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Deutschland

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DEUTSCHLAND ist ein Dreh- und Angelpunkt internationalen Treibens. Jährlich wird es von, grob gerechnet, 15 Millionen Touristen besucht. Viele zieht es in die bayerischen Alpen, in den Schwarzwald, an den malerischen Rhein oder zu den kulturellen Zentren der Städte. Andere kommen aus geschäftlichen Gründen. Deutschland gehört zu den großen Handelsmächten der Welt und hat Geschäftsverbindungen rund um den Globus. Über eine Reihe von Jahren lockte die gutgehende Wirtschaft des Landes so viele Arbeiter aus anderen Staaten an, daß sich die Bevölkerungszusammensetzung in den größeren Städten merklich veränderte. Auch auf das Predigtwerk der Zeugen Jehovas in Deutschland hat sich das ausgewirkt.

Darüber hinaus haben die Geschehnisse während des 2. Weltkriegs und bei Kriegsende ihr Werk beeinflußt. Unter der Diktatur Adolf Hitlers waren die Zeugen Zielscheibe anhaltender, brutaler Angriffe. Mit dem Segen sowohl katholischer als auch protestantischer Geistlicher schwor Hitler, die „Ernsten Bibelforscher“, wie man Jehovas Zeugen damals in Deutschland nannte, auszurotten. Doch die Zeugen gaben ihren Glauben nicht auf. Sie blieben trotz erbarmungsloser Attacken standhaft.

Zwölf Jahre nachdem das Verbot gegen Jehovas Zeugen erlassen worden war, existierten Hitler und seine politische Partei nicht mehr. Im Gegensatz dazu waren Jehovas Zeugen vollauf damit beschäftigt, anderen von Gottes Königreich und seiner Bedeutung für die Menschheit zu erzählen. Ihre Erlebnisse während der NS-Zeit und wie sie das Geschehen bewältigten, bilden nach wie vor die Grundlage für ein Zeugnis — inzwischen sogar vor der ganzen Welt.

Wie war es den Zeugen möglich, als Sieger aus dem Kampf hervorzugehen? Es lag nicht an ihrer Cleverneß. Auch ihre Zahl konnte nicht den Ausschlag geben. Beim Ausbruch des 2. Weltkriegs zählten sie weniger als 20 000 in ganz Deutschland gegenüber der gewaltigen NS-Übermacht. Die Erklärung liefern die Worte eines weisen Lehrers mit Namen Gamaliel, die er vor langer Zeit äußerte und die in der Bibel festgehalten sind: „Wenn dieses Unterfangen oder dieses Werk von Menschen ist, wird es umgestürzt werden; wenn es aber von Gott ist, werdet ihr sie nicht stürzen können“ (Apg. 5:34-39). Jehovas Zeugen in Deutschland waren Gott selbst unter Todesgefahr loyal, und Jehova blieb seinem Versprechen treu, daß er „seine Loyalgesinnten nicht verlassen“ wird (Ps. 37:28).

Die Nachkriegszeit gut genutzt

Denjenigen, die die Kriegserlebnisse überstanden hatten, war klar, daß es allerhand zu tun gab. Was sie durchgemacht hatten, war Teil der unverkennbaren Erfüllung dessen, was Jesus Christus als Zeichen seiner Gegenwart und des Abschlusses des Systems der Dinge vorhergesagt hatte. Sie hatten einen Krieg von nie gekanntem Ausmaß hautnah miterlebt. Sie hatten erfahren, was es heißt, der Drangsal überliefert und verraten zu werden, Gegenstand des Hasses der Nationen zu sein und getötet zu werden. Sie erlebten die prophezeite Lebensmittelknappheit. Jemand mußte die Menschen über die Bedeutung dieser Geschehnisse aufklären. Selbst in den Konzentrationslagern hatten Jehovas Zeugen nie aufgehört zu predigen. Aber sie wußten, daß Jesus vorhergesagt hatte: „Diese gute Botschaft vom Königreich wird auf der ganzen bewohnten Erde gepredigt werden, allen Nationen zu einem Zeugnis“ (Mat. 24:3-14). Es gab noch mehr zu tun, und sie konnten es kaum erwarten, das Werk fortzusetzen.

Nach dem Krieg verloren Jehovas Zeugen in Deutschland keine Zeit, die Verkündigung des Königreichs zu reorganisieren. Erich Frost, der nach 9 Jahren seine Freiheit wiederhatte, sorgte gleich dafür, daß reife Brüder die Versammlungen besuchten, reorganisierten und stärkten. Manche Zeugen waren vor Hunger so schwach, daß sie bei den Zusammenkünften umfielen, doch sie waren entschlossen dazusein, um in den Genuß der geistigen Speise zu kommen. Gertrud Pötzinger lief am ersten Tag nach ihrer Befreiung den ganzen Tag in Richtung München in der Hoffnung, dort ihren Mann zu finden. Als sie am Abend bei freundlichen Leuten unterkam, die etwas zu essen und ein Bett für sie hatten, blieb sie bis nach Mitternacht auf, um ihnen von Jehovas Vorsatz zu erzählen. Nachdem Konrad Franke wieder auf freiem Fuß war, fing er auf der Stelle mit dem Pionierdienst an, obwohl er anfangs außer seinem gestreiften Häftlingsanzug nichts anzuziehen hatte.

Im Jahr 1947 beteiligten sich in Deutschland 15 856 Zeugen Jehovas erneut am öffentlichen Predigtwerk und machten mutig bekannt, daß Gottes Königreich die einzige Hoffnung auf endgültigen Frieden und bleibende Sicherheit ist. Jehova segnete ihren Eifer im Predigtdienst, und so waren im Mai 1975, 30 Jahre nach Kriegsende, in der Bundesrepublik 100 351 Königreichsverkündiger tätig.

In jenen Jahren wurde nicht nur das deutschsprachige Gebiet bearbeitet. Eifrige Zeugen in Deutschland stellten fest, daß ihre Predigttätigkeit bei Menschen aus vielen verschiedenen Ländern Wirkung zeigte. Wie kam das?

Ein Missionargebiet direkt vor der Haustür

Durch den wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland entstand Mitte der 50er Jahre ein Bedarf an Gastarbeitern. Sie strömten aus Griechenland, Italien, Jugoslawien, Portugal, Spanien und der Türkei ins Land. Bis 1972 war die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer auf gut 2,1 Millionen angewachsen.

Nach dem Zustrom von Gastarbeitern zwischen den 50er und 70er Jahren wurde Deutschland in den 80er Jahren von einer Flüchtlingswelle aus Afrika und Asien erfaßt. In den 90er Jahren kamen Flüchtlinge aus Osteuropa und vom Balkan hinzu. Wegen der damals liberalen Asylgesetze hatte Deutschland schließlich die höchste Zahl an im Ausland geborenen Einwohnern von ganz Europa.

Jehovas Zeugen sahen dies als ideales Missionargebiet direkt vor der Haustür an. Da „Gott nicht parteiisch ist“ und entwurzelte Menschen ganz gewiß den Trost brauchen, den nur Gottes Wort geben kann, empfanden es die Zeugen als dringliche Pflicht, unter diesen Menschen die gute Botschaft zu predigen (Apg. 10:34, 35; 2. Kor. 1:3, 4). Die 7 500 000 Ausländer in Deutschland in ihrer eigenen Sprache anzusprechen war allerdings kein Kinderspiel.

Um sie wirