhört fanatische, opferbereite und willige Menschen. Könnte man ihren Fanatismus für Deutschland einspannen oder insgesamt für die Nation im Kriege einen derartigen Fanatismus beim Volk erzeugen, so wären wir noch stärker, als wir heute sind! Natürlich ist die Lehre dadurch, daß sie den Krieg ablehnt, derart schädlich, daß wir sie nicht zulassen können, wenn wir nicht den größten Schaden für Deutschland haben wollen. ...

Strafen verfangen bei ihnen gar nicht, da sie mit Begeisterung von jeder Strafe erzählen. ... Jede Strafe ist für sie ein Verdienst im Jenseits. Deshalb wird sich jeder echte Bibelforscher ... ohne weiteres hinrichten lassen und ohne weiteres sterben. Jeder Dunkelarrest, jeder Hunger, jedes Frieren ist ein Verdienst, jede Strafe, jeder Schlag ist ein Vorzug bei Jehova.

Sollten in den Lagern mit den Bibelforschern oder Bibelforscherinnen wieder Schwierigkeiten auftreten, so verbiete ich, daß der Lagerkommandant eine Strafe ausspricht. Jeder Fall ist für die nächste Zeit mir unter kurzer Darstellung des Sachverhaltes zu melden. Ich beabsichtige, in Zukunft bei einem solchen Fall das Gegenteil zu machen und der betreffenden Person zu sagen: ,Ich verbiete, daß Sie jetzt arbeiten. Sie sollen ein besseres Essen haben als die anderen und brauchen nichts zu tun.‘

Denn während dieser Zeit ruht nämlich nach dem Glauben dieser gutmütigen Irren jeder Verdienst, im Gegenteil, es werden frühere Verdienste von Jehova abgezogen. ...

Nun zu dem Vorschlag: Ich ersuche, den Einsatz der Bibelforscher und Bibelforscherinnen in die Richtung zu lenken, daß sie alle in Arbeiten kommen — in der Landwirtschaft z. B. —, bei denen sie mit Krieg und allen ihren Tollpunkten [das den Nationalsozialisten unverständliche Verhalten der Zeugen Jehovas] nichts zu tun haben. Hierbei kann man sie bei richtigem Einsatz ohne Aufsicht lassen, sie werden nie weglaufen. Man kann ihnen selbständige Aufträge geben, sie werden die besten Verwalter und Arbeiter sein.

Nun noch eine Verwendung, und dies ist, wie oben erwähnt, der Vorschlag von Frau Kersten: Nehmen wir doch die Bibelforscherinnen als Personal in unsere Lebensbornheime [Heime, in denen Kinder aufgezogen wurden, die von SS-Männern zur Hervorbringung einer „Herrenrasse“ gezeugt worden waren], nicht als Pflegerinnen, aber als Köchinnen, Hausmädchen, Wäscherinnen und für derartige Aufgaben. Auch als Hausmeister, wo wir da und dort noch Männer haben, können kräftige Bibelforscherinnen genommen werden. Ich bin überzeugt, daß wir in den wenigsten Fällen mit ihnen Kummer haben werden.

Auch mit sonstigen Vorschlägen, wie Abstellung einzelner Bibelforscherinnen in kinderreiche Haushalte, bin ich sehr einverstanden. Geeignete Bibelforscherinnen, die das Können dafür haben, bitte ich einzeln herauszusuchen und mir zu melden. Ich werde sie auf entsprechende Haushalte kinderreicher Familien persönlich verteilen. In solchem Haushalt dürfen sie dann allerdings keine Sträflingskleider tragen, sondern einen anderen Anzug, und man müßte den dortigen Aufenthalt ähnlich wie für die freigelassenen und internierten Bibelforscherinnen in Hartzwalde gestalten.

Bei all diesen für solche Aufgaben abgestellten Halbfreigelassenen wollen wir schriftliches Abschwören oder sonstige Unterschriften vermeiden und lediglich die Verpflichtung auf Handschlag vornehmen.

Ich ersuche um Vorschläge für die Durchführung und Bericht.“

Und so kam es. Innerhalb kurzer Zeit wurde ein beachtlicher Teil der Schwestern in SS-Haushalte, in Gärtnereien, auf Bauerngüter und auch in „Lebensbornheime“ geschickt.

Es gab jedoch auch andere Gründe, weshalb die SS bereit war, Zeugen Jehovas in ihre Haushalte aufzunehmen. Die SS spürte den heimlichen Haß, der unter der Bevölkerung immer größer wurde. Es kam ihr zu Bewußtsein, daß man aufgehört hatte, sich in vertrauten Kreisen Witze über sie zu erzählen. Darum trauten viele selbst ihren Dienstmädchen nicht mehr und fürchteten, daß sie ihnen einmal Gift ins Essen geben oder sie auf eine andere Art umbringen könnten. Mit der Zeit wagten es hohe SS-Führer nicht mehr, zu irgendeinem Friseur zu gehen, weil sie befürchteten, er könnte ihnen die Kehle durchschneiden. Max Schröer und Paul Wauer wurden beauftragt, hohe SS-Offiziere regelmäßig zu rasieren, da sie wußten, daß sich Jehovas Zeugen nie rächen und ihre menschlichen Feinde umbringen würden.

Die Brüder und Schwestern, die außerhalb der Konzentrationslager arbeiteten, erhielten sogar die Erlaubnis, Besuche von ihren Verwandten zu empfangen oder ihre Verwandten zu Hause zu besuchen. Einige erhielten zu diesem Zweck einige Wochen Urlaub. Dies bedeutete schließlich, daß die Brüder und Schwestern besser ernährt wurden, so daß sich ihr Gesundheitszustand schnell besserte und die Zahl der Todesfälle, die durch Hunger oder Mißhandlung verursacht wurden, erheblich zurückging.

Wie sehr sich die Stimmung in den Konzentrationslagern zugunsten der Zeugen Jehovas änderte, geht aus einer Erfahrung hervor, die Reinhold Lühring machte. Im Februar 1944 wurde er plötzlich von seinem Arbeitskommando zur Lagerverwaltung gerufen. Das war der Ort, wo so viele mißhandelt worden waren und wo man so oft versucht hatte, die Brüder zu überreden, ihrem Glauben an Jehova abzuschwören. Wie überrascht war Bruder Lühring, als Offiziere, die ihm gegenübersaßen, fragten, ob er ein Gut verwalten und dort auch Arbeiter beschäftigen und richtig zur Arbeit anleiten könnte. Da er alle Fragen bejahen konnte, wurde er später zusammen mit fünfzehn anderen Brüdern in die Tschechoslowakei gebracht, um das Gut der Frau Heydrich zu verwalten.

Ein anderes Arbeitskommando, das aus zweiundvierzig Brüdern, alles gute Handwerker, bestand, wurde zum Wolfgangsee, nach Österreich, gebracht, um dort ein Haus für einen hohen SS-Offizier zu bauen. Obwohl die Bauarbeiten an einem Bergabhang nicht leicht waren, erhielten die Brüder sonst viele Erleichterungen. Zum Beispiel wurde Erich Frost, der zu dieser Gruppe gehörte, die Erlaubnis gegeben, sich sein Akkordeon von zu Hause schicken zu lassen. Nachdem er es erhalten hatte, durfte er abends oft mit einigen Brüdern hinaus auf den See fahren, wo er Volkslieder und auch alte, bekannte Konzertstücke spielte, an deren Klängen sich nicht nur seine Brüder erfreuten, sondern auch diejenigen, die am See wohnten, einschließlich der SS, unter deren Aufsicht die Brüder arbeiteten.

Es wurde auch immer leichter, die Brüder in den Konzentrationslagern mit geistiger Speise zu versorgen. Dr. Kersten spielte dabei keine geringe Rolle, da er oft zwischen seiner Wohnung in Schweden und seinem Gut in Hartzwalde hin- und herreiste. Er ließ seine Koffer immer von den Schwestern, die ihm Himmler zur Arbeit auf seinem Gut und in seiner Wohnung in Schweden zur Verfügung gestellt hatte, packen. Zwischen ihnen bestand die stillschweigende Vereinbarung, daß die Schwester in Schweden einige Ausgaben des Wachtturms in Kerstens Koffer legte, wenn sie ihn packte. Wenn er dann in Hartzwalde ankam, sagte er der Schwester, die in seinem Haushalt tätig war, sie möge den Koffer auspacken. Das ließ er sie immer allein tun. Nachdem die Schwestern diese Wachttürme sorgfältig studiert hatten, gaben sie sie in das nahe gelegene Konzentrationslager weiter.

Der Besitz von Herrn Kersten in Hartzwalde lag ideal, etwa 35 Kilometer südlich vom Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und etwa 30 Kilometer nördlich vom Männerkonzentrationslager Sachsenhausen. Zu beiden Lagern wurden ständig irgendwelche Dinge transportiert, so daß es nicht schwierig war, geistige Speise für die Brüder und Schwestern in die Lager zu schmuggeln.

So entstand ein immer engerer Kontakt zwischen den verschiedenen Lagern und den Privatwohnungen, wo unsere Schwestern zur Arbeit bei SS-Familien eingesetzt waren. Ilse Unterdörfer berichtet über diese interessante Zeit:

„Da wir auf unseren Arbeitsplätzen ziemlich viel Freiheit hatten, gelang es uns, einige Briefe an unsere Angehörigen zu schicken, die nicht durch die Kontrolle gingen. Auch konnten wir briefliche Verbindung mit unseren Brüdern im Lager Sachsenhausen durch Brüder aufnehmen, die ebenfalls in Außenbetrieben oder bei hohen SS-Führern in Vertrauensstellungen arbeiteten und so mehr Freiheit hatten. Ja, es gelang uns sogar, Verbindung mit Brüdern in der Freiheit aufzunehmen und auf diese Weise den Wachtturm ins Lager zu bekommen. Nach den vielen Jahren, in denen wir nur von dem früher Gelernten und dem, was Zugänge an neuen Wahrheiten mitbrachten, zehren mußten, war es nach so langer Zeit eine wunderbare Erfrischung für uns, den Wachtturm selbst zu lesen. Ich persönlich war auf dem SS-Gut, das in der Nähe des Lagers Ravensbrück unter der Oberaufsicht des Obergruppenführers Pohl stand, als Anweisehäftling [Aufseherin] eingesetzt und trug somit die Verantwortung für die Arbeit, die unsere Schwestern dort verrichten mußten. Einige von uns schliefen sogar dort; sie kamen also gar nicht mehr in das Lager. So gelang es mir, mit Bruder Franz Fritsche aus Berlin in Verbindung zu kommen, mit dem ich mich am Abend in einem Wald, der zum Gut gehörte, zu einer über eine Schwester in Berlin brieflich vereinbarten Zeit traf. Von ihm erhielt ich immer eine ganze Reihe von Wachtturm-Ausgaben. Darüber hinaus bekamen wir aber noch auf einem anderen Weg geistige Speise ins Lager. Es waren zwei liebe Schwestern, die in einer Fabrik arbeiteten und uns ebenfalls weitere Wachtturm-Exemplare ins Lager brachten. So sorgte Jehova in liebevoller Weise für uns, als es am dringendsten wurde.“

Jehova segnete die Brüder, die leichter Zugang zu geistiger Speise hatten und die sich bemühten, sie anderen zugänglich zu machen, wie dies aus dem Bericht von Franz Birk hervorgeht. Er gehörte zu denen, die auf das Gut Hartzwalde gebracht worden waren. Sie erfuhren bald, daß andere gefangene Brüder unter der Aufsicht eines Soldaten etwa zehn Kilometer entfernt in einem Wald ein Haus bauten. Da sich die Brüder auf dem Gut Hartzwalde bereits eines gewissen Maßes an Freiheit erfreuten, suchten sie nach einer Gelegenheit, mit diesen Brüdern im Wald Verbindung aufzunehmen.

„An einem Sonntagmorgen“, berichtet Bruder Birk, „machten Bruder Krämer und ich mit den Fahrrädern eine Erkundungsfahrt zu unseren Brüdern. Als wir in einen Wald hineinfuhren, sahen wir bald eine Schneise, wo ein Neubau erstellt wurde. Wir beobachteten, wie ein Häftling über den Hof kam. Jetzt machten wir uns bemerkbar, indem wir ihm zuwinkten. Der Bruder hatte uns gesehen und kam sofort durch den Wald auf uns zu, und als wir seinen lila Winkel sahen, erkannten wir sofort, daß es ein Bruder war. Nachdem wir ihm gesagt hatten, daß wir vom Kommando Hartzwalde seien, nahm er uns sofort mit in den Neubau. Da wir neue Wachttürme bei uns hatten, begannen wir sofort mit einem Studium. Fortan besuchten wir jeden Sonntag unsere Brüder, die unter der Bewachung eines Feldwebels aus Freiburg standen, der den Brüdern aber gut gesinnt war. Kurz vor Weihnachten sagte ich zu dem Feldwebel: ,Herr Feldwebel, wie wäre es, wenn Sie über die Feiertage mit unseren Brüdern einen Besuch auf Gut Hartzwalde machen würden?‘, wozu er nachdenklich bemerkte, daß er in diesen Tagen mit den Männern irgendwo hingehen wollte, um ihnen die Haare schneiden zu lassen. Als er aber hörte, daß wir auch in Hartzwalde einen Friseur hätten, sagte er sofort zu. So kamen tatsächlich am ,1. [Weihnachts-]Feiertag‘ in aller Frühe unsere Brüder mit ihrem Feldwebel in unser Lager. Schwester Schulze aus Berlin, die die Küche verwaltete, nahm sich des Feldwebels besonders an, so daß wir eine ungestörte Gemeinschaft hatten. Am Nachmittag folgte dann eine schöne Zusammenkunft, während am Abend die Brüder, voller Freude über unser segensreiches Zusammentreffen, wieder mit ihrem Feldwebel zu ihrer Arbeit zurückkehrten. Man bedenke: Dies geschah alles im Angesicht unserer Feinde.“

Im Laufe der Zeit ergaben sich in allen Konzentrationslagern immer mehr Möglichkeiten, geistige Speise zu erhalten. Gertrud Ott und achtzehn weitere Schwestern, die in Auschwitz inhaftiert waren, wurden zur Arbeit in ein Hotel geschickt, in dem die Familien von SS-Männern lebten. Da dort auch andere Personen essen und trinken konnten, dauerte es nicht lange, bis Schwestern, die sich noch in Freiheit befanden, ihre Schwestern aus dem Konzentrationslager beim Fensterputzen entdeckten. „Wir sind auch Schwestern“, murmelten sie im Vorübergehen, ohne aufzuschauen. Drei Wochen später richteten sie es ein, daß sie sich in der Toilette trafen. Von da an kamen die Schwestern von draußen regelmäßig und brachten den Schwestern, die im Hotel arbeiteten, Wachttürme und andere Publikationen, die dann nach Ravensbrück weitergeleitet wurden.

Anfang Dezember 1942 ergab sich eine besonders schöne Gelegenheit für etwa vierzig Brüder, die in Wewelsburg zurückgeblieben waren, um sich dort besonderer Arbeiten anzunehmen. Obwohl sie weiterhin als Lagerinsassen behandelt wurden, hatten sie doch etwas mehr Freiheit, denn es gab keinen elektrisch geladenen Stacheldraht und keine Postenketten mehr, die sie von der Außenwelt getrennt hätten.

Bruder Engelhardt war zu dieser Zeit immer noch frei und hatte die Brüder, die in der Nähe wohnten, beauftragt, einen Weg ausfindig zu machen, wie man den Wachtturm ins Lager schaffen könnte. Nach Überwindung einiger Schwierigkeiten erkundeten Sandor Beier aus Herford und Martha Tünker aus Lemgo die Lage, indem sie einfach wie ein junges Paar durch das Gebiet spazierengingen. Bald nahmen sie mit den Brüdern Verbindung auf und versorgten sie später regelmäßig mit Ausgaben des Wachtturms. Das erstemal trafen sie die Brüder an einem bestimmten Grab auf einem Friedhof; das nächste Mal versteckten sie die Zeitschriften in einem Strohhaufen, oder sie lieferten sie den Brüdern um Mitternacht an einem vorher verabredeten Platz persönlich aus. Für die Übergabe wurde jedesmal ein anderer Platz verabredet. Nachdem Bruder Engelhardt und die Schwestern, die die Zeitschriften hergestellt und verbreitet hatten, verhaftet worden waren, entstand die Frage, wie diejenigen, die sich noch in Freiheit befanden, weiter mit geistiger Speise versorgt werden könnten.

Diesmal suchten die Brüder in Wewelsburg selbst eine Lösung zu finden. Es gelang ihnen, sich eine Schreibmaschine zu beschaffen, auf der ein Bruder dann Matrizen schrieb. Ein anderer Bruder konstruierte einen primitiven Vervielfältigungsapparat aus Holz. Schwestern außerhalb des Lagers, mit denen sie noch Kontakt hatten, brachten den Brüdern das zum Vervielfältigen notwendige Material. Hier wurden schließlich so viele Exemplare des Wachtturms hergestellt, daß ein großer Teil Norddeutschlands damit versorgt werden konnte. Elisabeth Ernsting erinnert sich, daß sie immer fünfzig Exemplare erhielt, womit sie das Gebiet versorgte, das sie betreute. So war es fast zwei Jahre lang, bis zum Zusammenbruch des Regimes (im Jahre 1945), möglich, die Brüder in Westfalen und in anderen Gebieten mit dem Wachtturm zu versorgen.

Die Versorgung der Brüder und Schwestern in den Konzentrationslagern mit geistiger Speise verbesserte sich so weit, daß man im Jahre 1942 in Sachsenhausen schon von einem kleinen Strom sprechen konnte. Bruder Fritsche aus Berlin, der kurz vor dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes zum Tode verurteilt, aber nicht hingerichtet wurde, war in der Lage, die Brüder über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren nicht nur mit allen neuen Zeitschriften, sondern auch mit einer Anzahl älterer Ausgaben sowie mit allen Büchern und Broschüren, die in der Zwischenzeit erschienen waren, zu versorgen. Es war so, als wären die Brüder auf fette Weiden geführt worden, denn jeder Bruder hatte ein Exemplar einer der Veröffentlichungen der Gesellschaft zum abendlichen Studium zur Verfügung. Welch ein Wandel! Aber das ist noch nicht alles. Die Organisation funktionierte so gut, daß Bruder Fritsche Briefe an die Verwandten der Brüder, in andere Lager oder an ausländische Zweigbüros weiterleiten konnte. So war es möglich, daß innerhalb von eineinhalb Jahren einhundertfünfzig Briefe aus dem Lager und fast genauso viele in das Lager geschmuggelt wurden. Die Briefe, die hinausgeschickt wurden, zeugten von der guten geistigen Verfassung der Brüder. Verständlicherweise wurden viele Abschriften dieser Briefe hergestellt. Einige wurden sogar vervielfältigt und dienten den Brüdern draußen und besonders den Verwandten derer, die inhaftiert waren, zur Ermunterung.

MUTIGE ERKLÄRUNG DER THEOKRATISCHEN EINHEIT IN DEN LAGERN

Alles ging ungefähr eineinhalb Jahre sehr gut, bis Bruder Fritsche im Herbst des Jahres 1943 verhaftet wurde. Berichte über Sachsenhausen, die bei Haussuchungen gefunden worden waren, hatten die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt. Die Polizei fand in seinem Besitz nicht nur Wachttürme und andere Publikationen, sondern auch einige Briefe von Brüdern, die er weiterleiten sollte. Die Polizei, die entdeckte, daß der Briefverkehr fast international geführt wurde, bekam nun Zweifel an der Fähigkeit oder Bereitschaft der Lagerleiter, ihre Pflichten zu erfüllen. Himmler ordnete daher an, daß alle verdächtigen Konzentrationslager sofort durchsucht werden sollten.

Die Aktion begann Ende April. Eines Morgens kamen einige Beamte der Geheimpolizei nach Sachsenhausen. Der Überraschungsangriff auf die Brüder war gut geplant. Diejenigen, die im Lager arbeiteten, wurden von ihren Arbeitsplätzen abgerufen und mußten auf dem Appellplatz Aufstellung nehmen, wo sie über die Tagestexte befragt und dann einer Leibesvisitation unterzogen wurden. Man fand einige Schriften. Diese Aktion war wie gewöhnlich von Schlägen begleitet. Aber es gelang der Gestapo nicht, die Brüder zum Nachgeben zu veranlassen, denn Jehova hatte sie inmitten ihrer Feinde reichlich ernährt. Sie hatten eine klare Vision von ihrem Auftrag und fürchteten sich nicht, vereint für die theokratische Herrschaft einzustehen.

Ernst Seliger war als Verbindungsmann zu Bruder Fritsche bekannt geworden, und daher wurde ihm besondere „Aufmerksamkeit“ geschenkt. Er hatte sich bemüht, nicht nur die fleischlichen, sondern auch die geistigen Wunden zu verbinden, und in seiner demütigen, väterlichen Weise hatte er sehr zu der Einheit beigetragen, die in diesem Lager herrschte. Aber er war sehr beunruhigt über den Ausgang seines ersten Verhörs, und er betete zu Jehova, er möge seine „Niederlage“, wie er meinte, in einen Sieg verwandeln. Doch dies sollte nicht eine Prüfung für einen einzelnen werden. Wilhelm Röger aus Hilden beschreibt die Situation folgendermaßen: „Jetzt galt es: Einer für alle und alle für einen!“ Alle Brüder bestätigten die Erklärung Bruder Seligers, der zugab, Tagestexte zu ihrer Ermunterung herausgegeben zu haben. Sie bestätigten ferner, daß sie die Literatur gelesen hatten, die Bruder Seliger ins Lager gebracht hatte, und daß sie einander weiterhin ermuntern und auch in der Zukunft über ihre Hoffnung sprechen würden.

So vergingen vier Tage. Am Sonntagmorgen erschien Bruder Seliger vor der Lagerverwaltung, wo ein Protokoll aufgenommen werden sollte. Über sein Erlebnis berichtet er folgendes: „Ich gab erst in drei Krankensälen [wo er als Helfer eingesetzt war] ... Zeugnis. In dieser Freudigkeit ging ich erneut in die ,Höhle des Löwen‘. Ein Arzt und der Apotheker studierten gerade unsere nach draußen gesandten illegalen Briefe. Es gab noch zwei heiße Stunden. Als es nun so weit war, daß das Protokoll zum Abschluß gebracht werden konnte, sagte der Vernehmungsbeamte: ,Seliger, was werden Sie nun tun? Wollen Sie weiter Tagestexte schreiben und Ihre Brüder ermuntern? Und wollen Sie auch weiter hier im Lager unter anderen Häftlingen die Botschaft verkündigen?‘ ... ,Jawohl, das werde ich tun und nicht nur ich, sondern alle meine Brüder mit mir!‘ ... Um 2 Uhr wurde der Ausgang dieser Sache und die im Namen aller Brüder abgegebene Erklärung allen Brüdern zur Kenntnis gebracht, worauf die Brüder sich anschließend sofort voller Freude in den Verkündigungsdienst begaben“ — und zwar in die Baracken des Lagers.

Die Brüder erinnerten sich daran, daß nun fast zehn Jahre vergangen waren, seit sie am 7. Oktober 1934 Hitler in einem Brief benachrichtigt hatten, daß sie trotz aller Drohungen nicht aufhören würden, zusammenzukommen und zu predigen. Nun erkannte die Gestapo nach fast zehn Jahren, daß der Kampfgeist des Volkes Gottes noch nicht gebrochen war, weder innerhalb der Konzentrationslager noch außerhalb. Davon legten die Briefe Zeugnis ab.

Die Gestapo überprüfte nun die anderen Konzentrationslager, um festzustellen, ob die vielbesprochene „theokratische Einheit“ auch dort vorhanden war. Das nächste Lager war Berlin-Lichterfelde, ein Zweiglager von Sachsenhausen. Bruder Paul Großmann, der als Verbindungsmann zwischen Sachsenhausen und Lichterfelde diente, berichtete später über die Untersuchung:

„Am 26. April 1944 holte die Gestapo zu einem neuen großen Schlage aus. Um 10 Uhr morgens erschienen zwei Gestapobeamte in Lichterfelde, um bei mir als Verbindungsbruder zwischen dem Außenkommando Lichterfelde und dem Konzentrationslager Sachsenhausen eine strenge Durchsuchung vorzunehmen. Sie zeigten mir zwei illegale Briefe, die ich an Berliner Geschwister geschrieben hatte. Aus diesen Briefen war alles ersichtlich, wie die Sache bei uns lief. [Wir können daraus erkennen, wie unklug es ist, Briefe zu schreiben, die solche Informationen enthalten, denn es ist zu erwarten, daß die Beamten sie früher oder später bei Verhaftungen oder Haussuchungen finden werden.] Die Behörde war also über die Einzelheiten in unserer Organisation, unserer Arbeit im Lager und auch darüber hinaus genau informiert, daß wir laufend von der ,Mutter‘ Speise erhielten.

Obwohl sie bei mir alles auf den Kopf stellten, fanden sie zunächst nur einen Wachtturm. Ich wurde ans Tor gestellt. Jetzt holte man die anderen Brüder von ihren Arbeitsstellen. Auch sie wurden untersucht und in zwei Meter Abstand ans Tor gestellt. Das gab eine Sensation im Lager, das eine solche Großaktion seit langem nicht erlebt hatte. Bei der Untersuchung fehlte es nicht an Stockschlägen, Stößen und Beschimpfungen gemeinster Art. Man fand noch Tagestexte und weitere Wachtturm-Abschriften, während ein großer Bericht über die Lagererfahrungen in Sachsenhausen, eine Bibel und anderes noch sichergestellt werden konnten. Die Brüder machten keinen Hehl daraus, daß sie aktiv für die Interessen der Theokratie gearbeitet und auch die verschiedenen Wachttürme gelesen hatten. So standen wir bis abends 11 Uhr am Tor. Inzwischen war die ,grüne Minna‘ vorgefahren, mit der die zwölf ,Haupträdelsführer‘ nach Sachsenhausen gebracht werden sollten. Das bedeutete, daß sie dort an einem Galgen zu Tode gebracht werden sollten. Darum mußten sie auch ihre Löffel, Eßschüsseln usw. abgeben. Aber der Transport ging aus unbekannten Gründen nicht ab, auch am folgenden Tag nicht, obwohl die Todesnachrichten an die Angehörigen schon ausgestellt worden waren. Am dritten Tag gab es eine Überraschung. Die zwölf Brüder wurden nicht hingerichtet, sondern wieder in den Arbeitsprozeß eingereiht.“

Den Brüdern in Lichterfelde wurde dann eine Erklärung zur Unterzeichnung vorgelegt, in der es hieß: „Ich, ........., Zeuge Jehovas, im Lager seit ........., bekenne mich zu der ,theokratischen Einheit‘, die hier im KZ Sachsenhausen vorhanden ist. Auch habe ich alle Schriften und Tagestexte erhalten, gelesen und weitergegeben.“ Jeder unterschrieb dies nur allzugern.

Ähnliche Razzien führte die Polizei mit dem gleichen Ergebnis auch in anderen Lagern durch, eine zum Beispiel am 4. Mai 1944 in Ravensbrück, weil aus den Briefen hervorging, daß zwischen Sachsenhausen und Ravensbrück eine Verbindung bestand. Gegen die „Rädelsführer“ in diesem Lager ergriff man harte Maßnahmen. Aber es dauerte nicht lange, bis die Schwestern auch hier an ihre alten Arbeitsplätze zurückkehren konnten, nachdem die zuständigen Abteilungsleiter sie angefordert hatten. Dies war ein Beweis dafür, daß die Macht des Tyrannen zu dieser Zeit schon ziemlich gebrochen war.

Die Niederlage des deutschen Heeres an der Ostfront im Jahre 1944 forderte so viele Menschenleben, daß nicht nur alte Männer und die Hitlerjugend in das Kriegsgeschehen mit einbezogen wurden, sondern sogar Häftlinge die Gelegenheit erhielten, sich an der Ostfront zu bewähren. Aus diesem Grund kamen Kommissionen in die Konzentrationslager und machten politischen Häftlingen das Angebot, in die Division des degradierten Generals Dirlewanger einzutreten. Sollten sie sich dort bewähren, würden sie als freie Deutsche betrachtet werden. Es war jedoch interessant, daß alle Häftlinge, die einen lila Winkel trugen, immer in ihre Baracken geschickt wurden, bevor den anderen dieses Angebot unterbreitet wurde. Sie wußten, welche Antwort sie von Jehovas Zeugen erhalten würden, und hatten es daher aufgegeben, sie zu fragen.

EILIGE EVAKUIERUNG DER LAGER

So kam das Jahr 1945. Der pausenlose Bombenhagel der amerikanischen und der englischen Luftstreitkräfte bei Tag und bei Nacht und der Rückzug der deutschen Armee, der zuletzt fast den Charakter der Flucht hatte, machten jedem klar, daß das Ende des Zweiten Weltkrieges nahe war. Die SS hatte aufgehört, ihre Selbstsicherheit zur Schau zu stellen. Sie befand sich in keiner beneidenswerten Lage, wenn man bedenkt, daß Hunderttausende in den Konzentrationslagern fieberhaft auf die Befreiung warteten. Diese Massen waren unberechenbar, ja wie Explosivstoff geworden, so daß sich viele SS-Leute vor den Häftlingen fürchteten. Aber Himmler folgte weiterhin den Befehlen seines Führers und sandte folgendes Telegramm an die Kommandanten von Dachau und Flossenbürg: „Die Übergabe kommt nicht in Frage. Das Lager ist sofort zu evakuieren. Kein Häftling darf lebendig in die Hände des Feindes kommen. [Gez.] Heinrich Himmler.“ Ähnliche Anweisungen wurden auch an die anderen Lager gesandt.

Dies war der letzte teuflische Plan, der noch einmal das Leben der treuen Diener Gottes in den Lagern gefährdete. Aber sie waren nicht übermäßig besorgt. Sie setzten ihr Vertrauen auf Jehova, ungeachtet dessen, was ihnen persönlich bevorstehen mochte.

Die SS-Offiziere, die die Pflicht hatten, die Häftlinge zu liquidieren, standen vor einer unlösbaren Aufgabe. Bruder Walter Hamann, der in der SS-Kantine arbeitete, hörte zufällig einmal eine interessante Unterhaltung zwischen SS-Offizieren. Er erzählt: „Die Offiziere sprachen vom Vergasen aller Häftlinge. Doch die Einrichtung war für das ganze Lager viel zu klein. Dann hörte ich ein Telefongespräch über die Lieferung von Heizöl für die Verbrennungsöfen; aber auch dies konnte nicht mehr beschafft werden. Dann diskutierte man darüber, das Lager samt allen Insassen in die Luft zu sprengen. Es wurden bereits Sprengkisten an den Baracken aufgestellt, insbesondere am Krankenrevier. Aber auch diesen teuflischen Plan gab man wieder auf. Schließlich entschloß man sich, die 30 000 Häftlinge zu evakuieren; man sagte ihnen, sie kämen in ein neues, großes Lager, das aber gar nicht existierte, sondern man meinte damit das nasse Massengrab in der Lübecker Bucht, wo man uns auf Schiffe verladen und versenken wollte. Dazu brauchte man weder Gas noch Öl und auch nicht so viel Sprengstoff.“

Inzwischen nahm das Tempo, mit dem die alliierten Streitkräfte aus dem Osten und aus dem Westen heranrückten, immer mehr zu. Die SS begann nun, um ihr eigenes Leben zu bangen, und wurde immer kopfloser, besonders nachdem die Entscheidung der Regierung, die Lager zu liquidieren, bekanntgeworden war. Da ihnen unüberwindliche Probleme entgegenstanden, trieben sie die Häftlinge einfach auf die Straßen und ließen sie, mit ganz wenig Proviant ausgerüstet, marschieren. Wer später einmal die Märsche, die zu Recht als „Todesmärsche“ bezeichnet wurden, auf der Landkarte verfolgte, konnte feststellen, daß sie alle dasselbe Ziel anstrebten. Ihr Ziel war die Lübecker Bucht oder irgendwo im Norden das offene Meer, wo die Häftlinge dann auf Schiffe geladen und vor dem Eintreffen der feindlichen Streitkräfte versenkt werden sollten.

Bald gab es nichts mehr zu essen und manchmal nicht einmal einen Schluck Wasser. Dennoch wurden die hungernden Häftlinge gezwungen, tagelang bei strömendem Regen und bei einer Durchschnittstemperatur von 4 °C den ganzen Tag zu marschieren. Nachts durften sie sich im Wald auf den vom Regen durchtränkten Boden legen. Diejenigen, die mit der vorgeschriebenen Geschwindigkeit nicht Schritt halten konnten, wurden von der Nachhut der SS unbarmherzig durch Genickschuß liquidiert. Wie groß die Verluste an Menschenleben auf diesen Märschen waren, geht aus dem Beispiel von Sachsenhausen hervor. Von den 26 000 Häftlingen, die zur Zeit der Evakuierung noch am Leben waren, blieben auf dem Weg von Sachsenhausen nach Schwerin 10 700 erschossen liegen.

In einer gefährlichen Situation befanden sich auch die wenigen Brüder, die in Mauthausen überlebt hatten. Dort waren einige große Stollen in den Berg hineingetrieben worden, wo die gefürchteten „V-2“-Raketen hergestellt wurden. Eines Tages wurde einer der Stollen zugemauert und vermint. Der Plan war, einen Fliegeralarm vorzutäuschen und darauf die 18 000 Häftlinge in den Stollen zu treiben, der dann in die Luft gesprengt werden sollte. Aber die Lagerverwaltung wurde von dem schnellen Vorrücken der russischen Panzer überrascht, und die SS zog es vor, die Häftlinge sich selbst zu überlassen und möglichst ihr eigenes Leben zu retten. Aber sie kam nicht sehr weit. Nur wenige Tage später wurde der Lagerkommandant, der durch seinen Ausspruch: „Ich will nur Totenscheine sehen!“ bekannt geworden war, von den Häftlingen erkannt und zu Tode getrampelt. Politische Häftlinge begannen nun, Rache an den Mithäftlingen zu nehmen, die als Lagerälteste, Blockälteste und Vorarbeiter viel Blutschuld auf sich geladen hatten.

Der Todesmarsch der Insassen des Lagers Dachau führte durch Wälder, und wer nicht mehr Schritt halten konnte, wurde von der SS erschossen. Ihr Ziel waren die Ötztaler Alpen, wo alle, die das Ziel noch lebend erreichen würden, erschossen werden sollten. Die Brüder hielten zusammen und halfen einander, was manchen vor dem sicheren Tod bewahrte, bis sie Bad Tölz erreichten, wo sie befreit wurden. Bruder Ropelius kann sich noch daran erinnern, daß sie die letzte Nacht unter einer Schneedecke im Wald von Waakirchen verbrachten. Als der Tag graute, kamen Beamte der bayerischen Landespolizei auf sie zu und sagten ihnen, sie seien frei und die SS sei geflohen. Tatsächlich sahen die Brüder unterwegs mehrere an die Bäume gelehnte Waffen, aber es war kein SS-Mann mehr zu sehen.

Die SS nahm den Befehl der Regierung, alle Häftlinge zu liquidieren, sehr ernst, und nur wenige Tage vor der Kapitulation wurden in Neuengamme Transporte zusammengestellt und auf ein Frachtschiff gebracht, das sie zu dem Luxusdampfer „Cap Arcona“ bringen sollte, der in der Neustädter Bucht vor Anker lag. Etwa 7 000 Häftlinge befanden sich bereits auf diesem 200 Meter langen Schiff. Die SS hatte vor, mit der „Cap Arcona“ auf die offene See zu fahren und sie dann mit den Häftlingen zu versenken. Aber das Schiff hatte immer noch die Kriegsflagge gehißt und wurde daher am 3. Mai 1945 von englischen Kampfflugzeugen versenkt. Auch der Frachter „Thielbeck“ ging mit 2 000 bis 3 000 Häftlingen an Bord unter. Etwa 9 000 Häftlinge fanden in der Neustädter Bucht ein nasses Grab. Es ist verständlich, daß die Überlebenden heute noch schaudern, wenn sie sich daran erinnern. Noch heute werden jährlich 12 bis 17 Skelette dieser ertrunkenen Häftlinge am Neustädter Strand von Badegästen oder bei Grabungen gefunden.

Das gleiche Geschick hatte man auch den Häftlingen von Sachsenhausen zugedacht, unter denen sich 220 Brüder befanden. In einem mörderischen Gewaltmarsch legten sie in zwei Wochen ungefähr 200 Kilometer zurück.

Die Zeugen hatten früh erkannt, welche Gefahr ihnen drohte, und so hatten sie ihre Schuhe repariert und eine Anzahl kleiner Wagen beschafft, auf denen das wenige Gepäck der Schwachen und auch die Schwächsten selbst transportiert werden konnten. Wenn diese Brüder den ganzen Weg hätten zu Fuß gehen müssen, wären sie unter den mehr als 10 000 Toten gewesen. Aber auf diese Weise konnten die Brüder, die körperlich nicht so schwach waren, die Schwachen mitnehmen. Auf dem Wege wurden dann andere auf die Wagen geladen, deren Kräfte verbraucht waren. Wenn sie nach einigen Tagen der Ruhe wieder genügend Kraft erlangt hatten, beteiligten sie sich auch wieder am Ziehen der Wagen. So blieben sie sogar auf diesem Todesmarsch alle als eine große Familie zusammen und erfreuten sich des Schutzes Jehovas bis zum Ende.

Als dieser Zug flüchtender Häftlinge nur noch drei Tagereisen von Lübeck entfernt war, befahl die SS eines Nachmittags allen, in einem Wald in der Nähe von Schwerin ihr Lager zu beziehen. Die Brüder hatten sich inzwischen schon zu kleinen Gruppen zusammengetan und bauten mit ihren Decken kleine Hütten. Den Boden bedeckten sie mit Laub, um die Kühle der Nacht abzuhalten. In jener Nacht, in der die Kugeln der Russen um Ihre Köpfe pfiffen und in der die Amerikaner auf dem Vormarsch waren, brach dieser Teil der deutschen Front zusammen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl für die, die dabei waren, als plötzlich mitten in der Nacht ein Ruf erscholl, der sich wie ein Echo tausendfach fortpflanzte: „WIR SIND FREI!“ Die ungefähr 2 000 SS-Leute, die bis dahin die Häftlinge beaufsichtigt hatten, hatten unauffällig ihre Uniform ausgezogen und sich als Zivilisten getarnt, ja einige hatten sogar Häftlingsuniformen angezogen, um ihre Identität zu verbergen. Ein paar Stunden später wurden jedoch einige von ihnen erkannt und unbarmherzig hingemordet.

Sollten die Brüder das Angebot der amerikanischen Offiziere, die inzwischen eingetroffen waren, annehmen und das Lager mitten in der Nacht abbrechen? Nachdem sie die Lage gebetsvoll geprüft hatten, entschlossen sie sich, bis zum Sonnenaufgang zu warten. Doch selbst dann blieben sie noch einige Stunden länger, denn ein Bauer, der sich den Flüchtlingen angeschlossen hatte, hatte den Brüdern zwei Zentner Erbsen geschenkt. Es wurde ein wunderbares Mahl zubereitet. O wie dankbar die Brüder doch waren! Nahezu zwei Wochen lang hatten sie fast nichts gehabt außer etwas Tee, den sie unterwegs gesammelt und abends im Wald gekocht hatten, sofern etwas Wasser zur Verfügung stand.

Wie dankbar waren sie doch, als sie feststellten, daß keiner von ihnen fehlte! Aber wie sie später feststellten, hatten sie noch einen weiteren Grund, Jehova dankbar zu sein, denn während ihres Marsches in Richtung Norden waren sie einmal von der SS mehrere Tage in einem Wald festgehalten worden, weil man sich nicht sicher war, wo sich die Front befand. Das war gerade die Zeit, die noch erforderlich gewesen wäre, um Lübeck zu erreichen, bevor die Front schließlich zusammenbrach.

Jetzt hatten sie es nicht mehr so eilig weiterzuziehen. Gleich dort, im Wald von Schwerin, begannen sie einen Bericht über ihre Erlebnisse auf einer Schreibmaschine zu schreiben, die Soldaten aus einem fahrbaren Büro geworfen hatten. Der Bericht enthielt auch eine Resolution, die sie unter dem unbeschreiblichen Gefühl, seit einigen Stunden wieder frei zu sein, aber auch aus Wertschätzung für Jehovas Schutz während der vielen Jahre ihres Aufenthaltes in der „Löwengrube“ verfaßten. Dies ist die Resolution:

RESOLUTION

„3. Mai 1945

Entschließung der in einem Wald bei Schwerin in Mecklenburg versammelten 230 Zeugen Jehovas aus sechs verschiedenen Nationen.

Wir versammelten Zeugen Jehovas senden unsere allerherzlichsten Grüße an das treue Bundesvolk Jehovas und seine Gefährten in aller Welt mit Psalm 33:1-4 und 37:9. Es sei Euch kund, daß unser großer Gott, dessen Name Jehova ist, sein Wort wahr gemacht hat an seinem Volke, insbesondere im Gebiet des Nordkönigs. Eine lange, harte Probezeit liegt nun hinter uns, und die aus dem Feuerofen hervorgezogenen Bewährten haben nicht einmal den Geruch des Brandes an sich. (Siehe Daniel 3:27.) Im Gegenteil, sie sind voller Kraft und Stärke Jehovas und warten brennend auf neue Befehle des Königs zur Wahrnehmung der theokratischen Interessen. Unsere Entschlüsse und [unsere] Dienstbereitschaft sind ausgedrückt in Jesaja 6:8 und Jeremia 20:11 (Menge-Übersetzung). Die Absicht des Feindes, Gottes treues Volk in diesem Lande durch unzählige teuflische Gewaltmethoden sowie tausend mittelalterliche Inquisitionsmethoden körperlicher und geistiger Art und auch durch vielerlei Schmeicheleien und Verführungskünste zur Untreue zu verleiten, ist dank des Herrn großer Hilfe und seines gnädigen Beistandes den dämonischen Hassern der Theokratie nicht gelungen. All das vielseitig Erlebte, dessen Schilderung viele Bände erfordern würde, ist kurz umschrieben in den Worten des Apostels Paulus in 2. Korinther 6:4-10, 2. Korinther 11:26, 27 und vor allem in Psalm 124 (Elberfelder Übersetzung). Satan und seine dämonisierten Werkzeuge stehen erneut als Lügner da. (Joh. 8:44) Die große Streitfrage ist wiederum zum Ruhme Jehovas ausgetragen worden. — Hiob 1:9-11.

Zu unser und Euer aller Freude sei Euch noch besonders mitgeteilt, daß uns der Herr Jehova eine reiche Beute schenkte, indem er uns sechsunddreißig Menschen guten Willens hinzufügte, die bei unserem Auszug aus Sachsenhausen ... aus freien Stücken erklärten: „Wir wollen mit euch ziehen, denn wir haben gesehen, daß Gott mit euch ist.“ Hier erfüllt sich Sacharja 8:23. Wegen des übereilten Auszuges konnten viele Freunde der Theokratie sich uns nicht mehr anschließen, aber Jehova wird es überwalten, daß sie bald wieder den Weg zu uns finden werden.

Wir, Jehovas Zeugen, erklären erneut unsere unbedingte Treue Jehova gegenüber und unsere restlose Hingabe an die Theokratie.

Wir geloben, daß wir nur einen Wunsch haben, nämlich aus tiefster Dankbarkeit zufolge der langen Kette unendlich vieler Beweise wunderbarster Bewahrungen und Errettungen aus all den tausend Nöten, Kämpfen und Bedrängnissen während des Aufenthaltes in der Löwengrube Jehova und seinem großen König, Jesus Christus, willigen und freudigen Herzens [bis] in alle Ewigkeit zu dienen. Dies wäre unser schönster Lohn.

Unsere Resolution schließen wir in der freudigen Gewißheit des baldigen Wiedersehens mit Psalm 48.

Eure Mitarbeiter für Jehovas heiligen Namen“

Erst als die Brüder ihre Dankbarkeit für Jehovas unverdiente Güte, für seinen Schutz und nun auch für die wiedererlangte Freiheit zum Ausdruck gebracht hatten, brachen sie von ihrem Lager auf. Obwohl in jener ersten Nacht der Freiheit 900 bis 1 000 Häftlinge umgekommen waren, erreichten die Brüder Schwerin völlig unversehrt. Da die Brücken über die Elbe zerstört worden waren, mußten sie jedoch zwei bis drei Monate dort bleiben. Sie fanden in dem Pferdestall einer Kaserne Unterkunft und konnten dort Wachttürme vervielfältigen und jeden Vormittag ein Wachtturm-Studium durchführen, um sich geistig auf das vor ihnen liegende Werk vorzubereiten. Gleichzeitig nahmen sie den Predigtdienst wieder auf, obwohl sie aufgrund der gegebenen Verhältnisse gezwungen waren, ihn in ihrer Häftlingsuniform zu verrichten. Schließlich konnten sie aber ihre Reise nach Westen fortsetzen, um mit ihren Verwandten wieder Kontakt aufzunehmen und um zu sehen, was alles in Verbindung mit der Neuorganisierung des Königreichswerkes getan werden konnte.

EIN BERICHT DER LAUTERKEIT

Dieser Bericht ist das Ergebnis der Bemühungen, einen wichtigen Zeitabschnitt in der neuzeitlichen Geschichte des Volkes Jehovas zu rekonstruieren. Aber nur ein kleiner Teil der interessanten Erfahrungen, die die Brüder und Schwestern in Deutschland während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft gemacht haben, konnte berichtet werden. Viele, viele Bücher müßten geschrieben werden, wenn alles berichtet werden sollte, was geschah, weil die Zeugen an der wahren Anbetung festhielten und Jehovas Namen verteidigten. Mögen daher die aufgezeichneten Erlebnisse einzelner für die vielen sprechen, die der Erwähnung wert gewesen wären, doch nicht, um Menschen, sondern vielmehr, um Jehova dadurch zu rühmen und zu ehren. Er war es, der zur rechten Zeit Schritte unternahm, um sein Volk als Gruppe zu befreien, obwohl er zuließ, daß viele ihr Leben für seinen heiligen Namen niederlegten.

Jeder, der im Jahre 1945 mit denen sprach, die aus der Tyrannei befreit worden waren, wird sich daran erinnern, wie oft sie gemeinsam Jehova mit den Worten aus Psalm 124 priesen. Sie dachten an die wunderbaren Wachtturm-Artikel zurück, die am Anfang der Verfolgung erschienen waren und durch die sie Jehova auf jene schwierige Zeit vorbereitet hatte. Nun verstanden sie, was Jesus gemeint hatte, als er gesagt hatte, sie sollten sich nicht vor denen fürchten, die den Leib töten könnten. Sie wußten, was es bedeutete, in einen Feuerofen oder wie Daniel in eine Löwengrube geworfen zu werden. Aber sie erkannten auch, daß Jehova mächtiger ist und daß er ihre Stirn härter gemacht hatte als die ihrer Feinde. Selbst Außenstehende erkennen diese Tatsache an, und sie wird oft erwähnt, wenn Historiker über diesen Abschnitt der Geschichte Deutschlands sprechen. Zum Beispiel schrieb Michael H. Kater in dem Vierteljahresheft Zeitgeschichte, 1969, Heft 2:

„Das ,Dritte Reich‘, das jeglichem inneren Widerstand stets nur mit brutalster Gewalt begegnen konnte und es selbst dann oft nicht vermochte, der Kräfte der Auflehnung im deutschen Volk Herr zu werden, hat auch das Problem der Ernsten Bibelforscher von 1933 bis 1945 nicht bewältigen können. Die Zeugen Jehovas gingen 1945 aus der Verfolgung geschwächt, aber ungebrochenen Sinnes hervor.“

Auch in dem „Auszug aus dem Buch ,Kirchenkampf in Deutschland‘ “ von Friedrich Zipfel kann man lesen:

„Es gibt wohl kaum eine Analyse oder ein Erinnerungsbuch über die Konzentrationslager, in dem nicht das gläubige Denken, die Arbeitsamkeit, Hilfsbereitschaft und das fanatische Märtyrertum der Ernsten Bibelforscher geschildert wird. Hingegen wird in der allgemeinen Widerstandsliteratur der den Inhaftierungen vorausgegangene Kampf der ,Zeugen Jehovas‘ nicht, oder allenfalls am Rande, erwähnt. Dabei handelt es sich bei der Tätigkeit und Verfolgung der Bibelforscher um einen ganz eigenartigen Vorgang. Die Mitglieder dieser kleinen Religionsgemeinschaft sind zu 97 %, d. h. nahezu ausnahmslos, zu Opfern von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen geworden. Ein Drittel von ihnen fand dort ,durch Hinrichtung, sonstige Gewaltakte, Hunger, Krankheit oder Frondienst‘ den Tod. Diese beispiellose Härte der Unterdrückung ist das Ergebnis eines kompromißlosen Glaubens, der in unüberbrückbaren Gegensatz zu der nationalsozialistischen Ideologie treten mußte.“

Wie war doch nun der Führer des zerschlagenen Deutschen Reiches gedemütigt worden! Goebbels hatte am 31. Dezember 1944 über ihn gesagt: „Wenn die Welt wirklich wüßte, was er ihr zu sagen und zu geben hat und wie tief seine Liebe über sein eigenes Volk hinaus der ganzen Menschheit gehört, dann würde sie in dieser Stunde noch Abschied nehmen von ihren falschen Göttern und ihm ihre Huldigung darbringen ..., dem Mann, der sich zum Ziel gesetzt hat, sein Volk zu erlösen. ... Nie kommt ein Wort der Falschheit oder einer niedrigen Gesinnung über seine Lippen. Er ist die Wahrheit selbst.“ Doch dieser Mann, der ein Gott sein wollte, beging Selbstmord.

Wie waren auch diejenigen gedemütigt worden, die ihr Vertrauen auf ihn gesetzt hatten — zum Beispiel Himmler, der gewissenlos Hitlers Befehle ausführte! Gerade Himmler hatte viele Jahre den treuen Dienern Jehovas das Leben schwergemacht. Für wie viel vergossenes Blut muß er die Verantwortung tragen! Im Jahre 1937 sagte er unseren Schwestern in Lichtenburg prahlerisch: „Ihr werdet auch noch nachgeben, euch kriegen wir schon noch klein. Wir halten es länger aus als ihr!“ Und wie niedergedrückt war er nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes, als er auf der Flucht Bruder Lübke in Hartzwalde traf und ihn fragte: „Na, Bibelforscher, was ist nun?“ Bruder Lübke gab ihm darauf ein gründliches Zeugnis und erklärte ihm, daß Jehovas Zeugen immer mit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes und mit ihrer Befreiung gerechnet hätten. Himmler wandte sich wortlos ab. Nicht viel später vergiftete er sich, nachdem er von britischen Soldaten festgenommen worden war.

Doch wie freuten sich diejenigen, die Jehova anbeteten, und das trotz der schwierigen Verhältnisse! Sie hatten das Vorrecht, dem souveränen Herrscher des Universums ihre Lauterkeit zu beweisen. Während Hitlers Herrschaft hatten 1 687 ihre Stellung verloren, 284 ihr Geschäft und 735 ihre Wohnung, und 457 war die Ausübung ihres Berufs verboten worden. In 129 Fällen wurden Grundstücke beschlagnahmt, 826 Rentnern wurde die Unterstützung entzogen, und 329 weitere erlitten sonstige Vermögensnachteile. 860 Kinder waren ihren Eltern fortgenommen worden. In 30 Fällen waren Ehen „von Amts wegen“ geschieden worden, in 108 Fällen auf Antrag des Ehegefährten, der ein Gegner der Wahrheit war. Insgesamt 6 019 waren verhaftet worden, einige davon zweimal, dreimal oder sogar noch öfter, so daß insgesamt 8 917 Verhaftungen registriert wurden. Sie waren zu insgesamt 13 924 Jahren und 2 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Das ist zweieinviertelmal so lange, wie Zeit seit der Erschaffung Adams vergangen ist. Ins Konzentrationslager wurden 2 000 Brüder und Schwestern eingeliefert, wo sie 8 078 Jahre und 6 Monate verbrachten, das ist ein Durchschnitt von vier Jahren. Insgesamt 635 waren in der Haft gestorben, 253 waren zum Tode verurteilt worden, und 203 davon wurden tatsächlich hingerichtet. Welch ein Bericht der Lauterkeit!

DER WIEDERAUFBAU BEGINNT

Unmittelbar nach dem Krieg waren die Brüder im Schweizer Bethel die einzigen, die Verbindung zu den Brüdern in Deutschland hatten. Als sie erfuhren, daß selbst nach der Freilassung der Brüder aus den Lagern in vielen Versammlungen gewisse unerwünschte Tendenzen bestanden, sandten sie folgendes Rundschreiben an die Versammlungen:

„An die lieben Mitverbundenen in Deutschland

Liebe Geschwister in Christo,

endlich seid Ihr vom nazistischen Joche befreit! — Manche von Euch haben Jahre hindurch sehr gelitten, indem sie sich entweder in Gefängnissen oder in Konzentrationslagern befanden oder sonstwie verfolgt wurden. ...

Es wird sich aber auch niemand von denen, die besonderer Leiden um des Namens des Herrn willen wert geachtet wurden, etwas darauf einbilden und sich mit dem Nimbus eines Märtyrers umgeben oder sich über andere erheben, die nicht [Jahre] in Gefängnissen oder Konzentrationslagern zubringen mußten. ... Es sollte sich niemand von Euch vor den Mitmenschen wegen seiner Leiden brüsten oder besonders hervortreten. Man vergesse nicht, daß auch manche von den Geschwistern, die zu Hause zurückblieben, mit vielerlei Schwierigkeiten zu kämpfen hatten und ebenfalls unter Druck gesetzt wurden. Der Christ kann sich seine Leiden nicht wählen. Der Herr bestimmt sie respektive läßt sie zu.

Darum, liebe Geschwister, laßt uns nicht ungerecht und parteiisch sein, und laßt uns niemand verurteilen, der vielleicht in einiger Augen Kompromisse gemacht hat oder dazu bereit gewesen wäre. Der Herr ist der Beurteiler der Herzen. Vor ihm sind wir alle wie ein aufgeschlagenes Buch. ...

Für Euer besetztes Gebiet wird Br. Erich Frost, Leipzig, beauftragt, nach dem Rechten zu sehen. Diese Verfügung hat jedoch, gemäß den Anweisungen des Präsidenten, provisorischen Charakter. Bruder Frost wird, insofern ihm dies möglich ist, dem Präsidenten regelmäßig direkt über den Stand des Werkes der Verkündigung berichten.

Das Verkündigungswerk ist unter der Leitung des neuen Präsidenten der Gesellschaft, Bruder Nathan Homer Knorr, gründlicher als je organisiert worden und schreitet großartig voran! ...

Bibelhausfamilie in Bern [gezeichnet] Fr. Zürcher“

Die Brüder Frost, Schwafert, Wauer, Seliger, Heinicke und andere begaben sich unmittelbar nach ihrer Befreiung daran, das Eigentum der Gesellschaft zurückzugewinnen in der Annahme, daß das Werk wieder von dort aus geleitet werden könne. Dies erwies sich später wegen der feindseligen Haltung der russischen Behörden als unmöglich.

Bruder Frost, der unterdessen zum Zweigaufseher eingesetzt worden war, bat Willi Macco aus Saarbrücken, Hermann Schlömer und Albert Wandres aus Wiesbaden und Konrad Franke aus Mainz, die Versammlungen in dem Gebiet Westdeutschlands, in dem sie während des Verbots Bezirksdienstleiter gewesen waren, neu zu organisieren und zu betreuen.

Gleichzeitig bemühte sich Bruder Franke, in der Umgebung von Stuttgart Papier einzukaufen, damit kleine Auflagen des Wachtturms gedruckt werden konnten. Es wurden auch Vorkehrungen getroffen, einige Radiovorträge über die Sender Stuttgart, Frankfurt und Saarbrücken zu halten, um dadurch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Königreichsbotschaft zu lenken. Schließlich mietete Bruder Franke in Wiesbaden zwei Geschäftsräume und eine Woche später im gleichen Haus auch einen kleinen Wohnraum.

Gegen Ende des Jahres 1945 fuhr Bruder Frost von Magdeburg nach Stuttgart und besprach mit treuen Brüdern, die bereit waren, den Vollzeitdienst als reisende Diener aufzunehmen oder im Bethel zu arbeiten, organisatorische Fragen. Da die Gesellschaft in Magdeburg (Ostdeutschland) eingetragen war, schien es notwendig zu sein, ein Zweigbüro in Stuttgart, also in Westdeutschland, zu eröffnen.

Bald fuhr Bruder Frost in die Niederlande, um Bruder Knorr zu treffen und mit ihm zum erstenmal persönlich zu sprechen. Er machte auf diesem Wege in Wiesbaden Station, und nachdem ihm Bruder Franke die zwei gemieteten Geschäftsräume gezeigt hatte, beschloß er sofort, die Pläne für Stuttgart rückgängig zu machen und das Büro in Wiesbaden zu eröffnen. Das bedeutete, daß die beiden Geschäftsräume und der kleine Privatraum von Bruder Franke das Bethelheim werden sollten, wo bald zwanzig Brüder und Schwestern arbeiteten und verpflegt wurden.

Ungefähr ein Jahr später wurde Bruder Franke wegen seiner Haft während des Verbots von der Stadt Wiesbaden eine Zweizimmerwohnung in der Wilhelminenstraße 42 angeboten, und so zog nicht nur Bruder Franke um, sondern auch das Bethel. Der größere der beiden Räume wurde als Bethelheim benutzt. Durch Jehovas unverdiente Güte war es möglich, im gleichen Haus ein weiteres Zimmer zu mieten, das einer Schwester gehörte, und dieses diente als Büro. Hier besuchte Bruder Knorr das erstemal die Brüder in Deutschland.

Die Brüder hatten wiederholt beim Oberbürgermeister vorgesprochen, und obwohl er Räume, ja sogar ein ganzes Haus versprochen hatte, hatte er nie etwas Ernsthaftes unternommen. Nun nutzten sie die Gelegenheit und machten mit Nachdruck allen zuständigen Beamten den Besuch des Präsidenten der Watch Tower Bible and Tract Society bekannt, besonders jedoch dem Oberbürgermeister, den sie fragten, was sie dem Präsidenten der Gesellschaft, der ein Amerikaner sei, sagen sollten, wenn er sie fragen würde, welche Räumlichkeiten ihnen für die Durchführung ihrer Aufgaben zur Verfügung gestellt worden seien. Sie wiesen auf Hitlers Verbot und ihre lange Zeit der Haft hin und erinnerten die Beamten an die von den Behörden freiwillig übernommene Pflicht, das Unrecht wiedergutzumachen, das den Zeugen zugefügt worden war. Wie überrascht waren die Brüder, als der Oberbürgermeister sagte: „Dann nehmen Sie doch den Westflügel vom Kohlheck!“ Dieses Gebäude hätte eine Kaserne für die Luftwaffe werden sollen, aber es konnte vor Kriegsende nicht fertiggestellt und bezogen werden. Das war gerade das Gebäude, um das sie sich schon wiederholt erfolglos bemüht hatten.

Glücklich über diese Information, sahen sie nun zuversichtlich dem Besuch Bruder Knorrs entgegen, während dessen Aufenthalt der Vertrag aufgestellt und von ihm als dem Präsidenten der Watch Tower Bible and Tract Society unterschrieben werden sollte.

KONGRESS IN NÜRNBERG

Während die Brüder eifrig bemüht waren, die Versammlungen zu reorganisieren und sie trotz der Papierknappheit mit geistiger Speise zu versorgen, wurde ihr Wunsch nach einem großen Kongreß immer größer. Aber es brachte in dieser Zeit sehr viele Probleme mit sich, einen solchen Kongreß zu organisieren, und zwar nicht nur wegen der Nahrungsmittelknappheit und des Mangels an Unterkünften, sondern auch wegen der Tatsache, daß Deutschland in vier militärische Zonen aufgeteilt worden war und es sehr schwierig war, von einer Zone in die andere zu reisen. Dennoch bat Bruder Frost Bruder Franke, Vorkehrungen für mindestens einen Bezirkskongreß in jeder Besatzungszone zu treffen und, wenn es möglich sei, den in der amerikanischen Zone in Nürnberg zu organisieren.

Nachdem die ersten Bemühungen ergebnislos verlaufen waren, sprach ein Bruder bei den Behörden in Nürnberg persönlich vor und stellte fest, daß doch die Möglichkeit bestand, dort einen Kongreß zu veranstalten. Es wurden Vereinbarungen für den 28. und 29. September 1946 getroffen. Die Spannung unter den Brüdern wuchs noch mehr, als bekanntgemacht wurde, daß die Militärregierung uns schließlich die Zeppelinwiese in Nürnberg zur Verfügung gestellt hatte.

Zu dieser Zeit fand der Prozeß gegen die sogenannten „Kriegsverbrecher“ in Nürnberg statt, und die Urteile sollten am 23. September verkündet werden. Dieses Datum war Wochen zuvor festgelegt und in der ganzen Welt bekanntgemacht worden.

Als der Kongreß nun doch in Nürnberg stattfinden konnte, beschlossen die Brüder in letzter Minute, ihn um einen Tag zu verlängern, so daß er am Montag, den 30. September enden würde. Nachdem die Sonderzüge umorganisiert und alle anderen Vorbereitungen für diesen dritten Kongreßtag getroffen worden waren, wurde über Rundfunk und in den Zeitungen plötzlich der Welt angekündigt, daß die Urteile im Kriegsverbrecherprozeß in Nürnberg der Öffentlichkeit erst am 30. September bekanntgegeben würden. Dadurch entstanden eine Reihe Schwierigkeiten, denn die amerikanische Militärregierung befürchtete, es könnte zu Demonstrationen in Nürnberg kommen, und sie verhängte deshalb ein Ausgehverbot. Das bedeutete, daß es niemandem aus der Stadt möglich sein würde, den öffentlichen Vortrag am Montag zu besuchen, und so wurde er kurzfristig auf Sonntagabend, 19.30 Uhr vorverlegt. Bruder Frost sprach über das Thema „Christen im Feuerofen“. Unbeschreiblich war die Freude der 6 000 anwesenden Brüder, als sie hörten, daß 3 000 Einwohner Nürnbergs anwesend waren, um diesen Vortrag zu hören.

Obwohl Beamte der amerikanischen Militärregierung zunächst versuchten, den Kongreß am dritten Tag wegen der Verurteilung der Kriegsverbrecher abzubrechen, setzten sich die Brüder durch. Nach langen Verhandlungen zogen die Beamten der Militärregierung ihre Aufforderung zurück. Wie konnten sie Jehovas Zeugen, die so viele Jahre denen, die jetzt vor Gericht standen, widerstanden hatten, verbieten, ihren Kongreß in Frieden und ohne Störung zu beenden?

So erlebten die Brüder bei jenem Kongreß, der das Motto trug „Starken Herzens für die Nachkriegszeit“, einen weiteren Höhepunkt am Montagvormittag, als der Vortrag „Furchtlos trotz Weltverschwörung“ gehalten wurde.

Wer kann die Gefühle der 6 000 versammelten Brüder beschreiben, als sie erkannten, wie Jehova alles gelenkt hatte? Man bedenke: Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes waren Jehovas Zeugen, die eine wirkliche Botschaft des Friedens für die Menschheit haben, die ersten, die sich auf diesem Feld versammeln durften, das einmal Hitlers Paradeplatz war. Und können wir uns vorstellen, wie ihnen zumute war, als sie daran dachten, daß an diesem dritten Tag ihres Kongresses die Todesurteile gegen diejenigen verkündet wurden, die das mörderische System vertraten, das versucht hatte, Jehovas Zeugen auszurotten? Der Vorsitzende des Kongresses sagte: „Allein diesen Tag zu erleben, der ein Vorgeschmack von dem Triumph des Volkes Gottes über seine Feinde in der Schlacht von Harmagedon ist, war es wert, neun Jahre ins Konzentrationslager zu gehen.“ Diese Äußerung wurde von der Presse aufgegriffen und um die ganze Erde getragen.

HILFSMASSNAHMEN AUS DEM AUSLAND

Im Jahre 1947 konnten Bruder Knorr, Bruder Henschel und Bruder Covington die Brüder in Deutschland besuchen. Während ihres Besuches wurden Vorkehrungen für einen Kongreß in Stuttgart getroffen, der Sonnabend, den 31. Mai und Sonntag, den 1. Juni stattfinden sollte. In der Stadt standen keine Säle zur Verfügung, da alles ausgebombt war, und so wurde in einem Vorort ein Platz für den Kongreß vereinbart. Ungefähr 7 000 Personen waren anwesend.

Während seines Besuches erkannte Bruder Knorr, daß die Lebensmittel- und Kleiderlieferungen der Gesellschaft fortgesetzt werden mußten. Die Brüder in der Schweiz hatten viele Lebensmittel und Kleider gespendet, um den deutschen Brüdern in ihrer erbärmlichen Lage zu helfen, und hatten so ihre brüderliche Liebe gezeigt. Aber die Brüder in Deutschland taten Bruder Knorr so leid, daß er beschloß, die Brüder, die wenige Wochen später den Kongreß in Los Angeles besuchen würden, von ihrer Not zu unterrichten und zu ermuntern, Lebensmittel und Kleider zu spenden. Die deutschen Brüder waren sich jedoch ihrer Not gar nicht so sehr bewußt, denn sie waren so glücklich und dankbar, daß Jehova dieses geistige Festmahl für sie bereitet hatte, das darin seinen Höhepunkt fand, daß Bruder Knorr in ihrer Mitte war.

Als er den Brüdern in den Vereinigten Staaten erzählte, was er in Deutschland gesehen hätte, und sie ermunterte, Lebensmittel zu spenden, spendeten die Brüder spontan 140 000 Dollar, eine Summe, die benutzt wurde, um 22 000 große Lebensmittelpakete von der CARE-Organisation zu kaufen und nach Deutschland zu schicken. Außerdem spendeten sie 220 Tonnen Kleidung — Anzüge, Kleider, Unterwäsche und Schuhe für Männer, Frauen und Kinder.

Sobald bekanntgegeben wurde, daß die Lieferung unterwegs war, wurden im Bethel Vorbereitungen zur schnellen und reibungslosen Verteilung getroffen. In einem Vorort Wiesbadens mieteten die Brüder einen Raum in einem Gasthaus, wo sie die Kleidung sortierten und verteilten. Jeder Verkündiger, der mindestens sechs Monate im Predigtdienst tätig war — mit anderen Worten, der nicht nur berichtet hatte, um ein CARE-Paket zu erhalten —, wurde registriert, denn für jeden gab es ein großes Paket mit hochwertigen Lebensmitteln.

Kaum hatte man mit der Verteilung begonnen, als im Zweigbüro Berge von Briefen eingingen, in denen die Brüder ihre Dankbarkeit zum Ausdruck brachten. Es war rührend zu sehen, mit welcher Dankbarkeit die Brüder diese Gaben entgegennahmen und wie sie sich Jehova und den Spendern, ihren Brüdern in Amerika, gegenüber zu Dank verpflichtet fühlten. Oft kam es vor, daß jemand die Arbeit unterbrechen und sich erst einmal die Tränen von den Augen wischen mußte, die ihm beim Lesen der Dankesbriefe kamen. Zum Beispiel kniete sich ein Vater, nachdem er das Paket geöffnet und seinen Inhalt gesehen hatte, mit seinem zwölfjährigen Sohn hin und dankte Jehova im Gebet für dieses liebevolle Geschenk seiner Brüder.

Bruder Knorr traf auch die Vorkehrung, daß nahezu eineinhalb Millionen Exemplare der Bücher „Gott bleibt wahrhaftig“, Die Neue Welt und „Die Wahrheit wird euch frei machen“ als Geschenk nach Deutschland geschickt wurden. Mit dem Geld, das die Verbreitung dieser Bücher einbringen würde, sollte eine Grundlage für die Arbeit des Zweigbüros gelegt werden. So sorgte Jehova dafür, daß das Werk in Deutschland wieder beginnen konnte.

VORWÄRTS TROTZ DER PROBLEME DER NACHKRIEGSZEIT

Das Jahr 1948 begann wegen der schlechten Ernährungslage mit einer Streikwelle in Süddeutschland und im Ruhrgebiet. Fleisch- und Fettrationen waren weiter gekürzt worden. Während die UNO erklärt hatte, jeder benötige 2 620 Kalorien pro Tag, enthielten die Rationen an einigen Orten viel weniger — oft nur 1 000 und manchmal sogar nur 700 Kalorien. Fast jeder hungerte, und die Lage verschlimmerte sich ständig, was zu einer allgemeinen Erbitterung führte.

Dennoch begann Jehovas Volk das neue Jahr voller Eifer und Begeisterung. In jeder Versammlung wurde am 1. Januar eine besondere Zusammenkunft abgehalten, die insgesamt von 38 682 Personen besucht wurde, und während des gleichen Monats berichteten 27 056 Verkündiger über ihren Predigtdienst. Das waren 2 183 mehr als einen Monat zuvor. In dieser Zeit sollte auch der jährliche Wachtturm-Feldzug beginnen, aber was wir hier in Deutschland wirklich benötigten, waren persönliche Exemplare des Wachtturms für uns selbst. Das war ein Problem, besonders angesichts der bedrängten Lage, in die uns die Papierknappheit außer anderen Problemen und Schwierigkeiten gebracht hatte. Durch eine Vorkehrung Bruder Knorrs wurde in der Schweiz eine genügend große Anzahl von Wachttürmen hergestellt und nach Deutschland geschickt, so daß im Januar nicht nur jeder Verkündiger seinen eigenen Wachtturm hatte, sondern in jeder Versammlung noch eine Anzahl übrig waren, und so war es vielen, die das Wachtturm-Studium besuchten, möglich, ein eigenes Exemplar zu erhalten. Für die geistige Speise war demnach gut gesorgt.

Zu dieser Zeit waren die meisten deutschen Städte nichts weiter als Trümmerhaufen. Das traf auch auf Kassel zu. Diese Stadt war fast vollständig zerstört worden, und nach den ersten Schätzungen der Planungskommission, die eingesetzt worden war, um sich der Räumungsarbeiten anzunehmen, würde es allein dreiundzwanzig Jahre dauern, die Stadt von den Trümmern zu reinigen. Hier wollten wir nun einen Kongreß abhalten. Die Stadt konnte für unseren Kongreß nichts anderes zur Verfügung stellen als die große Karlswiese, eine Wiese, in der es über fünfzig große Bombentrichter gab. Aber die Brüder begaben sich mit der Erfahrung, die sie im Konzentrationslager erworben hatten, freudig an die Arbeit, und dies trotz der häufigen skeptischen Kommentare der verantwortlichen Beamten. Mit primitiven Methoden schafften sie etwa 10 000 Kubikmeter Steine und Trümmer von den zerstörten Häusern in der Nachbarschaft heran und füllten damit die Bombentrichter aus. Diese Arbeit nahm fast vier Wochen in Anspruch.

Die Wochen erwiesen sich als eine Prüfung, denn kaum hatten die Brüder mit der Arbeit begonnen, fing es zu regnen an, und der Regen hörte nicht auf, bis der Kongreß begann. Obwohl sie durchnäßt waren, ließen sie ihre Stimmung weder durch die harte Arbeit noch durch den Regen dämpfen. Als man ihnen sagte, es sei unmöglich, bei diesem Wetter einen solchen Kongreß auf der Karlswiese abzuhalten, antworteten sie optimistisch, wenn der Kongreß beginne, hätten sie auch schönes Wetter.

Mitten im Verlauf der rasch vorangehenden Vorbereitungsarbeiten wurde eine Währungsreform angekündigt. Es waren Schwierigkeiten unangenehmster Art zu erwarten. Am 21. Juni trat die neue Währung in Kraft, und jeder Bürger der drei westlichen Zonen erhielt gegen 60 alte Reichsmark 40 Mark der neuen Währung. Einen Monat später wurden dann weitere 20 Deutsche Mark ausgezahlt. Die Bankkonten wurden auf ein Zehntel des alten Reichsmarkbetrages reduziert und in den meisten Fällen erst einmal eingefroren.

Bald erkannte man den Wert der neuen Währung. Lagervorräte, die bis dahin zurückgehalten worden waren, wurden nun zum Verkauf angeboten, und viele notwendige Dinge, auf die man jahrelang verzichten mußte, waren nun in den Läden zu kaufen. Aber unsere Brüder waren sich ihrer geistigen Bedürfnisse bewußt und waren bereit, ihren Besitz an Deutschen Mark für den Besuch des Kongresses zu investieren. Viele verkauften wertvolle Gegenstände wie Kameras, um die Kosten bezahlen zu können. Jehovas Hand war nicht zu kurz, um denen zu helfen, die die Königreichsinteressen an die erste Stelle setzten. Zum Beispiel berichtet Schwester Neupert aus München: „Meine Bienenzucht stand in Gefahr, weil ich keinen Zucker hatte und auch keinen kaufen konnte, da ich kein Geld hatte, aber Kassel war mir wichtiger. Ich wurde auch nicht enttäuscht. Nach meiner Rückkehr aus Kassel hatten die Bienen so fleißig heimgetragen, daß ich in jenem Jahr etwa 20 Zentner Honig ernten konnte.“

Als die verantwortlichen Brüder aus dem Zweigbüro in Kassel eintrafen, wurden sie mit den Worten aus Jesaja 12:3 begrüßt: „Mit Wonne werdet ihr Wasser schöpfen.“ Die Brüder hatten diese Worte auf ein Banner geschrieben und es über den Eingang zur Karlswiese gehängt. Andere, die immer noch Wasser aus den übriggebliebenen Bombentrichtern schöpften, damit der Boden schneller trocknen konnte, begrüßten sie mit ihrer Fassung des Schrifttextes: „Mit Wannen werdet ihr Wasser schöpfen.“

Siebzehn Sonderzüge trafen in Kassel ein, und am Freitagmorgen, nachdem es wochenlang in Strömen geregnet hatte, begann die Sonne am blauen Himmel über den mehr als 15 000 Anwesenden zu strahlen. Am zweiten Tag waren es 17 000 Anwesende, und beim Höhepunkt dieses Bezirkskongresses, beim öffentlichen Vortrag, zählten die Ordner 23 150 Personen, nicht eingerechnet die Schwärme von Kasseler Bürgern, die auf den Straßen um das Kongreßgelände standen. Die Kasseler Zeitungen berichteten daher von „25 000 bis 30 000 Menschen auf der Karlswiese“.

Sogar der Oberbürgermeister war anwesend und hielt den Brüdern, deren Arbeit ihn sehr beeindruckt hatte, eine kurze Ansprache. Das gute Wetter hielt sich, und der katholische Polizeichef sagte den Brüdern während eines Besuches auf dem Kongreßgelände am zweiten Tag: „Ihr scheint bei dem da oben eine gute Nummer zu haben!“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Eine bessere als wir.“

Einer der vielen Höhepunkte des Kongresses kam, als jeder Anwesende ein kostenloses Exemplar des Buches „Die Wahrheit wird euch frei machen“ und zwei Exemplare der Broschüre Freude für alles Volk erhielt. Ein weiterer Höhepunkt war der Predigtdienst. Die Brüder wurden mit Sonderzügen zum Predigtdienst in die umliegenden Städte gefahren, ja sogar bis Paderborn, so daß diese Bischofsstadt an einem Tag vollständig bearbeitet wurde. Bei diesem Kongreß wurden 1 200 Personen getauft.

Da Jehovas Volk bereit war, die geistigen Interessen an die erste Stelle zu setzen, waren Frieden, Einheit und Mehrung die Folge. Während des Kongreßmonats Juli berichteten 33 741 Verkündiger über ihren Predigtdienst, und diese Zahl stieg im August auf 36 526. Das Dienstjahr schloß mit einer 83prozentigen Zunahme. Die Zahl der Versammlungen wuchs, und am 15. Oktober wurden die Kreise neu eingeteilt, so daß es nun 70 Kreise gab.

Im Jahre 1948 wurden auch die ersten Flachpressen im Bethel Wiesbaden aufgestellt. Da gleichzeitig eine große Sendung Papier als Geschenk aus Brooklyn eingetroffen war, war es möglich, hohe Auflagen zu drucken. Eine Zeitlang liefen zwei Maschinen Tag und Nacht. Aber viele Außenstehende interessierten sich dafür, wie es uns möglich war, an diese zwei Maschinen zu gelangen, da damals keine Firma in der Lage war, sie herzustellen. Diese Pressen hatten einem früheren Millionär gehört und waren bei einem Bombenangriff in Darmstadt schwer beschädigt worden. Nach 1945 gruben dieser Mann und sein Bürochef die Eisenteile aus den Trümmern und brachten sie zur Fabrik nach Johannisberg am Rhein, wo sie ursprünglich hergestellt worden waren. Glücklich, etwas zu haben, womit man die Arbeiter beschäftigen konnte, stellte man diese Maschinen vollständig wieder her. Inzwischen lernte die Sekretärin dieses einst reichen Druckers, die bald seine Frau wurde, die Wahrheit kennen und benutzte ihren Einfluß, so daß dieser Mann die Maschinen der Gesellschaft zu einem unglaublich niedrigen Preis verkaufte.

Doch schon davor konnten die Brüder etwa eineinhalb Jahre lang in einer kleinen Druckerei in Karlsruhe monatlich etwa 4 000 bis 6 000 Zeitschriften drucken. Diese Druckerei hatte Nationalsozialisten gehört und war von der amerikanischen Besatzungsmacht übernommen und Personen zur Verfügung gestellt worden, die vom nationalsozialistischen Regime verfolgt worden waren. Da auch Bethelmitarbeiter zu dieser Gruppe gehörten, wurde ihnen die kleine Druckerei unter der Bedingung übergeben, daß sie die Verwaltung selbst übernehmen würden. Erwin Schwafert wurde als Betriebsleiter eingesetzt und hatte die Verantwortung, dafür zu sorgen, daß Der Wachtturm dort so lange gedruckt würde, bis wir die Arbeiten in unserer eigenen Druckerei fortsetzen könnten.

Ein besonderes Problem war die Verteilung der Zeitschriften. Zwar wuchs die Zahl der Verkündiger von Monat zu Monat, aber die Militärregierung konnte uns nicht mehr Papier geben. So mußten wir jeden Monat einen neuen Verteilerplan aufstellen, gemäß dem jedem sechsten oder siebten Verkündiger ein Wachtturm zur Verfügung stand. Dies war auch einer der Gründe, weshalb Bruder Knorr so große Anstrengungen unternahm, die Gesellschaft in Wiesbaden als Zweigorganisation der Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania eintragen zu lassen. Wenn das einmal erreicht wäre, würde sich leicht Papier aus dem Ausland beschaffen lassen, um den ständig wachsenden Bedarf der Brüder an Studienmaterial zu decken. Aber sie benötigten auch Literatur für ihre Arbeit von Haus zu Haus. Den Brüdern standen bis zum Jahre 1948 nur wenige Schriften, hauptsächlich Broschüren, zur Verfügung, und diese wurden für ein oder zwei Wochen ausgeliehen.

Im Jahre 1949 stand immer mehr Papier zur Verfügung, und so war es möglich, immer höhere Auflagen zu drucken. Am 1. Januar 1949 wurden 40 000 Exemplare des Wachtturms gedruckt. Die Auflage stieg ständig und erreichte für die Ausgabe vom 15. April 80 000, für die Ausgabe vom 1. Mai 100 000 und für die Ausgabe vom 15. Mai 150 000 Exemplare.

Während im Jahre 1947 beim Gedächtnismahl in allen vier Zonen Deutschlands zusammen 35 840 Personen anwesend waren, waren es ein Jahr später 48 120, und im Jahre 1949 war die Zahl der Anwesenden beim Gedächtnismahl auf 64 537 Personen angestiegen. Auch hier galt es manchmal, Probleme zu überwinden. Zum Beispiel wurde das Gedächtnismahl 1948 in Holzheim bei Göppingen unter Polizeiaufsicht durchgeführt. Wie kam es dazu? Bruder Eugen Mühleis erklärt: „Dem Pfarrer wurde verboten, das Abendmahl in der evangelischen Kirche zu feiern, weil Typhus im Ort ausgebrochen war. Der Rektor der Schule wollte nun ebenfalls verhindern, daß in der Schule unser Gedächtnismahl durchgeführt werden konnte, wie es vorgesehen war. Das Gesundheitsamt in Göppingen allerdings gab die Erlaubnis, jedoch mußten einige Auflagen erfüllt werden, um eine Übertragung der ansteckenden Krankheit zu verhindern. Ein Polizist wurde beauftragt, der Gedächtnismahlfeier beizuwohnen und zu beobachten, ob alle Erfordernisse erfüllt wurden.“

Anfang 1949 wurde die Druckerei in Wiesbaden vergrößert; 8 Druckmaschinen arbeiteten nun, und 2 davon liefen Tag und Nacht. Während dieses Jahres wurden etwa eineinhalb Millionen gebundene Bücher aus Brooklyn geschickt, und durch die Verbreitung dieser Bücher wurde eine breitere Grundlage für neue Rückbesuche und Bibelstudien geschaffen. Die Reihen der Verkündiger wuchsen von Monat zu Monat, und im August 1949 berichteten 43 820 Verkündiger. In diesem Dienstjahr wurde eine 33prozentige Zunahme an Verkündigern erreicht.

OPPOSITION IM KOMMUNISTISCHEN OSTDEUTSCHLAND

Ganz anders war die Entwicklung des Werkes im Ostsektor Berlins und in Ostdeutschland, das am Ende des Zweiten Weltkrieges von der Sowjetunion besetzt und von der sowjetischen Militärverwaltung regiert wurde. Die Beamten der Militärregierung wußten nicht viel über Jehovas Zeugen, außer daß sie der grausamen Verfolgung von seiten der Nationalsozialisten widerstanden hatten. Anfangs gab es verhältnismäßig wenig Schwierigkeiten, aber als die Versammlungen zu blühen begannen und viele Menschen anfingen, Interesse an der Königreichsbotschaft zu zeigen, wurde die sowjetische Militärverwaltung unserem Werk gegenüber mißtrauisch, da es ihr aus der Kontrolle zu geraten schien. Oft wurden unsere öffentlichen Zusammenkünfte besser besucht als die politischen Versammlungen der kommunistischen Partei, die von der Militärregierung unterstützt wurden.

Bald begannen sowjetische Beamte, die Tätigkeit der Versammlungen und einzelner Verkündiger zu beschneiden. Einige Geistliche der Christenheit sahen hier eine Gelegenheit, sich den Kommunisten als gute Freunde zu zeigen. Sie verleumdeten die Brüder und sagten, sie würden der Obrigkeit Widerstand leisten und die Menschen dadurch, daß sie Gottes Königreich als die einzige Hoffnung für die Menschheit verkündigten, auffordern, den Bemühungen der Militärregierung, die zusammengebrochene Wirtschaft in Ostdeutschland wiederanzukurbeln, passiven Widerstand entgegenzusetzen.

Diese Behinderungen veranlaßten die Brüder, die im Büro der Gesellschaft in Magdeburg arbeiteten, beim Hauptquartier der Sowjetischen Militäradministration, die ihren Sitz in Ost-Berlin hatte, vorzusprechen. Zuerst wollte man mit ihnen nach dem allgemein praktizierten Grundsatz: „Nichts verboten, nichts erlaubt“ verfahren. Aber den Brüdern gelang es schließlich, vom Hauptquartier eine Bescheinigung zu erhalten, die bestätigte, daß Jehovas Zeugen legal tätig seien. Wenn es zu Behinderungen kam, half es in einigen Fällen, dieses Dokument vorzuweisen, aber andere Beamte schienen zu meinen, das Hauptquartier sei weit weg und sie seien ihr eigener Herr.

Nach dem Krieg wurde Berlin, die frühere Hauptstadt des Deutschen Reiches, von den alliierten vier Siegermächten in vier Sektoren aufgeteilt mit teilweise selbständiger, teilweise gemeinsamer Verwaltung. Doch bald kamen Unstimmigkeiten unter den Verbündeten auf und nahmen heftige Formen an, als die Russen nach der Währungsreform im Jahre 1948 eine Blockade über die westlichen Sektoren Berlins verhängten. Die westlichen Alliierten durchbrachen den Blockadering, indem sie von ihrem Recht auf die Luftkorridore Gebrauch machten und so die Bevölkerung in den drei Sektoren durch eine „Luftbrücke“ mit den lebensnotwendigen Bedarfsgütern versorgten. Als sich die Alliierten schließlich wieder einigten und die Russen die Blockade aufhoben, wurde Berlin endgültig eine geteilte Stadt — Ost-Berlin unter kommunistischer Herrschaft und West-Berlin mit gewissen Bindungen an die Bundesrepublik Deutschland.

Im Jahre 1948 sollte ein Kongreß in Leipzig stattfinden, aber die russischen Militärbehörden verweigerten die Genehmigung. So wurde die schön gelegene Waldbühne, die im britischen Sektor Berlins lag, dafür vorgesehen. Doch es gab laufend Schwierigkeiten. Nicht nur die Währungsreform und das schlechte Wetter bereiteten Probleme, sondern die wichtigste Frage war: Wie werden die Tausende aus allen Teilen Ostdeutschlands in das blockierte Berlin gelangen können? Schließlich wurden Sonderzüge nach Berlin bewilligt, so daß trotz der kritischen politischen Lage am ersten Tag fast 14 000 Personen versammelt waren. Am dritten Tag waren über 16 000 anwesend, und der öffentliche Vortrag am Sonntagnachmittag wurde von über 25 000 besucht. Die Zahl der neuen Verkündiger, die ihre Hingabe durch die Taufe symbolisierten, betrug 1 069. Jehova erwies sich als ein gütiger Gastgeber, der seinem Volk mitten im Brennpunkt des Streites der beiden Nationenblocks einen Tisch mit Fettspeisen bereitete.

Wie stand es um diese Zeit um das Eigentum der Gesellschaft in Magdeburg, im kommunistischen Ostdeutschland? Die Gebäude in der Wachtturmstraße 17-19 waren 1945, gleich nach Kriegsende, zurückgegeben und bereits zu 95 Prozent wieder instand gesetzt worden, und das Eigentum in der Leipziger Straße 16 war zu 90 Prozent repariert worden. Unsere Brüder hatten das zerstörte Eigentum durch freiwillige und unbezahlte Arbeit wieder aufgebaut. Aufgrund des Beschlusses der Landesregierung Sachsen vom 24. Juni 1949 wurde auch das restliche Eigentum, Fuchsberg 5-7 und Wachtturmstraße 1-3, der Gesellschaft zurückgegeben. In diesem Monat betrug die Gesamtzahl der Verkündiger in Ostdeutschland, die vom Zweigbüro in Magdeburg aus betreut wurden, 16 960.

Der Hunger nach der biblischen Wahrheit war sehr groß. Reisende Aufseher berichten, daß oft 100 bis 150 Personen bei den Zusammenkünften für die Öffentlichkeit anwesend waren, und das in Versammlungen, die nur 30 bis 40 Verkündiger zählten. In Großstädten wurden die Vorträge oft von über 1 000 Personen besucht. Viele Bibelstudien wurden eingerichtet; in einer Versammlung führte jeder Verkündiger durchschnittlich 3,8 Bibelstudien durch. Die reisenden Aufseher hatten es nicht immer leicht. Einige von ihnen fuhren mit alten, geliehenen Fahrrädern, von denen manche statt mit Gummibereifung nur mit Metallfelgen versehen waren. Sie mußten weite Entfernungen zurücklegen. Zudem gab es noch das Problem der Lebensmittelkarten. Ein Kreisaufseher berichtet, daß ihm die vom Arbeitsamt ausgestellte Bescheinigung als „Prediger“ nicht mehr verlängert wurde und er daraufhin keine Lebensmittelmarken mehr erhielt.

Ein anderer Kreisaufseher berichtet: „Bei jedem Vortrag waren mehrere Spitzel zugegen, um Anklagegründe zu finden. Bei einem Zivilisten waren sich die Brüder nicht ganz sicher. So redete ich ihn vor dem Vortrag mit den Worten an: ,Ach, Herr Wachtmeister, können Sie uns die genaue Uhrzeit geben?‘ Er tat es, und wir wußten, daß er, da er nicht widersprach, ein Polizist in Zivil war.“

Die Feindseligkeiten der russischen und der deutschen kommunistischen Behörden nahmen immer mehr zu. Für den 29. bis 31. Juli 1949 wurde für unsere Brüder, die in Ostdeutschland lebten, wieder ein Kongreß in Berlin, und zwar in der Waldbühne, organisiert. Er stand unter dem Schatten der sich anbahnenden Verfolgung, doch man konnte auch die Entschlossenheit unserer Brüder erkennen, Jehova weiterhin ganzherzig zu dienen. Alle Vorbereitungen wurden so still und unauffällig wie möglich getroffen. Es hatte bereits zahlreiche kommunistische Angriffe auf die Glaubensfreiheit in Ostdeutschland gegeben. Zum Beispiel war ein Kreiskongreß in Sachsen in letzter Minute verboten worden, und durch gewalttätige Handlungen waren einige Zeugen Jehovas verletzt worden.

Es gelang uns, acht Sonderzüge zu organisieren. Etwa 8 000 Personen hatten bereits über 100 000 Mark für die Fahrkarten bezahlt, als die Züge wenige Stunden vor der Abfahrt abgesagt wurden. Die Bahnverwaltung weigerte sich, das Fahrgeld vor Ablauf von zwei Wochen zurückzuzahlen. Tausende von Zeugen warteten auf den Bahnhöfen auf die Sonderzüge und mußten erfahren, daß sie abgesagt worden waren. Die Polizei sperrte alle Zufahrtswege nach Berlin ab und durchsuchte sämtliche Autos, Omnibusse und Lastwagen nach Personen, die zum Kongreß fuhren. Aber am Abend des ersten Kongreßtages waren mindestens 16 000 Personen anwesend. Der öffentliche Vortrag am Sonntag wurde von über 33 000 besucht. Die bösen Anschläge und Bemühungen des Feindes wirkten sich zu einem großartigen Zeugnis aus.

Diese diktatorischen Maßnahmen gegen uns wurden bald bekannt, und obwohl keine Einladung an die Presse erging, erschienen dennoch zahlreiche Reporter und schrieben Sensationsberichte über die Versuche der Kommunisten, die Zeugen daran zu hindern, nach Berlin zu reisen. Am Sonnabendabend las der Zweigaufseher, Erich Frost, den versammelten Tausenden eine Resolution vor, die am gleichen Abend über den amerikanischen Sender RIAS in Berlin bekanntgegeben wurde. Bruder Frost umriß die mutige Einstellung der Zeugen Jehovas mit den Worten: „Ist der Bolschewismus schöner als andere Systeme? Glaubt die SED, daß das, was Hitler begonnen hat, von ihr vollendet werden müsse? Wir fürchten die SED ebensowenig, wie wir die Nazis gefürchtet haben!“

Die auf dem Berliner Bezirkskongreß gefaßte Resolution enthielt auch einen scharfen Protest gegen die undemokratischen und verfassungswidrigen Verbote und die Einschränkungen ihrer Gottesdienste in Sachsen und die Beschlagnahme der hierfür benutzten Räume. Diese Resolution wurde zusammen mit einem Begleitschreiben am 3. August an die Sowjetische Militäradministration in Deutschland, die ihren Sitz in Berlin hatte, gesandt. Außerdem wurde sie an 4 176 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und an Vertreter von Tageszeitungen, Rundfunkanstalten und Nachrichtenbüros in Berlin sowie in West- und Ostdeutschland gesandt. So wurde die Aufmerksamkeit aller auf das Treiben der Kommunisten und auf die Standhaftigkeit wahrer Christen gelenkt. Im August, einen Monat nach dem Kongreß, erzielten Jehovas Zeugen in Ostdeutschland eine neue Verkündiger-Höchstzahl; es berichteten 568 mehr als je zuvor!

Die Entfachung einer Kampagne gegen Jehovas Zeugen nahm immer größere Ausmaße an. Die Gottesdienstfreiheit wurde immer mehr eingeschränkt. Verbote, Bibelstudien durchzuführen, wurden verhängt, polizeiliche Auflösungen von Gottesdiensten durchgeführt, Brüder wurden aus staatlichen oder kommunalen Stellungen wegen ihrer Glaubenseinstellung entlassen. Am 18. Februar 1950 wurde bei der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik eine Petition zur Gewährleistung wahrer Gottesdienstfreiheit eingereicht. Aber es kam zu weiteren widerrechtlichen Auflösungen von Gottesdiensten, zur Beschlagnahmung von Literatur und zur Verhaftung mehrerer leitender Prediger. Am 27. Juni wurde nochmals eine Petition der Zeugen Jehovas aus Deutschland der Regierung zu Händen des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl übergeben. Dann schlug die grausame Hand des Kommunismus zu.

Am frühen Morgen des 30. August 1950 drangen kommunistische Polizeibeamte unter der Leitung zweier russischer Offiziere in unser Bethel in Magdeburg ein. Sie verhafteten alle Brüder bis auf einen, den sie als „Hausmeister“ einsetzten. Der Brief des Innenministeriums an die Wachtturm-Gesellschaft in Magdeburg, durch den sie von dem Verbot in Kenntnis gesetzt wurde, trägt das Datum vom 31. August. Dieser Brief wurde aber erst am 3. September vom Präsidenten der Volkspolizei dem zurückgelassenen Bruder, dem „Hausmeister“, überreicht.

Einige Schwestern im Bethel, die Augenzeugen dessen waren, was an jenem Morgen des 30. August geschah, berichten: „Morgens gegen fünf Uhr ertönte das Alarmsignal. Schnell zog ich mich an. ... Als ich die Tür öffnete, um hinunterzulaufen, standen schon zwei Kriminalbeamte vor mir und sagten, ich solle in meinem Zimmer bleiben. Dann trat ein Beamter in mein Zimmer und sagte, ich solle den Schrank öffnen. Ich weigerte mich so lange, bis er sich als dazu berechtigt auswies. Alles wurde durchwühlt. ...“ Wie waren diese Volkspolizisten ins Bethel gelangt? Eine andere Schwester berichtet: „Ich schaute in Zimmer 23 aus dem Fenster und bemerkte gerade, wie Polizisten über das Tor kletterten und andere sich auf dem Grundstück befanden. Die Nachtwächter hatten das Tor nicht freiwillig geöffnet. Nach meiner Schätzung war das Polizeikommando etwa 25 bis 30 Mann stark, alle in Zivil.“

Schwester Bender, die damals im Bethel Magdeburg diente und heute noch treu im Bethel Wiesbaden dient, erzählt ihre Erfahrung: „Am 30. August 1950 brach morgens zwischen 4 und 5 Uhr die Geheimpolizei der Ostzone ins Bethel in Magdeburg ein. ... Alle Bethelmitarbeiter mußten auf die Zimmer zurück und durften diese nicht verlassen. Gegen 10 Uhr morgens habe ich das Bethel unbemerkt verlassen, indem ich die Feuerleiter vom Balkon des ersten Stockes benutzte und durch den Zaun, der das Nachbargrundstück vom Bethelgarten trennte, hindurchging. Obwohl ich feststellte, daß Polizei auf der Straße war, ging ich ganz langsam vom Grundstück des Nachbarn weg und holte bei Brüdern, bei denen die Akten abgelegt waren, diese ab, und ein Bruder fuhr mich dann nach Berlin.“ So war es möglich, einige Unterlagen zu retten.

Sämtliche Literatur wurde beschlagnahmt und mit dem Lastwagen der Gesellschaft abtransportiert. Das gleiche geschah mit den Lebensmitteln, die in der Küche gelagert waren. Nur die Schwestern durften ihre Lebensmittelkarten behalten. Eine Augenzeugin berichtet: „Die Brüder hatte man in der Zwischenzeit — wie beobachtet wurde — jeweils zu zweit stillschweigend abgeführt. ...“

Eine Welle der Verfolgung hatte eingesetzt. Als die Polizei kam, um einen Bruder zu verhaften, empfing er sie in den gestreiften „Zebra-Kleidern“, die er im Konzentrationslager der Nazis getragen hatte. Schauprozesse wurden durchgeführt, und das Werk der Zeugen Jehovas mußte wieder im Untergrund durchgeführt werden.

Lothar Wagner war einer der Brüder, die im Jahre 1950 zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt wurden. Er beschreibt lebhaft, wie es ihm gelang, während sieben Jahren Einzelhaft seine Lauterkeit zu bewahren:

„30. 8. 1950 in Plau (Mecklenburg) verhaftet. 4. 10. 1950 vom Obersten Gericht der DDR in Berlin zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Anläßlich der Unruhen in Ungarn 1956 wurde die Strafe auf 10 Jahre herabgesetzt.

Diese 10 Jahre und die 6 Wochen Untersuchungshaft, die nicht auf die Strafe angerechnet wurden, befand ich mich im Zuchthaus Brandenburg-Görden. Dort wurde ich am 3. 10. 1960 entlassen.

Während dieser Zeit verbrachte ich 7 Jahre in Einzelhaft. In den ersten 3 Jahren bestand die einzige Verbindung zur Außenwelt in einem Brief, Format DIN A5, von 15 Zeilen, den ich einmal im Monat schreiben und empfangen konnte — vorausgesetzt, der Inhalt war der Volkspolizei genehm. Bis 1958 war Arbeit eine Vergünstigung — da durfte ich nicht arbeiten. Ab 1958 war Arbeit eine Strafe — da mußte ich arbeiten.

Wenn man so viele Jahre in Einzelhaft ist, hat man es neben vielen anderen Anfechtungen hauptsächlich mit einem ,Feind‘ zu tun: der Zeit. Die Zeit gilt es zu besiegen.

Ich habe das Problem auf folgende Weise gelöst: Einheit macht stark, das gilt auch in bezug auf die Zeit. Wenn man sein ganzes Strafmaß von 15 Jahren in einem Stück betrachtet hat, ist man von dieser Masse Zeit fast erdrückt worden, weil das einfach unsere Vorstellungskraft übersteigt und diese riesige Zeitspanne einem wie ein Ungeheuer gegenübersteht. Man muß also versuchen, die Oberhand über die Zeit zu gewinnen und sie sich untertan zu machen. Wenn Herrscher dieser Welt eine große Menge Menschen beherrschen wollen, der sie nicht gewachsen sind, handeln sie oft nach dem Grundsatz: Teile und herrsche!

In bezug auf die Zeit habe ich das gleiche Prinzip angewandt; ich habe die Zeit geteilt. Ich habe nicht mehr mit Jahren oder Monaten, ja noch nicht einmal mit Wochen oder Tagen gerechnet, sondern höchstens mit Stunden. Ich stellte mir beispielsweise morgens um 7 Uhr nicht die Frage: ,Was mache ich heute?‘, sondern: ,Was mache ich bis 9 Uhr?‘

Plötzlich sah das ganz anders aus. Ein oder zwei Stunden hatten nichts Furchteinflößendes mehr an sich, die konnte ich schon beherrschen und in den Griff bekommen. Aber trotzdem war da noch ein anderes Problem: Womit sollte man die Zeit ausfüllen? Schreibzeug und Papier haben wir nie bekommen. Die einzige wirkliche Beschäftigung bestand in dem Sauberhalten der Zelle und dem Essen. Wenn ich auch beides ganz gründlich und so langsam wie möglich verrichtete, reichte es doch nicht aus, den ganzen Tag damit zu verbringen. Selbstverständlich wurden alle Zweige des theokratischen Dienstes, vom persönlichen Studium bis zum internationalen Kongreß, vom Haus-zu-Haus-Dienst bis zum öffentlichen Vortrag, so gut es ging, in Gedanken durchgeführt. Trotz alledem blieb noch die eine oder andere Stunde am Tag unausgefüllt, und diese Stunden waren die gefährlichsten, weil es leicht geschehen konnte, daß in dieser Zeit durch Unachtsamkeit, Mutlosigkeit oder Niedergeschlagenheit all das wieder niedergerissen wurde, was man während des ganzen Tages mühsam aufgebaut hatte.

Eines Tages entdeckte ich eine ,Uhr‘, die mir dann jahrelang half, diese gefährliche, unproduktive Zeit nutzbringend zu verwenden. Ich stellte einmal fest, daß bis zum Mittagessen noch zwei Stunden Zeit waren. Ich lief in der Zelle auf und ab, fünf Schritte hin, fünf Schritte her, und dabei habe ich Königreichslieder gesungen. Als ich das 30. Lied beendet hatte, ging die Tür auf, und das Mittagessen kam. Ich hatte mich auf den Text der Lieder konzentriert und dabei gar nicht bemerkt, wie die Zeit verging. Das war eine Entdeckung, die mich jahrelang vor Langeweile und Niedergeschlagenheit bewahrte. Einige Wochen war ich damit beschäftigt, mein Repertoire an Königreichsliedern zu vervollständigen. Wo ich den Text nicht genau kannte, habe ich einfach ein oder zwei Strophen hinzugedichtet. Aus Melodien von weltlichen Liedern, die mir gefielen, habe ich Königreichslieder gemacht, indem ich ihnen einen theokratischen Text unterlegte. So hatte ich schließlich 100 Königreichslieder zusammengestellt und numeriert, die ich nun singen konnte. Ein Lied dauerte etwa vier Minuten, so daß ich mir genau ausrechnen konnte, wie viele Lieder ich singen mußte, um eine bestimmte Zeit zu überbrücken. Über Jahre hinweg habe ich mindestens zwei Stunden täglich gesungen, das heißt also dreißig Königreichslieder. Ich hatte nun sogar die Möglichkeit, einmal einen ganzen Tag, an dem ich mich zu nichts anderem aufraffen konnte, von früh bis abends zu singen. Welch eine Fülle ermunternder und auferbauender Gedanken doch unsere Königreichslieder enthalten! Wenn man den Text eines jeden Liedes als Disposition betrachtet, kann man sogar leicht aus jedem Lied einen Vortrag machen — eine weitere Möglichkeit, Zeit zu verbringen, ohne geistig Schaden zu nehmen. Man kann wirklich sagen: Unsere Königreichslieder sind Speise zur rechten Zeit.

Ich bin Jehova sehr dankbar, daß ich mit Hilfe seines Geistes diese zehn Jahre völliger Abgeschnittenheit von seiner Organisation geistig gesund überstehen konnte. Ich möchte jeden ermuntern, die rechte Wertschätzung für a l l e geistige Speise, die uns zuteil wird, zu bekunden, da wir nicht wissen, auf welche Weise sie uns einmal von Nutzen sein wird. Wenn wir regelmäßig alle geistige Speise zur rechten Zeit in uns aufnehmen, wird sie uns helfen, in Zeiten besonderer Schwierigkeiten, in denen wir auf uns allein gestellt sind, unser Vertrauen auf Jehova zu setzen und standhaft auf seiner Seite auszuharren.“

In der Zeit vom 1. September 1955 bis zum 31. August 1961 unterhielt die Gesellschaft ein schönes Zweigbüro in West-Berlin, und dadurch war es möglich, den besonderen Verhältnissen dieser geteilten Stadt besser Aufmerksamkeit zu schenken. Es diente auch dazu, eine enge organisatorische Verbindung zwischen West-Berlin und Ostdeutschland herzustellen.

Diese Verbindung der in Ostdeutschland und Ost-Berlin lebenden Zeugen Jehovas mit dem Westen wurde im Jahre 1961 durch eine Entwicklung in Mitleidenschaft gezogen, mit der sie selbst nichts zu tun hatten. Schon kurze Zeit nach dem Ende des Krieges hatte ein ständig wachsender Flüchtlingsstrom von Ostdeutschland nach West-Berlin und Westdeutschland eingesetzt, und zwar im allgemeinen aus Unzufriedenheit mit der Politik des Regimes. Da die ostdeutschen Behörden ihren Bürgern nicht erlaubten, aus dem Land auszureisen, gingen sie heimlich als Flüchtlinge über die „grüne Grenze“. Die Behörden suchten diesem Flüchtlingsstrom durch verstärkte Überwachung der Grenzen, Personenkontrollen in der Eisenbahn und auf den Straßen sowie durch scharfe Gesetze gegen „Republikflucht“ entgegenzuwirken. Doch man konnte durch den Ostsektor der Stadt Berlin immer noch verhältnismäßig leicht in den Westen gelangen. Bis zur ersten Hälfte des Jahres 1961 war der Flüchtlingsstrom auf monatlich 20 000 Personen angewachsen; im Juli waren es über 30 000. Insgesamt hatten mehr als 3 000 000 Einwohner, ein Sechstel der Gesamtbevölkerung, ihr Hab und Gut in Ostdeutschland zurückgelassen und waren nach West-Berlin und Westdeutschland geflohen.

Um ein weiteres Abwandern aus ihrem Gebiet zu verhindern, griffen die kommunistischen Behörden zu einem rigorosen Mittel. Am 13. August 1961 begannen sie frühmorgens, entlang der 50 Kilometer langen Sektorengrenze zwischen den Westsektoren und dem Ostsektor der Stadt sowie entlang der 120 Kilometer langen Grenze zwischen den drei Westsektoren und Ostdeutschland eine Mauer aus Beton und Stacheldraht mit eingeebnetem „Todesstreifen“, automatischen Alarmanlagen und stets schußbereiten Doppelwachtposten zu errichten. Mit dieser Abschnürung West-Berlins dämmten sie schlagartig den trotz aller Kontrollerschwernisse noch lebhaften Verkehr zwischen beiden Teilen der Stadt nahezu völlig ein. Für die in Ostdeutschland wohnenden Zeugen Jehovas hörte damit die Möglichkeit auf, sich durch Reisen nach West-Berlin mit Literatur zu versorgen und mit dem dortigen Zweigbüro in Verbindung zu treten. Auch konnten sie keine Kongresse mehr in Westdeutschland besuchen.

Natürlich war bis dahin die Beschaffung der Literatur für sie durchaus nicht einfach gewesen. Die Mitnahme von Literatur in die Ostzone war von den kommunistischen Behörden verboten worden und war daher strafbar. Wenn bei Kontrollen an den Grenzübergängen biblische Schriften der Gesellschaft bei Brüdern entdeckt wurden, mußten sie mit langjährigen Freiheitsstrafen rechnen. Solche Reisen erforderten deshalb großen Glauben und volles Vertrauen zu Jehova.

Vom Beginn der Verfolgung im Jahre 1950 an bis zum Bau der „Berliner Mauer“ im Jahre 1961 wurden von den ostdeutschen Behörden 2 891 Zeugen Jehovas verhaftet; 2 202 von ihnen, darunter 674 Schwestern, wurden vor Gericht gestellt und zu insgesamt 12 013 Jahren Haft verurteilt, was eine durchschnittliche Strafe von etwa 5 12 Jahren für jeden einzelnen ergab. In der Haft verstarben infolge Mißhandlungen, Krankheit, Unterernährung und hohen Alters 37 Brüder und 13 Schwestern. Zwölf Brüder wurden ursprünglich zu lebenslänglicher Haft verurteilt, doch diese Urteile wurden später auf 15 Jahre Zuchthaus ermäßigt.

Die ostdeutschen Brüder paßten sich schnell der durch die „Berliner Mauer“ entstandenen neuen Situation an. Sie wurden auf anderen Wegen mit der notwendigen geistigen Speise versorgt und setzten ihren christlichen Predigtdienst voller Eifer fort. Das hatten die kommunistischen Behörden offensichtlich nicht erwartet. Sie suchten nun Spitzel in die Reihen der treuen Brüder einzuschleusen, die Personen besuchten, die als Zeugen Jehovas bekannt waren, und die sich als Brüder ausgaben, die von der Gesellschaft zu ihnen gesandt worden seien, um ihnen zu helfen und das Werk den veränderten Verhältnissen anzupassen. Doch die Brüder waren gut geschult; sie erkannten die Abgesandten sogleich als Spitzel.

In den folgenden Jahren ging die Zahl der Verhaftungen und Verurteilungen von Brüdern stark zurück. Im Jahre 1963 wurden nur 15 Zeugen Jehovas verhaftet und im Jahre 1964 9, wohingegen während dieser zwei Jahre 69 und 48 Brüder nach längerer Haftzeit entlassen wurden. Im Sommer des Jahres 1964 erlebten vier Brüder, die lange Jahre gefangengehalten worden waren, eine ungeahnte Überraschung. Sie waren ursprünglich zu lebenslanger Haft verurteilt worden, und nun wurden sie plötzlich entlassen und nach Westdeutschland abgeschoben. Sie trafen gerade rechtzeitig ein, um einen Kongreß mitzuerleben. Sie kamen sich wie Träumende vor. Nur wenige Tage zuvor waren sie in trostloser Haft in Ostdeutschland gewesen, wo man höchstens davon träumen konnte, sich einmal mit Brüdern in Freiheit zu versammeln. Und nun erlebten sie die plötzliche Erfüllung dieses heimlichen Herzenswunsches. Zwei dieser Brüder, Friedrich Adler und Wilhelm Engel, waren Glieder der Bethelfamilie in Magdeburg gewesen. Friedrich Adler war schon 1950 verhaftet und eingesperrt worden, zwei Monate bevor das Werk verboten wurde, während Wilhelm Engel einer derjenigen war, die bei dem Überfall auf das Bethel am 30. August 1950 verhaftet worden waren. Bruder Engel wurde an der Berliner Sektorengrenze wegen seines schlechten Gesundheitszustandes dem Roten Kreuz übergeben. Er wurde sofort in ein Krankenhaus gebracht, wo er einige Wochen später verstarb. Diese Brüder waren schon in der Zeit des Hitlerregimes bis zu 9 Jahre eingekerkert gewesen und hatten so wegen ihres Glaubens bis zu 23 Jahre Haft ertragen. Friedrich Adler nahm wieder den Betheldienst auf, diesmal in Wiesbaden. Er konnte auf ein langes, ereignisreiches Leben im Vollzeitdienst zurückblicken, denn er hatte schon in den 1920er Jahren als Pilgerbruder gedient. Durch die lange Haft geschwächt, beendete er seinen irdischen Lauf im Dezember 1970.

Im November 1964 holten die kommunistischen Behörden zu einem neuen Schlag gegen die Brüder in Ostdeutschland aus. Einige Zeit zuvor war die allgemeine Wehrpflicht für alle Bürger eingeführt worden. Die jungen Brüder hatten den Wehrdienst abgelehnt, wurden aber im allgemeinen nachsichtig behandelt, und ihre Einstellung wurde respektiert. Doch nun wurden frühmorgens im Schutz der Dunkelheit plötzlich 142 Brüder verhaftet. Diese überraschende Veränderung in der Behandlung ihrer Fälle war für diese jungen Brüder eine Glaubensprüfung. Sie wurden in ein Arbeitslager gebracht. Zuerst versuchte man, sie zu bewegen, den Dienst als „Bausoldaten“, eine Art Ersatzdienst für den Militärdienst, zu leisten, doch sie lehnten dies einmütig ab. Trotz Bestrafung blieben sie standhaft, und so gab man es auf, sie zu zwingen. Sie mußten nun schwere Arbeiten beim Gleisbau leisten und von 4 Uhr morgens bis 9 Uhr abends arbeiten. In ihrer Freizeit erhielten sie eine Schulung, in der man ihnen einreden wollte, die verantwortlichen Männer bei Jehovas Zeugen seien Spionageagenten des Westens. Die meisten dieser jungen Brüder hatten die Wahrheit erst in der Verbotszeit kennengelernt, und die Behörden waren erstaunt, trotz der massiven Bearbeitung der Jugend mit kommunistischen, atheistischen Ideen so viele junge Leute zu finden, die furchtlos für die Grundsätze des wahren Christentums eintraten.

Während des Jahres 1965 nahm die Beobachtung und Belästigung unserer Brüder durch Spitzel und Geheimpolizisten des Ministeriums für Staatssicherheit wieder stark zu. Bei vielen Familien wurden Haussuchungen durchgeführt, andere Brüder wurden auf der Straße abgefangen und zu Vernehmungen mitgenommen. Geheime Abhöranlagen wurden in Autos und Wohnungen, ja sogar in Schlafzimmern der Brüder eingebaut. Die Behörden bemühten sich, den Brüdern den Eindruck zu vermitteln, sie könnten keinen Schritt tun, ohne daß es die Behörden wüßten.

Natürlich gelang es den Behörden durch ihr stilles „Zuhören“, den arglos geführten Unterhaltungen der Brüder manche Einzelheiten zu entnehmen. Bei Verhören versuchten die Geheimpolizisten, den Anschein zu erwecken, sie hätten ihre Kenntnisse über das Werk aus der „kapitalistischen Welt“ erhalten, und unterschoben damit den Brüdern dort eine gewisse Gedankenlosigkeit. Dadurch wollten sie Zweifel und Mißtrauen gegen die leitende Körperschaft und gegen die Mitarbeiter in den Büros der Gesellschaft säen. Aber die Brüder ließen sich nicht erschüttern, und im Laufe der Zeit erkannten sie immer mehr, welch ein enges Spionagenetz man um sie gezogen hatte.

Dies wurde besonders offenbar, als eines Tages, im November 1965, im ganzen Land die Wohnungen von Brüdern von je acht Beamten besetzt und mehrere Stunden durchsucht wurden. Fünfzehn Brüder, die man für die Hauptverantwortlichen hielt, wurden festgenommen und zwischen 9 und 13 Monate in Untersuchungshaft gehalten, bis sie angeklagt und vor Gericht gestellt wurden. Im Jahre 1966 erhielten sie Freiheitsstrafen bis zu 12 Jahren, im Durchschnitt mehr als 7 Jahre.

Während diese Brüder wie Schwerverbrecher behandelt wurden, suchte die Geheimpolizei andere Brüder auf, die ebenso wie die verurteilten Brüder die gute Botschaft gepredigt und sich in kleinen Gruppen zur Anbetung Jehovas versammelt hatten. Sie unterbreitete ihnen das Angebot, sie könnten sich weiter in kleinen Gruppen versammeln, ihre biblische Literatur haben und auch mit ihren Brüdern in anderen Ländern die Verbindung aufrechterhalten, wenn sie bereit wären, dem Ministerium für Staatssicherheit über ihre Tätigkeit zu berichten und die Namen der daran Teilnehmenden zu nennen. Aber die Brüder lehnten das unaufrichtige Angebot der Behörden ab. Einem der Beamten entfuhr der Ausruf: „Wir dachten, wir hätten eure Führer weggenommen, doch haben wir jetzt nur euer Werk aus den Augen verloren.“

Im Laufe des Jahres 1969 wurden nach etwa vierjähriger Haft 14 der 15 Brüder, die bei der Kampagne im Jahre 1965 verhaftet worden waren, plötzlich entlassen. Die meisten wurden nach Westdeutschland abgeschoben. Der letzte dieser Gruppe wurde willkürlich noch ein Jahr länger, bis zum September 1970, im Gefängnis festgehalten.

Seitdem hat die Geheimpolizei ihre Taktik geändert, und gegenwärtig zieht sie mehr die reguläre „Volkspolizei“ und andere Einrichtungen des Staates heran, um den Brüdern Schwierigkeiten zu bereiten. In manchen Gegenden belegte die Polizei die Brüder wegen angeblicher Erregung öffentlichen Ärgernisses mit hohen Geldstrafen, wenn sie predigten oder sich versammelten. Einer Reihe Brüder gelang es, die Aufhebung dieser Geldstrafen zu erreichen, indem sie sich auf die verfassungsmäßig garantierte Freiheit des religiösen Bekenntnisses beriefen und eine Gegenüberstellung mit den Zeugen verlangten, die sich angeblich belästigt gefühlt hatten. Solche Zeugen gab es natürlich nicht.

An anderen Orten suchten die Behörden Druck auf die Brüder auszuüben, indem sie ihnen die Wohnung wegnahmen und ihnen schlechtere Wohnungen zuwiesen, eine geringer bezahlte weltliche Arbeit zuteilten und jüngeren Brüdern eine Fachausbildung für verschiedene Berufe versagten.

Ein junger Bruder hatte nur noch sechs Monate seiner Lehrzeit vor sich, als ihm befohlen wurde, an einer vormilitärischen Ausbildung teilzunehmen. Er lehnte dies aus Gewissensgründen ab. Sein Lehrvertrag war abgeschlossen worden, bevor die Teilnahme am vormilitärischen Schulungsprogramm zu einer gesetzlichen Pflicht gemacht worden war. Dennoch wurde sein Lehrvertrag aufgelöst, und er wurde fristlos entlassen. Seine Unterweiser und sein Meister gaben ihm das beste Zeugnis, aber sie konnten die Einstellung der politischgesinnten Personalfunktionäre nicht ändern. Der junge Bruder ist standhaft geblieben und vertraut darauf, daß Jehova für ihn sorgen wird, wenn er nun auch gezwungen ist, mit einem geringeren Lebensunterhalt als „ungelernter“ Arbeiter vorliebzunehmen.

Seit der Abschnürung des Werkes in Ostdeutschland durch den Bau der „Berliner Mauer“ im Jahre 1961 haben viele Tausende die gute Botschaft gehört, die Wahrheit kennengelernt, sich Jehova hingegeben und sich taufen lassen. Sie sind ein lebendiger Beweis dafür, daß Jehovas Geist nicht zurückgehalten werden kann, selbst wenn Menschen Mauern und Befestigungen errichten. So können Jehovas Zeugen in Ostdeutschland, die nun seit mehr als dreiundzwanzig Jahren unter Verbot und großen Schwierigkeiten leben und wirken, wie König David sagen: „Mit meinem Gott kann ich eine Mauer erklimmen.“ — Ps. 18:29.

ERFOLGREICHE PREDIGTFELDZÜGE

In Westdeutschland wurde in dieser Zeit immer wieder die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Königreichsbotschaft gelenkt. Der Wachtturm-Feldzug im Jahre 1949 legte eine Grundlage dafür, daß geistige Speise regelmäßig in die Wohnungen Zehntausender Personen gelangte. Jedem, der das Wachtturm-Studium besuchte, und allen interessierten Personen sollte Der Wachtturm im Abonnement angeboten werden. Wurde das Ziel erreicht? Im Dienstjahr 1949 wurden 59 475 Abonnements aufgenommen, eine Zahl, die seither nie wieder erreicht worden ist.

Der Straßendienst mit den Zeitschriften war eine weitere Methode, durch die die wichtige Botschaft von Gottes Königreich den Menschen vor Augen gehalten wurde. Auch diese Tätigkeit war der Geistlichkeit ein Dorn im Auge. Im katholischen Bayern wurden Versuche gemacht, den Straßendienst mit den Zeitschriften mit Hilfe der Vorschriften der Straßenverkehrsordnung zu unterdrücken. Man behauptete, religiöse Bevölkerungskreise fühlten sich belästigt. Aber die Geistlichkeit wurde zum Schweigen gebracht, als die Länder Bayern und Hessen im Jahre 1954 eine Anordnung an alle Polizeiorgane erließen, die besagte, daß der Missionsdienst, wie ihn Jehovas Zeugen ausüben, keiner gesetzlichen Einschränkung unterliegt.

In den Sommermonaten Juli und August des Jahres 1956 wurde ein besonderer Feldzug geplant, um alle nichtzugeteilten Gebiete durchzuarbeiten. Die Brüder gingen mit einer Begeisterung ohnegleichen an die Arbeit, und so wurden mindestens 80 Prozent des nichtzugeteilten Gebietes bearbeitet. In jenem Jahr gab es nur wenige Menschen in Westdeutschland, die nicht von einem Prediger der guten Botschaft aufgesucht wurden. Allerdings gab es auch Widerstand, besonders in den Landgebieten, wie dies aus folgendem Bericht hervorgeht: „Die ganze Ortschaft war voller Aufregung. Die Dorfjugend zog vor uns her, von Haus zu Haus, und meldete uns an, mit der Absicht, daß man uns abweise. Es war uns nicht möglich, auch nur ein Buch in dieser Ortschaft zu lassen.“

Eine Woche später arbeitete die gleiche Versammlung ein anderes Dorf in dieser Gegend durch. Die Verkündiger trafen sich am Bahnhof, betrachteten gemeinsam den Tagestext und besprachen, wie sie ihr Zeugnis einleiten wollten. Ein Mann stellte sich zu den Verkündigern und hörte zu. Ihm wurde Zeugnis gegeben, wie das Jehovas Zeugen sonst an den Türen der Menschen tun. Als der Bruder geendet hatte, holte der fremde Mann seinen Geldbeutel hervor und sagte: „Diese Bücher möchte ich haben.“ Wie es sich herausstellte, wohnte dieser Mann in dem Dorf, in dem eine Woche zuvor nicht ein einziges Buch abgegeben worden war. Trotz des Widerstandes in den Landgebieten, in denen die Geistlichkeit immer noch einen gewissen Einfluß auf die Dorfbevölkerung hatte, wurden während dieser beiden Monate 166 Prozent mehr Bücher und 60 Prozent mehr Zeitschriften abgegeben als während der gleichen Monate im Vorjahr.

Außer diesen Feldzügen gab es auch Feldzüge mit Traktaten und Broschüren. Anläßlich des internationalen Kongresses „Göttlicher Wille“, der 1958 in New York stattfand, wurde eine eindrucksvolle Resolution angenommen. Im Monat Dezember sollte sie weltweit verbreitet werden, und es wurden 70 Millionen Exemplare in 50 Sprachen gedruckt; 7 Millionen davon in Deutsch. Diese Traktate wurden den Wohnungsinhabern persönlich mit ein paar einleitenden Worten überreicht. Als die Priester in katholischen Gegenden erkannten, was unter ihren Gläubigen verbreitet wurde, warnten sie die Bevölkerung. Aber nach vier Wochen eifriger Tätigkeit war die Freude und der Jubel groß, denn dies war eine gute Gelegenheit gewesen, Neue in den Predigtdienst einzuführen, und die meisten Versammlungen konnten eine Mehrung an Verkündigern von 10 bis 50 Prozent berichten, so daß im ganzen Land ein Wachstum von 11,6 Prozent erreicht wurde.

„DIE ZUNGE DER BELEHRTEN“ ERHALTEN

Während immer mehr willige Arbeiter in die Organisation strömten, sorgte Jehova durch seine Klasse des „treuen Sklaven“ dafür, daß alle, alt und jung, die notwendige Schulung erhielten. Das Ergebnis war, daß seine Diener „die Zunge der Belehrten“ erhielten. (Jes. 50:4) Dies war ein Faktor, der ebenfalls zur Ausdehnung beitrug. Auch die Welt hat die Auswirkungen, die diese Schulung auf Jehovas Zeugen hat, zur Kenntnis genommen. Eine Zeitung berichtete zum Beispiel, daß der elfjährige Ingo Rücker einen Vorlesewettbewerb in Recklinghausen gewann. „Überrascht sein werden nur Außenstehende, denn im Grunde war sein Sieg gar nicht zu verhindern. Pluspunkte für diesen Wettbewerb hatte der elfjährige Ingo Rücker bereits seit drei Jahren gesammelt: in der Predigtdienstschule der Zeugen Jehovas. ... An der Josef-Schule erwies er sich als der beste Leser, allerdings erst in einem Stechen mit einem Mädchen, das ebenfalls die Predigtdienstschule besucht.“ Ein Kreisaufseher schrieb nach seinem Besuch in der Versammlung Lörrach: „Am Dienstagabend hatten wir in der Predigtdienstschule ein besonderes Erlebnis. Als die Aufgaben der Schwestern gelöst wurden, bestieg ... eine ältere Schwester das Podium. Sie hat nicht nur ein fließendes Gespräch geführt, und zwar vollkommen ohne Notizen, nur mit der Bibel in der Hand, sondern sie hat auch alle Regeln beachtet. Als wir die Schwester nach ihrem Alter fragten, sagte sie uns, daß sie vor wenigen Wochen 90 Jahre alt geworden sei.“

Als eine wichtige Einrichtung in dieser fortschreitenden Schulung begann am 13. November 1960 die erste Klasse der Königreichsdienstschule, die den Aufsehern der Versammlungen eine fortgeschrittene Schulung vermitteln sollte. Heute gibt es drei Schulen: eine in Wiesbaden, eine in Hamburg und eine in München.

1948 — UND ZWANZIG JAHRE DANACH

Es gab Jahre, in denen die Zahl der Verkündiger der guten Botschaft beachtlich wuchs, aber auch einige Jahre ohne Mehrung. Das Dienstjahr 1948 endete mit einer 83prozentigen Zunahme. Der monatliche Durchschnitt im Zeiteinsatz betrug 16 Stunden pro Verkündiger. Die Mehrung hielt in den folgenden Jahren an; 1949 gab es eine 33prozentige, 1950 eine 23prozentige und 1951 eine 26prozentige Zunahme.

Unterdessen hielten auch die wirtschaftlichen Spannungen und Schwierigkeiten an, und die Zahl der Arbeitslosen stieg bis Mitte Februar 1950 auf über zwei Millionen. Gegen Ende September 1952 betrug die Zahl der Arbeitslosen immer noch 1 249 000. Von da an ging die Arbeitslosenziffer zunächst langsam, dann aber immer schneller zurück.

Es wurde auch eine andere Änderung offenbar. Die Zahl der aktiven Versammlungsverkündiger wuchs weiterhin von Jahr zu Jahr, aber die Zahl der Vollzeitprediger der guten Botschaft hielt nicht Schritt. Im Gegenteil, 1955 gab es 200 Pioniere weniger als 1950, während es 21 641 Verkündiger mehr gab, fast zweimal soviel wie 1950. Der Tiefstand in dieser Entwicklung wurde 1956 erreicht; während 1950 4,4 Prozent aller Verkündiger im Vollzeitdienst standen, waren es jetzt nur noch 1,6 Prozent.

Im Laufe der Zeit wurde Deutschland eine Wohlstandsnation. Es gab nun wieder Vollbeschäftigung, und es kam zu dem vielgepriesenen „Wirtschaftswunder“. Diese Entwicklung beeinflußte das Denken einiger, die mit Jehovas Zeugen verbunden waren. Von April bis Juli 1963 gab es einen Rückgang in der Zahl der Verkündiger und in der Zahl der Stunden, die im Predigtdienst verbracht wurden. Im Juli waren 6 000 Verkündiger weniger tätig, und es wurden über 40 000 Stunden weniger im Predigtwerk eingesetzt als im April.

Die Mehrheit der Brüder beharrte natürlich im Dienst und konnte auch den Segen ihrer Arbeit verspüren. Von 1965 bis 1967 wurden 9 325 Personen getauft, aber der Durchschnitt der Verkündigerzahl im Jahre 1967 war nur um 400 höher als im Jahre 1965, während die Verkündiger-Höchstzahl um 437 Verkündiger niedriger lag. Offensichtlich hatten einige Verkündiger aufgrund ihres Verlangens nach materiellen Dingen ihre Hände erschlaffen lassen und in ihrem Eifer nachgelassen, indem sie den Dingen, die die Welt zu bieten hatte, mehr Raum gaben. Andere wurden sogar untätig. Außerdem mußte im Dienstjahr 1964 569 Personen die Gemeinschaft entzogen werden, meistens wegen Unsittlichkeit. Nur 95 Personen baten darum, wiederaufgenommen zu werden.

Das Dienstjahr 1968 sah dann eine Wendung. Der harte Kampf, der gegen den Materialismus geführt wurde, trug dazu bei, daß die Verluste nicht mehr so hoch waren wie sonst. Auf allen Gebieten waren gute Zunahmen zu verzeichnen. Wir hatten nun 466 Sonderpioniere, die Zahl der allgemeinen Pioniere war auf 2 651 gestiegen, und wir erreichten eine Höchstzahl von 7 163 Personen, die irgendwann während des Jahres im Vollzeitpredigtwerk dienten. Das Dienstjahr endete mit einer 3prozentigen Mehrung, nachdem es drei Jahre lang überhaupt keine Mehrung gegeben hatte. Von nun an ging es wieder aufwärts.

Vom 4. Juli bis zum 11. August 1968 hatten wir elf Bezirkskongresse. Dabei wurde das Buch Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt freigegeben. Dank der Hilfe des Brooklyner Büros konnte jedem Verkündiger ein eigenes Exemplar übergeben werden und darüber hinaus fünf weitere Exemplare zur Verbreitung. Bei dem Feldzug im August wurden 139 471 Bücher abgegeben — eine neue Höchstzahl. Die Nachfrage war groß. Bis Ende März 1973 druckten wir in unserer Fabrik in Wiesbaden 2 900 115 Exemplare in Deutsch und 1 715 338 in vier weiteren Sprachen. Wegen seiner Wirkung und der blauen Farbe wurde das Buch von vielen bald „die blaue Bombe“ genannt.

Schon bei den nächsten Kreiskongressen konnten interessante Erfahrungen in Verbindung mit der Wirksamkeit dieses Buches erzählt werden. Eine Schwester berichtete: „Als wir auf dem Bezirkskongreß unser Wahrheits-Buch erhielten, ahnte ich noch nicht, welch ein kostbares Bibelstudienhilfsmittel wir in die Hände bekamen. Einmal begann ich in unserem Ort beim Haus-zu-Haus-Dienst die Leute zu fragen, ob sie bereit wären, mit mir mittels dieses Buches in kurzer Zeit die Grundlehren der Bibel kennenzulernen. Und wie erstaunt war ich, als ich zu einer sehr religiösen Dame kam, von der man wußte, daß sie und ihre Schwester den Kirchenchor leiteten, und sie mir erklärte: ,Es war schon immer mein Wunsch, die Bibel kennenzulernen. Ich hatte nie die Gelegenheit dazu, und ich freue mich, daß Sie bereit sind, mir zu helfen.‘ Ich konnte es kaum fassen. Jetzt studiert sie schon zwei Monate regelmäßig und macht wunderbare Fortschritte. ... Eine sehr angesehene und begüterte Frau war ebenfalls bereit, mit mir die Bibel zu studieren. Letzte Woche sagte sie mir: ,Dieses Buch spricht wirklich für sich. So ein gut verständliches Buch habe ich noch nie gelesen.‘ Nun wurde eine wahre Kettenreaktion ausgelöst. Voll Eifer ging ich zu meinen Nachbarn, um auch ihnen zu helfen. Eine Frau hat diesen Monat begonnen zu studieren, und nicht weniger als vier Personen warten darauf, daß eine neue Sendung Bücher eintrifft und sie einen passenden Zeitpunkt ausmachen können. ... Ich kann sagen, in unserem Dorf spricht es sich herum, daß es modern ist, mit Jehovas Zeugen die Bibel zu studieren.“

Mit diesem Buch war es nun leichter geworden, Heimbibelstudien einzurichten, was man daran erkennen kann, daß 1969 die Zahl der Bibelstudien auf 47 691 anstieg. Während dieses Jahres wurden 6 678 Personen getauft. Das war das beste Resultat seit 1955. Im Mai 1970 erreichten wir 86 222 Verkündiger und damit nicht nur die fünfte aufeinanderfolgende Höchstzahl, sondern es war auch das erstemal, daß wir im Mai mehr Verkündiger hatten als im Vormonat April. Im Oktober jenes Jahres erreichten wir eine weitere Höchstzahl, diesmal 86 489 Verkündiger. Dies bedeutete eine Zunahme von 7 718 Verkündigern im Vergleich zur Verkündigerzahl des Jahres 1968. Diese schnelle Zunahme spiegelte den Segen Jehovas wider, den er seinen irdischen Dienern schenkt. Bestimmt hatte das Wahrheits-Buch keinen geringen Anteil an dieser Mehrung.

KONGRESSE TRAGEN WESENTLICH ZUM ZEUGNIS BEI

Kongresse haben wesentlich dazu beigetragen, daß Jehovas Name in Deutschland bekanntgemacht worden und die Zahl der Königreichsverkündiger gewachsen ist. Von dem ersten Nachkriegskongreß in Nürnberg, der von 9 000 Personen besucht wurde, und dem Kongreß in Kassel im Jahre 1948 an bis zu den Kongressen der neueren Zeit mit über 100 000 Anwesenden gab es viele organisatorische Änderungen, und es mußten viele Probleme gelöst und neue Ideen entwickelt werden.

Vom 24. bis 26. August 1951 versammelten sich in Frankfurt (Main) Delegierte aus vierundzwanzig Ländern, um den Kongreß „Reine Anbetung“ zu erleben. Aber bevor sich am Freitagmorgen 34 542 Delegierte versammeln konnten, mußten noch große Probleme gelöst und bange Stunden durchlebt werden. Wieso? Eine städtische Großküche hatte zuerst zugesagt, das Essen zu liefern, doch je näher die Zeit des Kongresses heranrückte, desto weniger war sie bereit, für uns zu kochen. Was sollte man tun? Die Gesellschaft kaufte 51 große Kochkessel, die 300 Liter faßten, einige davon für Gas-, andere für Kohlenfeuerung und einige für Dampfbetrieb, und baute ihre eigene Küche. Alle Kessel für Gasfeuerung umzubauen war nicht möglich, weil kein passendes Material vorhanden war, und so mußten alle Kessel für Dampfbetrieb umgebaut werden. Viele Tage Schweißarbeit waren notwendig, um die Rohrleitungen herzustellen, deren Material man nur mühsam bei den Schrotthändlern erwerben konnte. Manche Kesselwände waren dünn wie Papier, und auf diese Stellen wurden Flicken aufgeschweißt. Die nächste große Frage war, woher man den nötigen Dampf beschaffen sollte. Wir verhandelten mit der Eisenbahnverwaltung, und es wurde uns eine Lokomotive zur Verfügung gestellt, die auf einem unbenutzten Nebengleis abgestellt wurde. Diese Lokomotive gab jedoch keinen Dampf für Niederdruck, und so mußten wir einen Weg finden, den Dampfdruck auf ein Vierundzwanzigstel seiner sonstigen Stärke zu reduzieren. Schließlich wurde das Problem gelöst, der Dampf wurde eingeschaltet, und innerhalb von fünfzehn Minuten waren die Dampfkessel fertig zur Benutzung. Die Presse war über das erstaunt, was wir geleistet hatten. Ihre Berichte und die eifrige Predigttätigkeit der Brüder trugen dazu bei, daß 47 432 Personen anwesend waren, um Bruder Knorrs öffentlichen Vortrag „Ist die Religion der Weltkrise gewachsen?“ zu hören.

Das große Ereignis des Jahres 1953 war zweifellos der „Neue-Welt-Gesellschaft-Kongreß“ in New York. Wie begeistert waren doch die 284 Brüder aus Deutschland, die dabeisein durften! Der New Yorker Kongreß fand sein Gegenstück in Deutschland in den beiden Kongressen in Nürnberg für Westdeutschland und eine Woche darauf in Berlin für die Brüder dort und in Ostdeutschland. In Nürnberg wurden 38 Zelte für Massenunterkünfte und über 1 000 Privatzelte aufgestellt. Außerdem wurden Privatunterkünfte gesucht, und das brachte für die Geistlichen der Stadt Probleme mit sich. Das Nürnberger Evangelische Gemeindeblatt druckte einen Artikel mit der Überschrift „Vorsicht beim Kongreß der Zeugen Jehovas“. Es hieß dort auszugsweise: „Ein besonderes Problem ist dadurch entstanden, daß einige evangelische Gemeindeglieder von Nürnberg in gutem Glauben Freiquartiere für auswärtige ,Zeugen Jehovas‘ zur Verfügung gestellt haben. Wer das getan hat, ist meist schon von den Pfarrämtern gebeten worden, diese Einladung zurückzuziehen.“ Aber dies wirkte wie ein Bumerang. Viele Personen boten uns daraufhin noch bereitwilliger Unterkünfte an. Das war wirklich ein Problem für die Geistlichkeit!

Zwei Jahre später fand in der gleichen Stadt auf demselben Gelände, der Zeppelinwiese, der große internationale Kongreß „Triumphierendes Königreich“ statt. Es war ein sehr eindrucksvoller Kongreß; zweiundsechzig Nationen waren vertreten. Eine außergewöhnliche Bühne beherrschte das riesige Zeppelinfeld. Die Steintribüne war 300 Meter lang, und eine Treppenflucht von 75 Stufen führte zu einer Säulenhalle mit 144 Säulen empor.

Außer den Unterkünften in Hotels und Privatwohnungen gab es eine riesige Zeltstadt für Massenunterkünfte, in der 37 000 Personen untergebracht werden konnten. Es wurden große Zelte, in denen je 600 Personen schlafen konnten, aufgestellt. Strohsäcke dienten als Matratzen.

Am Freitagmorgen fand eine Massentaufe statt, und 4 333 Personen symbolisierten ihre Hingabe durch die Wassertaufe. Unter diesen neuen Brüdern befanden sich einige aus Ostdeutschland, denn über 4 000 waren von dort gekommen. Am Freitagabend hörten die Kongreßbesucher eine Sendung eines von Kommunisten kontrollierten Rundfunksenders in Ostdeutschland, in der die Drohung ausgesprochen wurde, alle Zeugen Jehovas aus Ostdeutschland, die die internationalen Kongresse in Nürnberg und Berlin besuchten, würden bei ihrer Rückkehr verhaftet werden. Aber die Tausende von Brüdern aus Ostdeutschland ließen sich dadurch nicht erschrecken.

Wie gut wurde der groß angekündigte Vortrag Bruder Knorrs besucht? In der Zeitschrift Neue Illustrierte vom 20. August konnte man lesen: „Das ,Zeppelinfeld‘, auf dem Hitler einst die Ausrottung der ,Zeugen Jehovas‘ proklamierte, war voll besetzt.“ Tatsächlich hörten 107 423 Personen aufmerksam dem Thema „Weltbesiegung nahe — durch Gottes Königreich“ zu. Mehr als 20 000 Nürnberger waren erschienen. Gerade als der Präsident anfing, seine „Schlußgedanken“ zu äußern, fing es an zu regnen, ja zu gießen, aber die Zuhörer blieben auf ihren Sitzen, und als Bruder Knorr zu sprechen aufhörte, hatte es auch aufgehört zu regnen. Dann geschah etwas, was diejenigen, die damals dabei waren, nie vergessen werden. Am Himmel erschien ein gewaltiger Regenbogen. Welch ein erhebender Anblick! Zum Abschied winkte Bruder Knorr mit seinem Taschentuch, und als Antwort verwandelte sich die ganze Menge in etwas, was einem Feld wogender weißer Blumen glich. Viele hatten Tränen in den Augen. Im Glauben gestärkt und für den künftigen Dienst besser ausgerüstet, traten die vielen tausend Besucher ihre Heimreise an.

Der nächste große internationale Kongreß fand 1961 in Hamburg, der größten Hafenstadt Deutschlands, statt. Doch dieser Kongreß verursachte nicht wenig Kopfzerbrechen. Das Hauptproblem war das Kongreßgelände, das nichts weiter als eine große Rasenfläche (80 000 Quadratmeter) in Hamburgs größtem Park war. Der Kongreß begann bei strömendem Regen, und die Festwiese verwandelte sich bald in Matsch und Schlamm. Und es regnete weiter — vom ersten bis zum letzten Tag. Es war begeisternd zu sehen, wie dennoch jeden Tag Zehntausende zum Kongreßgelände strömten und dem Programm unter einem Wald von Regenschirmen lauschten. Ja, zum großen Erstaunen anwesender Zeitungsreporter und Kameraleute wurde der Kongreß durch Regen und Schlamm nicht ernsthaft beeinträchtigt. Die Hamburger Morgenpost schrieb: „Sie sehen fast alle fröhlich aus, auch in Schlamm und Regen, das muß man ihnen einräumen. Sie sind bunt bekleidet. Erstaunlich viele junge Menschen sind unter ihnen. ...“ Ein Polizeibeamter erklärte einem Vertreter des Kongreßbüros: „Wenn es auch die größte Versammlung ist, die bis jetzt in Hamburg stattgefunden hat, sind wir doch nicht in Sorge über ihren reibungslosen Verlauf. Wir wissen, daß Sie auch ohne Polizei auskommen, aber wir meinen, daß es für unsere Beamten eine gute Schulung ist, und hoffen deshalb, daß Sie nichts dagegen haben, wenn sie unter Ihnen sind.“

Dies war die letzte Gelegenheit für unsere ostdeutschen Brüder, einen Kongreß zu besuchen. Einige Tausend von ihnen waren anwesend. Ein paar Tage später wurde die „Berliner Mauer“ gebaut, und der Eiserne Vorhang wurde nun dichter denn je.

Der Regen spielte dem Rasen des Parks übel mit, aber nachdem der Kongreß vorüber war, füllten Brüder das ganze Gelände wieder mit Humusboden auf und säten es neu ein. Nun wurde der Park schöner als vorher, und dies zum Vorteil der Behörde und der Hamburger Bevölkerung. Das Herrichten der Stadtparkwiese und auch das Ausharren unserer Brüder während der Regentage hinterließen bei der Hamburger Bevölkerung einen nachhaltigen Eindruck.

Im Jahre 1963 ging der Kongreß „Ewige gute Botschaft“ rund um die Welt. In Deutschland sollte er in München, der Hauptstadt Bayerns, stattfinden. Als „Königreichssaal“ diente ein Teil der Theresienwiese, bekannt durch das alljährliche Oktoberfest. Das Kongreßgelände war einen Kilometer lang und einen halben Kilometer breit. An den Seiten wurden Tribünen gebaut, 14 Sitzreihen hoch, mit 25 892 Sitzplätzen. In der Mitte des Platzes gab es dann noch 78 800 Plätze auf Stühlen und Bänken, und so standen insgesamt 104 692 Sitzplätze zur Verfügung. Das Programm wurde in Deutsch, Französisch und Niederländisch dargeboten, da auch die Brüder aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden nach München eingeladen worden waren. Für sie wurden große Säle auf dem nahe gelegenen Ausstellungsgelände zur Verfügung gestellt.

Die Vorbereitungsarbeiten wie auch der Kongreß selbst hinterließen in München einen tiefen Eindruck, auch bei den Geschäftsleuten und bei den Behörden. Ein Polizeiobermeister, der auf dem Kongreßgelände Dienst tat, erzählte einem Bruder: „Wissen Sie, ich bin gern hier. Ich fühle mich hier wohl. Wenn man Ihren Leuten in die Augen schaut — diese Offenheit gefällt mir. Das ist ganz im Gegensatz zu dem Eucharistischen Kongreß, der vor zwei Jahren hier stattfand.“ Gegenüberstellungen dieser Art wurden oft von aufrichtigen Beobachtern gemacht und auch freimütig geäußert. Solche Eindrücke verblassen nicht so schnell. Drei Jahre später erzählte ein Münchner Geschäftsmann einem Bruder, daß seine Kollegen in einem großen Münchner Kaufhaus bei jeder Großveranstaltung in München ein gewaltiges Ansteigen der Kaufhausdiebstähle beobachtet hatten. Sie waren auch bei unserem Kongreß darauf gefaßt und stellten mit Erstaunen fest, daß sich der Kongreß in dieser Hinsicht überhaupt nicht auswirkte. Das war ihnen ein Rätsel. So half der Kongreß „Ewige gute Botschaft“ ebenso wie alle früheren Kongresse, Jehovas Namen und sein Vorhaben zu verkündigen und sein Volk bekannt zu machen.

DIE GUTE BOTSCHAFT MUSS MENSCHEN ALLER NATIONEN GEPREDIGT WERDEN

Deutschland ist nur ein Teil des weltweiten Feldes, auf dem die gute Botschaft gepredigt werden muß. (Mark. 13:10) Die Wachtturm-Bibelschule Gilead hat sich als eine erfolgreiche Einrichtung erwiesen, Missionare auszubilden und sie in verschiedene Teile dieses weltweiten Feldes zu senden. Der erste Gileadabsolvent, der nach Deutschland geschickt wurde, Filip Hoffmann, traf 1949 ein.

Vier weitere folgten im Jahre 1951. Wenn sie heute zurückblicken, denken sie oft mit Schmunzeln daran, wie Bruder Frost empfunden haben muß, als sie im Bethel auftauchten. Er hatte Bruder Knorr gebeten, einige Absolventen nach Deutschland zu schicken, damit sie bei dem Werk helfen könnten. Aber als er die vier sah, müssen sie ihm wie Jungen erschienen sein, denn sie waren alle Anfang Zwanzig. In den darauffolgenden Jahren erhielten schließlich insgesamt 13 ausländische Missionare eine Zuteilung für Deutschland. 11 von ihnen sind immer noch in verschiedenen Ländern im Vollzeitdienst tätig (eine Missionarin starb 1972 nach zwanzig Jahren treuen Dienstes in ihrer Zuteilung), und 9 von diesen 11 sind immer noch in Deutschland tätig, entweder im Bethel oder im Reisendendienst. 3 von ihnen kamen 1956 aus der Schweiz, als die Übersetzungsabteilung von Bern nach Wiesbaden verlegt wurde, und sie dienen immer noch in dieser Eigenschaft.

Alice Berner gehört zu dieser Gruppe langjähriger Vollzeitdiener. Wir wollen kurz hören, welche interessante Laufbahn sie gehabt hat: „Im Januar 1924 begann ich meinen Vollzeitdienst in der Schweiz als Pionier. Schon nach etwa sechs Monaten wurde ich aber in das Bethel in Zürich gerufen. Bald folgte die Versetzung ins neue Bethelheim nach Bern. Dort arbeitete ich im Laufe der Jahre in verschiedenen Abteilungen. Im Jahre 1932 führte mich eine neue Zuteilung nach Paris, doch wurde mein Dienst dort oft unterbrochen, da ich bisweilen das Land verlassen und einige Zeit in Belgien als Pionier tätig sein mußte, weil die Behörden in Frankreich mir kein Dauervisum gaben. Auf diese Weise blieb ich etwa drei Jahre in Paris. Im Jahre 1935 nahm die Gesellschaft an der Weltausstellung in Brüssel teil, und so erhielt ich das Vorrecht, an ihrem Literaturstand zu dienen. Von Brüssel wurde ich nach Bern zurückgerufen, wo ich zehn Jahre diente, bis im Jahre 1946 der großartige Ruf an mich erging, die achte Klasse Gileads zu besuchen. Danach hieß es: Wieder zurück in die Schweiz, wo ich weitere zehn Jahre freudigen Dienstes verbrachte, worauf drei von uns eine neue Zuteilung nach Deutschland erhielten. Ich möchte Jehova danken für all seine Güte mir gegenüber, denn er hat mich ein glückliches und reiches Leben haben lassen, erfüllt mit wunderbaren Gelegenheiten in seinem Dienste.“ Schwester Berner dient noch heute zur Ermunterung der Bethelfamilie, während sie unermüdlich als Übersetzerin tätig ist.

Die Missionare, die nach Deutschland gesandt wurden, waren für viele deutsche Brüder ein Ansporn, ebenfalls den Wunsch zu entwickeln, die Gileadschule zu besuchen und den Missionardienst aufzunehmen. Bis jetzt haben 183 Brüder und Schwestern aus Deutschland die Gileadschule absolviert. Davon kehrten 29 in ihr Heimatland als Sonderpioniere, reisende Diener oder als Glieder der Bethelfamilie zurück, während die anderen in vielen Ländern der Erde eine neue Heimat fanden.

Für diejenigen, die daran interessiert waren, die Gileadschule zu besuchen, wurde eine besondere Vorkehrung getroffen, die ihnen helfen sollte, ihre Englischkenntnisse zu verbessern. Bis zum Frühling des Jahres 1973 gab es 16 englischsprachige Versammlungen in Deutschland mit insgesamt 450 Verkündigern und 130 Vollzeitdienern. Diejenigen, die sich auf Gilead vorbereiten, werden diesen Versammlungen zugeteilt, wo sie an den Zusammenkünften teilnehmen und im englischsprachigen Gebiet in den Predigtdienst gehen können. Seit der Gründung der ersten englischen Versammlung in Wiesbaden im Jahre 1967 sind rund 250 Personen getauft worden.

In den letzten Jahren sind etwa fünfundneunzig Sonderpioniere aus Deutschland in europäische oder in afrikanische Länder geschickt worden, um dort ihre Tätigkeit als Sonderpioniere fortzusetzen. Einige waren bereit, im Auslandsgebiet zu arbeiten, obwohl sie die Fremdsprache, die sie dort benötigen würden, nicht beherrschten. Sie waren jedoch willens, besondere Anstrengungen zu unternehmen, um eine neue Sprache zu lernen, um so in Ländern dienen zu können, in denen ihre Hilfe benötigt würde. Vier Sonderpioniere erhielten zum Beispiel im Bethel Wiesbaden einen einwöchigen Schnellkurs in Französisch, bevor sie nach Tschad (Afrika) geschickt wurden. Sie mußten dort natürlich weiterlernen, aber sie waren bald in der Lage, sich zu verständigen, und konnten ihren Dienst unter der glühenden Sonne Afrikas fortsetzen.

Seit einigen Jahren ziehen sehr viele Menschen aus anderen Ländern nach Deutschland. Wegen des großen wirtschaftlichen Aufschwungs beschloß die Regierung, ausländische Arbeiter ins Land zu holen, und die guten Löhne, die ihnen angeboten wurden, lockten manch einen „Gastarbeiter“ an. Im Jahre 1962 waren hier schon 700 000 Personen aus Italien, Jugoslawien, Griechenland, der Türkei, Spanien und Portugal beschäftigt. In den meisten dieser Länder kann das Predigtwerk nur unter großen Schwierigkeiten durchgeführt werden. Dies war daher für uns ein neues Betätigungsfeld, das sich immer weiter vergrößerte. Die Statistik für September 1972 zeigte, daß zu jener Zeit 2 352 392 Ausländer in Deutschland beschäftigt waren. Davon waren zum Beispiel 474 934 aus Jugoslawien und 511 104 aus der Türkei gekommen.

Viele Brüder waren bereit, Fremdsprachen zu erlernen, um so diesen Menschen helfen zu können, die Königreichsbotschaft zu hören und zu verstehen. Der Hunger nach der Wahrheit war unter diesen Gastarbeitern wirklich groß, und es gibt viele interessante Erfahrungen. Ein Kreisaufseher berichtet, daß er sich etwas spanische Literatur besorgt hatte und innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeit über 100 Broschüren und 6 Bücher abgeben konnte. Er sagt: „Die meisten Spanier, denen ich die Broschüren anbot, nahmen gleich alle 15 verschiedenen Broschüren, die ich zur Verfügung hatte.“

Bald wurden fremdsprachige Versammlungen gegründet, zuerst eine griechische Versammlung in München am 1. Mai 1962. Bis Mai 1973 gab es 1 560 griechisch sprechende Verkündiger, die in zwei Kreise aufgeteilt waren. Die erste spanische Versammlung wurde 1964 in Frankfurt gegründet und die erste italienische Versammlung in Köln. Bis zum Sommer des Jahres 1973 war der spanische Kreis auf 660 Verkündiger angewachsen, und der italienische Kreis berichtete 1 000 Verkündiger plus 45 Vollzeitdiener. Wir haben auch türkische und jugoslawische Gruppen. Für viele hat sich das „wirtschaftliche Paradies“, das sie in Deutschland gesucht hatten, als ein noch viel wertvolleres, als ein „geistiges Paradies“, erwiesen.

Viele unserer neuen Brüder kehrten, nachdem sie die Wahrheit kennengelernt hatten, in ihr Heimatland zurück, erfüllt von dem Wunsch, ihrer Familie und ihren Nachbarn die Wahrheit zu bringen. Zum Beispiel ließ sich ein Bruder aus Sizilien im Oktober 1965 in Köln taufen. Im Dezember besuchte er seine Familie und sprach natürlich mit ihr und mit all seinen Verwandten und Bekannten über die Wahrheit. Gegen Ende April 1966 mußte er nach Deutschland zurückkehren, um seinen Paß stempeln zu lassen. Aber er berichtete, daß er vier Personen gefunden habe, die so sehr an der Wahrheit interessiert seien, daß er sofort nach Hause zurückkehren müsse, um das Studium mit ihnen fortzusetzen. Sein Ziel war es, dort ein Versammlungsbuchstudium einzurichten. In dem Dorf war bis dahin noch nie gepredigt worden. Der nächste Zeuge Jehovas wohnte etwa 100 Kilometer entfernt.

AUSDEHNUNG — VOM STANDPUNKT DER BETHELFAMILIE AUS GESEHEN

Das Zweigbüro der Watch Tower Society in Wiesbaden hat zufolge der Arbeit, die Jehovas Zeugen in ganz Deutschland leisten, sehr viel zu tun. Da die Literatur dort hergestellt wird, sind die Brüder an der Arbeit interessiert, die dort verrichtet wird, und viele kommen, um das Bethelheim und die Fabrik zu besichtigen. Der Bruder, der in der Anmeldung arbeitet, wird dir sagen können, daß besonders an Feiertagen Tausende von Besuchern das Bethelheim und die Fabrik besichtigen. Einmal kamen mehr als 4 000. Einundfünfzig Busse standen damals auf der Straße. Auch Brüder aus dem Ausland machen hier gern halt, um uns zu besuchen. Einmal nahm ein Herr an einer Führung teil und wurde anschließend zu einem Bibelstudium ermuntert. Ein Briefwechsel entstand zwischen einem Bethelmitarbeiter und diesem gewissen Herrn, der dann später die Wahrheit annahm, getauft wurde, den Vollzeitdienst aufnahm und heute als Kreisaufseher dient.

Diejenigen, die im Bethel leben und arbeiten, haben sich im Laufe der Jahre vieler Segnungen erfreut. Sie haben gesehen, wie die Räumlichkeiten der Gesellschaft vergrößert wurden, wie neue Arbeiten in Angriff genommen und wie besondere Tätigkeiten vorbereitet wurden — und es ist ihr Vorrecht gewesen, sich im Zentrum all dieser Tätigkeit zu befinden. Manchmal sind auch andere gebeten worden auszuhelfen. Im Winter 1951/52 zum Beispiel wurde ein neues Druckereigebäude angebaut. Die Brüder arbeiteten den ganzen Tag und manchmal bis in die Nacht, und das bei Schnee, Regen und Wind. Ungefähr zwanzig Brüder wurden ins Bethel gerufen, um mitzuhelfen. Abends, nach der regulären Arbeitszeit, beteiligten sich noch viele Glieder der Bethelfamilie an den Bauarbeiten.

Groß war dann die Freude, als vom Schweizer Zweigbüro in Bern eine Rotationsmaschine eintraf. Aber das war nicht irgendeine Rotationsmaschine! Es war die erste Presse, mit der damals, im Jahre 1928, im Zweigbüro Magdeburg Bücher gedruckt wurden. Nach dem Verbot durch die Nationalsozialisten wurde sie nach Prag (Tschechoslowakei) transportiert, und von dort wurde sie ein paar Jahre später nach Bern gebracht, damit sie nicht den Nationalsozialisten in die Hände fiel. Nun wurde sie ins deutsche Zweigbüro zurückgebracht, und auch heute druckt sie trotz ihres Alters immer noch Bücher oder bis zu 7 000 Zeitschriften in der Stunde.

Ein anderer Grund zur Freude war das Erscheinen der Zeitschrift Erwachet! als 32seitige Ausgabe am 8. Januar 1953. Mit dieser Ausgabe begann die Verbreitung der Zeitschrift Erwachet! in Deutschland. Sie trug sehr dazu bei, den Eifer der Brüder im Zeitschriftendienst zu mehren.

Das Bethelheim in Wiesbaden dehnte sich weiter aus. Im Jahre 1956 wurde eine Höchstzahl von 50 530 Verkündigern erreicht, die etwa 1,3 Millionen Schriften verbreiteten. Im darauffolgenden Dienstjahr betrug die Verkündiger-Höchstzahl 56 883. Ende November 1956 kam Bruder Knorr zu einem kurzen Besuch von weniger als 24 Stunden nach Wiesbaden. Der Grund? Er selbst gab die Erklärung, wie es in seinem Bericht, der im Wachtturm vom 1. Juli 1957 veröffentlicht wurde, nachzulesen ist: „Auch dieser Besuch diente dem Zweck, mich mit dem Ausdehnungsproblem zu beschäftigen. Unser Bethelheim und die gegenwärtige Druckerei sind zu klein geworden. Ein Bruder, der Architekt ist, wurde herbeigerufen. Mit ihm arbeiteten wir den ganzen Tag am Entwurf für eine vergrößerte Druckerei und ein vergrößertes Bethelheim. Die Gesellschaft konnte von der Stadt Wiesbaden ein Grundstück kaufen, und nach eingehender Diskussion willigte die Stadtbehörde ein, eine Straße zu verlegen, so daß wir unser neues Gebäude direkt an das schon bestehende anbauen können, wobei die Straße außerhalb unseres neuen Gebäudes zu liegen kommt. ... Der Bau wird groß genug sein, damit noch einige neue Druckpressen, die jetzt im Bau begriffen sind, darin untergebracht werden können, und die vorgesehene Höhe des Baues wird uns reichlich ... [Spielraum] lassen.“

Statt des sonst üblichen Richtfestes mit reichlich alkoholischen Getränken wurde für die Bauarbeiter und die Bauleitung ein schmackhaftes Mahl zubereitet und im Speisesaal des Bethelheimes serviert. Sie wurden von unseren Brüdern bedient und saßen an weißgedeckten Tischen. Sie hörten eine Ansprache, in der der Zweck des Gebäudes, die Tätigkeit der Zeugen Jehovas im allgemeinen und auch die Finanzierung des Baues erklärt wurde. Einige Glieder der Bethelfamilie boten ein Musikprogramm. Die meisten Gäste bekamen dadurch eine ganz andere Meinung über Jehovas Zeugen und über ihre Tätigkeit. Das gute Essen und die Tatsache, daß sie alle gleich behandelt wurden, waren etwas, worüber die Bauarbeiter in Wiesbaden noch Jahre später sprachen. Zum Abschluß erhielt jeder von ihnen ein Buch und eine Broschüre als Geschenk. Einige der Arbeiter, die wegen Vorurteilen nicht am Essen teilgenommen hatten, kamen am nächsten Tag und fragten, ob sie wenigstens das Büchergeschenk haben könnten. Daß sie das Essen verpaßt hatten, war ihre eigene Schuld; nun aber lag es an ihnen, die geistige Speise mit Hilfe der geschenkten Publikationen in sich aufzunehmen.

Im Januar 1959 begannen verschiedene Abteilungen in das neue Gebäude umzuziehen.

„Unterdessen“, so erzählt Günter Künz, der Fabrikaufseher, „erhielten wir bessere Maschinen zum Herstellen von Büchern, Zeitschriften und anderen Druckerzeugnissen. Im Jahre 1958 hatten wir die Buchbindereimaschinen, die früher in Bern benutzt worden waren, erhalten. Es war möglich, damit täglich bis zu 5 000 Bücher zu binden. Im Laufe der Jahre gab Bruder Knorr jedoch die Erlaubnis, die meisten dieser Maschinen zu ersetzen, die schon vierzig Jahre in Gebrauch gewesen waren.“ So war es möglich, daß im Jahre 1973 die Produktion an Büchern wesentlich erhöht wurde.

Die Brüder im Produktionsbüro rechneten einmal aus, daß die in den letzten Monaten des Jahres 1966 hergestellten 61 622 Exemplare des Babylon-Buches, die 500 796 Exemplare des Buches „Dinge, in denen es unmöglich ist, daß Gott lügt“ und die 98 885 Jahrbücher übereinandergestapelt einen Turm von fünfzehn Kilometer Höhe ergeben würden. Das war eine begeisternde Leistung. Die Produktion lief oft auf Hochtouren, damit die Versammlungen mit der nötigen Literatur versorgt werden konnten. Im Frühling 1968 wurden zweiundzwanzig zusätzliche Arbeiter aushilfsweise ins Bethel gerufen, um bei der Herstellung des Buches Hat sich der Mensch entwickelt, oder ist er erschaffen worden? mitzuhelfen. Die Buchbinderei arbeitete in zwei Schichten, und es wurden täglich 10 000 Bücher hergestellt. Sie wurden sogleich an die Versammlungen verschickt, damit dieses neue Buch während des Mai-Feldzuges dazu benutzt werden konnte, den Menschen die Wahrheit über dieses Thema bekanntzumachen. Die harte Arbeit machte sich bezahlt, denn es wurden 136 525 Bücher abgegeben — die beste Bücherverbreitung seit 1963.

Im Jahre 1968 besuchte Bruder Knorr Wiesbaden zweimal. Das erstemal kam er im Juni, und zur Freude der Familie kündigte er an, daß eine neue Rotationsmaschine und drei neue Maschinen für die Buchbinderei unserer Fabrik gekauft wurden. Bald darauf wurden zwei dieser Maschinen aufgestellt und in Betrieb genommen. Während seines Besuches im November traf Bruder Knorr umfangreiche Vorkehrungen zur Ausdehnung der Arbeiten, die wir in der Fabrik verrichteten. Die Brüder begannen in zwei Schichten zu arbeiten, und etwa 15 bis 20 Brüder arbeiteten nachts. Bruder Knorr hatte darauf aufmerksam gemacht, daß es wichtig sei, das Geistiggesinntsein zu bewahren, und so wurde eine besondere Versammlung zum Nutzen der Brüder, die Nachtschicht arbeiteten und sonst keine Zusammenkunft hätten besuchen können, gegründet. Ihre Zusammenkünfte wurden tagsüber abgehalten. Die Produktion der Buchbinderei wurde gesteigert, und wir konnten die Produktion der Bücher für die niederländischen, dänischen, norwegischen und schwedischen Brüder übernehmen. Mit zusätzlichen neuen Maschinen konnten in zwei Schichten täglich etwa 20 000 Bücher hergestellt werden. Das Jahr 1969 war ein weiteres arbeitsreiches und produktives Jahr, in dem die Produktion auf Hochtouren lief und nie dagewesene Höchstzahlen erreicht wurden.

„Ist es später, als du denkst?“ war der Titel der Erwachet!-Sonderausgabe vom 8. April 1969. Ständig gingen Bestellungen von den Versammlungen ein, und es mußten immer mehr Zeitschriften gedruckt werden. Ja, in unserer Fabrik wurden 10 241 250 Exemplare gedruckt. Die Brüder der beiden Schichten waren sogar bereit, Überstunden zu arbeiten, denn außer den Zeitschriften mußten auch noch eine große Menge Bücher hergestellt werden (bis zum Ende des Dienstjahres 1969 3 343 304 Bücher, sechsmal soviel wie 1966). Unsere Maschinen liefen praktisch rund um die Uhr. Einige Monate lang arbeiteten wir in zwei Schichten, aßen in zwei Schichten und schliefen in zwei Schichten. Es war eine sehr arbeitsreiche, aber auch sehr befriedigende und freudige Zeit.

Der Bruder am Pioniertisch freute sich sehr, als er feststellte, daß im April neben den 1 959 allgemeinen Pionieren 11 454 Pioniere auf Zeit tätig waren.

Während des Dienstjahres 1969 wurden etwa 40 Millionen Zeitschriften, Bücher und Broschüren hergestellt. Der Versand von etwa 2 000 Tonnen Zeitschriften und Büchern außer weiteren Druckerzeugnissen war natürlich sehr kostspielig. Um diese Kosten niedrig zu halten, begannen wir am 3. Dezember 1959, die Literatur mit unseren eigenen Lastwagen auszuliefern. Albert Kamm, der von Anfang an in dieser Abteilung mitgearbeitet hat, erzählt: „Überall interessieren sich die Menschen dafür, was wir wohl in unseren Wagen transportieren: die Polizei, die Tankwarte, die Zollbeamten, selbst die Personen, die wir ansprechen, um eine Adresse zu erfragen. Sehr erstaunt sind sie, wenn sie erfahren, daß der ganze Wagen mit Wachtturm- und Erwachet!-Ausgaben beladen ist. Wenn man solchen Personen im Verlaufe eines Gesprächs erzählt, daß wir 5 von diesen und 2 etwas kleinere Wagen haben, die alle mit unseren Zeitschriften beladen sind, dann sieht man ihnen deutlich an, daß sie erstaunt sind. Oft kann man ein gutes Zeugnis geben, und selbst wenn wir vierzehn Tage später wiederkommen, haben die meisten es noch gar nicht ganz verdaut, daß Der Wachtturm schon wieder da ist.“

Wiesbaden liegt sehr zentral, und so haben wir elf Touren in Deutschland. Bei den größeren Touren sind 1 200 bis 1 500 Kilometer zurückzulegen. Jeder Lastwagen fährt in einem Jahr etwa 70 000 bis 80 000 Kilometer. Die in Wiesbaden gedruckten Bücher werden auch nach Luxemburg, in die Niederlande, nach Belgien, in die Schweiz und nach Österreich gebracht.

Während die Arbeiten in der Fabrik auf Hochtouren liefen, wurden im Jahre 1969 weitere Bauarbeiten verrichtet. Das Dachgeschoß des älteren Teiles des Gebäudes wurde umgebaut, und es wurden dreizehn neue Zimmer eingerichtet. Brüder, die sich freuten, ihre Zeit, Kraft und Fähigkeit eine Zeitlang im Bethel zur Verfügung zu stellen, verrichteten diese Arbeit. Die Möbel für die Zimmer, zum Beispiel die Betten und die Schränke, wurden in unserer Schreinerei gebaut.

Trotz dieser Erweiterung war das Bethelheim immer noch zu klein. Im Mai 1970 besuchten uns Bruder Knorr und Bruder Larson, der Fabrikaufseher in Brooklyn, für etwa eine Woche. Nachdem sie das Heim und die Fabrik überprüft hatten, kam Bruder Knorr zu dem Schluß, daß es im Interesse des Werkes wäre, das Gebäude zu vergrößern. Das bedeutete für Richard Kelsey, der seit Herbst 1969 als neuer Zweigaufseher dient, eine Menge Arbeit. Eine weltliche Firma wurde beauftragt, den Rohbau herzustellen, während die Innenarbeiten von Brüdern vorgenommen werden sollten. In der Schreinerei machte sich Ferdinand Reiter schon bereit, Möbel für die neuen Zimmer herzustellen. Das war für ihn nichts Neues mehr, denn er hatte bereits 1947 mitgeholfen, als damals begonnen worden war, das nackte Steingebäude mit Fenstern und Türen zu versehen. Inzwischen ist er etwas älter geworden, aber trotz seiner achtzig Jahre (er ist der zweitälteste der Familie) ist er immer noch rüstig und arbeitet jeden Tag, wodurch er ein gutes Beispiel gibt. Selbst junge Brüder sagen: „Es ist nicht leicht, mit Ferdinand mitzuhalten.“

Diese Erweiterung war wirklich notwendig. Im April 1971 war eine neue Höchstzahl von 89 706 Verkündigern erreicht worden, und 145 419 Personen hatten das Gedächtnismahl besucht. Im Juni hatten wir den besten Stundendurchschnitt seit 1954. Bis zum Ende des Dienstjahres 1971 hatten wir 19 Millionen Bibeln, Bücher, Broschüren und Zeitschriften abgegeben. Das bedeutete, daß im Durchschnitt jede Familie in Westdeutschland und in West-Berlin ein Bibelstudienhilfsmittel erhalten hatte.

Der 11. November 1972 war ein denkwürdiger Tag. Warum? Um 10 Uhr früh trafen die ersten Exemplare der deutschen Neuen-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift aus Brooklyn ein. Welch eine Freude! Sogleich wurden Vorkehrungen für einen Bibelfeldzug in den Monaten Mai und Juni getroffen. Die Versammlungen übergaben den Zeitungen in ihrem Gebiet Nachrichtenfreigaben. Diese Artikel halfen, die Öffentlichkeit auf die Neue-Welt-Übersetzung aufmerksam zu machen. Einige Schlagzeilen lauteten: „Sturm auf neue Bibelübersetzung“, „96 000 Prediger veranstalten einen ,Bibelfeldzug‘ “, „Zeugen Jehovas bringen jeder Familie eine Bibel“. Selbst kirchliche Zeitungen und Gemeindeblätter reagierten und halfen auf ihre Art mit, ihre Gemeindemitglieder auf die Bibel hinzuweisen. So schrieb zum Beispiel das Evangelische Gemeindeblatt für Württemberg: „Die erste Auflage dieser deutschen Fassung wurde in der ungewöhnlichen Höhe von 1 Million Exemplaren gedruckt. Der Jahresbedarf an Luther-Bibeln liegt in Deutschland bei etwa 500 000 Stück. Die Zeugen Jehovas haben sicher nicht die Absicht gehabt, sich auf lange Zeit hinaus mit ihren Bibeln einzudecken. Bei ihrer gewohnten Aktivität ist damit zu rechnen, daß sie die Neuerscheinung zu einem ausgedehnten Feldzug benutzen werden. ... Neben der Bibel, die nur 5 DM kostet, ... wird den Käufern ein Heimbibelstudium empfohlen und angeboten, das von den Verkäufern dann in der Wohnung des Käufers durchgeführt werden soll.“ Das Katholische Sonntagsblatt veröffentlichte den gleichen Artikel. Die Freigabe der Neuen-Welt-Übersetzung und ihre Verbreitung war wirklich ein Höhepunkt im Dienstjahr 1972.

Anfang des Dienstjahres 1973 gab es in Westdeutschland und in West-Berlin 95 975 Verkündiger der guten Botschaft, und die Produktion von Literatur erreichte eine neue Höchstzahl. Während des Dienstjahres wurden in der Wiesbadener Fabrik 17 neue Bücher gedruckt und gebunden, einige davon für Deutschland und andere für die skandinavischen Länder und die Niederlande. Man stelle sich die Begeisterung der Bethelfamilie vor, als die Jahresproduktion ausgerechnet wurde — es waren über 3 500 000 Bücher in nur einem Jahr!

Man konnte die guten Auswirkungen sehen, die diese Publikationen auf das Leben derer hatten, die sie erhielten. Ein zwölfjähriger Junge zum Beispiel war von dem, was er lernte, so bewegt, daß er den Zeugen, der mit seiner Mutter und ihm studierte, bat, ihn in den Predigtdienst mitzunehmen. Der Zeuge erklärte ihm natürlich, zuerst müsse er Babylon die Große verlassen und seinen Namen aus dem Kirchenregister streichen lassen. Gleich am nächsten Tag ging der Junge, der die Dringlichkeit der Sache erkannte, während der Schulpause zum Amtsgericht, um das entsprechende Formular auszufüllen. Der Beamte sagte, der Junge solle ein andermal wiederkommen, da er der Sache im Moment keine Aufmerksamkeit schenken könne. Noch am gleichen Nachmittag, als die Schule aus war, ging er wieder zum Amtsgericht. Wieder versuchte der Beamte, ihn abzuweisen, und sagte, seine Mutter müsse das Formular unterzeichnen, so solle er ein andermal kommen. Der Junge bat den Beamten darauf eindringlich, seine Mutter anzurufen und sie zu bitten, gleich zu kommen. Der Beamte rief sie an, schlug ihr aber vor, zu irgendeiner passenden Zeit mit dem Jungen zu kommen, um die Angelegenheit zu erledigen. Darauf rief der Junge laut protestierend ins Telefon: „Nein, Mama, komm gleich!“ Das tat sie, und sie brachte auch ihren jüngeren Sohn mit. Das Formular wurde ausgefüllt und unterschrieben. Dann sagte sie: „Nun, da wir schon einmal hier sind, können wir auch gleich alle austreten.“

Im Büro der Gesellschaft verfolgten die Brüder mit großem Interesse die Berichte, die im Laufe des Jahres eingingen. Beim Gedächtnismahl waren 150 313 Personen in Westdeutschland und 7 911 in West-Berlin anwesend. Monat für Monat stieg die Zahl der Täuflinge beachtlich. Bis zum Juli waren es bereits 5 209, verglichen mit den 3 812 während der gleichen Zeit im Vorjahr. Am Ende des Dienstjahres 1973 belief sich die Gesamtzahl auf 6 472 Personen, die auf Jehovas Seite Stellung bezogen hatten. Zu dieser Zeit beteiligten sich 98 551 Personen in Westdeutschland und West-Berlin an der öffentlichen Verkündigung des Königreiches Gottes als einzige Hoffnung der Menschheit.

FRIEDE AUF ERDEN — ABER NUR DURCH GOTTES KÖNIGREICH

Im Jahre 1939 hatte Adolf Hitler „Frieden“ als Motto für seinen jährlichen Reichsparteitag gewählt. Gedenkmünzen und Sonderbriefmarken wurden für diesen „Reichsparteitag des Friedens“ herausgegeben. Aber die Feier wurde wegen des Ausbruchs des Krieges abgesagt. Dreißig Jahre später, im August 1969, fand auf der Zeppelinwiese in Nürnberg, also auf dem gleichen Gelände, auf dem dreißig Jahre zuvor der „Reichsparteitag des Friedens“ gefeiert werden sollte, der internationale Kongreß „Friede auf Erden“ der Zeugen Jehovas statt.

Für insgesamt 130 000 Delegierte wurden Unterkünfte beschafft. Um dies zu ermöglichen, mieteten die Zeugen ein Jahr im voraus 48 Großzelte mit einer Gesamtfläche von 60 000 Quadratmetern. Etwa eineinhalb Jahre im voraus stellten sie auch bei der Stadt Nürnberg den Antrag, sämtliche Schulen und Turnhallen der Stadt als Schlafgelegenheiten zu mieten. Im Frühherbst des Vorjahres wurde auch mit den Vorbereitungsarbeiten für die Cafeteria begonnen.

Als der Kongreß anfing, waren Delegierte aus 78 verschiedenen Ländern anwesend. Das Kongreßprogramm selbst wurde nicht nur in Deutsch dargeboten, sondern auch in Griechisch, Serbokroatisch, Niederländisch, Slowenisch und Türkisch. Hier hatten sich Menschen aus allen Teilen der Erde versammelt, die in Frieden zusammen wohnten und sich der herzlichen Bande christlicher Brüderlichkeit erfreuten.

Von der gigantischen Steintribüne, auf der die Führer der Nationalsozialistischen Partei einst von einem „tausendjährigen Reich“ träumten, hielt Bruder Knorr vor 150 645 Zuhörern den öffentlichen Vortrag „Tausend Jahre Frieden nahen“. Aber er ermunterte seine Zuhörer nicht, von dem zu träumen, was Menschen versprechen mögen zu erreichen. Er wies auf das einzige Mittel hin, durch das die Menschheit ewigen Frieden erlangen kann, nämlich auf Gottes Königreich in den Händen seines Sohnes, Jesus Christus. Und er zeigte aus der Heiligen Schrift, daß diese Friedenszeit nun nahe bevorsteht.

VORBEREITUNG AUF DEN GÖTTLICHEN SIEG

In der festen Überzeugung, daß die Zeit, in der Gott über alle seine Feinde siegen wird, unmittelbar bevorsteht, planten Jehovas Zeugen für das Jahr 1973 eine Serie internationaler Kongresse, die unter dem Motto „Göttlicher Sieg“ stehen sollten. Zwei dieser Kongresse fanden in Deutschland statt, und es waren Delegierte aus mindestens 75 Ländern anwesend. Am letzten Tag, als der Vortrag „Göttlicher Sieg — was bedeutet er für die bedrängte Menschheit?“ im Rheinstadion in Düsseldorf gehalten wurde, waren 67 950 Zuhörer anwesend. Zu dem gleichen Vortrag, der während des fünftägigen Kongresses im Olympiapark in München gehalten wurde, waren 78 792 anwesend — eine Gesamtanwesendenzahl von 146 742!

Fünfzig Jahre zuvor hatte Hitler in München versucht, durch einen Putsch an die Macht zu gelangen. Nun sind er und sein nationalsozialistisches Regime nicht mehr, aber Jehovas Zeugen nehmen immer mehr zu und weisen weiterhin zuversichtlich auf den Triumph des Königreiches Gottes hin.

Ebenfalls in München fanden 1972 die Olympischen Spiele statt, zu denen Athleten aus vielen Ländern kamen, um ihre Wettkämpfe auszutragen. Dieses Ereignis wurde als „Friedensfest“ bezeichnet, aber wenn man darauf zurückblickt, erinnern sich viele hauptsächlich an das Blutvergießen, das es dort gab und durch das die Zwietracht unter den Nationen deutlich zum Ausdruck kam. Ein Reporter erinnerte an dieses Ereignis, als er im Münchener Anzeiger schrieb: „Als ich einen Tag vor Beginn des Kongresses ,Göttlicher Sieg‘ auf den leeren Rängen des Stadions stand und von der Einsatzbereitschaft der hier werkenden Helfer (insgesamt 7 000) beeindruckt war, mußte ich unwillkürlich an den 5. September 1972 denken. Damals schlich sich Gewalt und Mord in das Gelände, dieser Tage sind es Gläubige, die nach ihrer Überzeugung das Gute und Edle bei ihrem Mitmenschen zu wecken suchen.“ Jehovas Zeugen kamen nicht zum Olympiapark, um miteinander zu wetteifern und um zu versuchen, zu beweisen, daß eine Nation besser sei als die anderen. Vielmehr ‚wandeln sie im Namen Jehovas‘, des ‚Gottes, der Frieden gibt‘. Die Liebe zu ihm veranlaßte sie, aus vielen Ländern zu diesem Kongreß zu kommen, und die gleiche Liebe bewegt sie, vereint Jehovas Namen zu verherrlichen und dem Tag entgegenzublicken, an dem er von aller Schmach befreit wird. — Micha 4:5; Röm. 15:33.

Auf diesen Kongressen wurde hervorgehoben, daß es für jeden einzelnen wichtig ist, ‚die Gegenwart des Tages Jehovas fest im Sinn zu behalten‘, des „Tages“, an dem Gott sein Urteil an den Bösen vollstrecken und seine Diener belohnen wird, des „Tages“ des göttlichen Sieges. (2. Petr. 3:11, 12) Sie wurden daran erinnert, daß sie sich wie Jesus Christus als einzelne als Sieger über die Welt erweisen müssen, falls sie Gottes Gunst haben möchten, wenn jener „Tag Jehovas“ hereinbricht. (Joh. 16:33) Sie dürfen nicht zulassen, von der Welt geformt zu werden, und nicht so handeln wie die Welt, noch dürfen sie zulassen, daß sie aufgrund von Gleichgültigkeit oder Furcht vor der Reaktion der Welt abgehalten werden, den Willen Gottes zu tun.

Jehovas Zeugen verließen den Kongreß nicht mit dem Gefühl, daß sie nun in ihrem Predigtwerk nachlassen könnten, da der göttliche Sieg so nahe sei. Im Gegenteil, sie wurden ermuntert, vollen Gebrauch von der verbleibenden Zeit zu machen, und es wurden ihnen Hilfsmittel zur Verfügung gestellt, mit denen sie arbeiten können. Es wurde eine Vorkehrung für die intensive weltweite Verbreitung eines Traktats umrissen, das die Schlagzeile trägt „Läuft die Zeit für die Menschheit ab?“ Sie wurden auch mit einem neuen Buch ausgerüstet, das den aufrüttelnden Titel Gottes tausendjähriges Königreich hat sich genaht trägt. Ebenfalls erhielten sie das Buch Wahrer Friede und Sicherheit — woher zu erwarten?, das die Aufmerksamkeit auf die große Streitfrage der universellen Souveränität lenkt, eine Streitfrage, mit der sich jedes vernunftbegabte Geschöpf befassen muß. Schon jetzt vermitteln sie diesen Aufschluß anderen Menschen. Ungeachtet dessen, welche Verhältnisse sich in dieser unruhigen Welt noch entwickeln werden, bevor das Ende kommt, sind Jehovas Zeugen entschlossen, in dem Werk voranzudrängen, das Gott ihnen aufgetragen hat, nämlich mit dem Predigen der guten Botschaft von seinem Königreich.

Im Laufe der Jahre sind Jehovas Zeugen in Deutschland wie auch anderswo auf die Probe gestellt worden. Sie sind nicht überrascht worden. Sie wissen, daß ihr Herr und Meister, Jesus Christus, von bösen Menschen verfolgt wurde, und sie erwarten das gleiche. (Joh. 15:20) Jehovas Zeugen verstehen die Streitfrage völlig. Sie wissen, daß Satan, der Teufel, die Rechtmäßigkeit der Souveränität Jehovas in Frage gestellt hat. Satan hat offen die Anklage erhoben, diejenigen, die Jehova dienen, würden dies nicht aus Liebe zu Gott tun, sondern aus Selbstsucht und um persönlicher Vorteile willen. Satan hat behauptet, niemand würde Jehovas Souveränität loyal unterstützen, wenn er unter Druck gesetzt würde. Und dieser Widersacher Gottes und des Menschen gebraucht die Menschen, die sich ihm unterwerfen, um zu versuchen, zu beweisen, daß er in der Streitfrage recht hat. — Luk. 22:31.

Im Gegensatz dazu haben Jehovas Zeugen erkannt, daß alles, was sie haben, und all ihre Hoffnungen auf die Zukunft Jehovas unverdienter Güte zuzuschreiben sind. Von echter Liebe zu ihrem Schöpfer angetrieben, betrachten sie es als ein Vorrecht, ihre Lauterkeit ihm gegenüber zu beweisen, ganz gleich, was es sie kosten mag. Weil sie sich weigern, mit einer gottlosen Welt Kompromisse zu schließen, haben viele ihre Arbeitsstelle und ihre Wohnung verloren. Einige haben den Verlust ihrer Kinder und ihres Ehepartners ertragen. Andere sind mit Stahlruten bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen worden, sind verhungert oder von Exekutionskommandos hingerichtet worden.

Aber wer ist aus all diesen Prüfungen als Sieger hervorgegangen? Nicht der Teufel. Auch nicht die Welt, die in seiner Macht liegt. Statt dessen sind es Jehovas christliche Zeugen, die ihren Glauben in den allein wahren Gott und in seinen Sohn gesetzt haben. Es ist so, wie der Apostel Johannes schrieb: „Jeder von Gott Gezeugte besiegt die Welt. Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt: unser Glaube. Wer aber ist der, der die Welt besiegt, wenn nicht der, der da glaubt, daß Jesus der Sohn Gottes ist?“ (1. Joh. 5:4, 5, Herder-Bibel) Es ist wahr, einige von ihnen verloren durch Feinde Gottes ihr Leben, aber da sie die Hoffnung hatten, Miterben mit Christus in seinem himmlischen Königreich zu sein, und da sie zu der Zeit seiner Gegenwart lebten, wurden sie „in einem Nu, in einem Augenblick“, zu unsterblichem himmlischen Leben auferweckt — sie haben die Welt besiegt. (1. Kor. 15:51, 52) Andere, die die Hoffnung auf irdisches Leben in Gottes neuer Ordnung hatten, müssen nun eine Zeitlang ruhen, doch sie hatten die Zuversicht, daß Gott, der nicht lügen kann, sie unter der gerechten Herrschaft seines Königreiches wieder zum Leben erwecken wird. Tausende weitere Zeugen haben mit der Hilfe Gottes die grausamen Angriffe Satans und seiner sichtbaren Helfer überlebt. Viele von ihnen leben noch heute und predigen immer noch die gute Botschaft und beweisen immer noch ihre Loyalität gegenüber Jehova. Und sie sind fest entschlossen, in diesem treuen Lauf zu verharren, ganz gleich, welche Prüfungen sie in den kommenden Tagen noch erleben mögen.

Möge dieser Bericht jeden, der ihn liest, ermuntern, treu auszuharren. Behalte folgende inspirierten Worte des Apostels Paulus im Sinn: „Laßt uns frohlocken, während wir in Drangsalen sind, da wir wissen, daß Drangsal Ausharren bewirkt, Ausharren aber einen bewährten Zustand, der bewährte Zustand aber Hoffnung, und die Hoffnung führt nicht zur Enttäuschung, weil die Liebe Gottes durch den heiligen Geist, der uns gegeben wurde, in unser Herz ausgegossen worden ist.“ (Röm. 5:3-5) Laß dich von Gottes Liebe anspornen, den Willen Gottes als das Wichtigste im Leben zu betrachten und voller Zuversicht dem göttlichen Sieg entgegenzusehen, der nun so nahe bevorsteht.

[Bild auf Seite 192]

Konzentrationslager Sachsenhausen

Kasernen der SS

Appellplatz

Zellenbunker

Isolierung

[Bild auf Seite 193]

Gaskammer

Hinrichtungsstätte

Entlausungsstation

[Bild auf Seite 214]

Von der Wachtturm-Gesellschaft in Wiesbaden erworbenes Gebäude

[Bild auf Seite 243]

Bethelheim und Druckerei der Wachtturm-Gesellschaft in Wiesbaden (1973)

[Bild auf Seite 250]

Der Kongreß „Göttlicher Sieg“ wurde in Düsseldorf (oben) von 67 950 Personen besucht; der in München (unten) von 78 792.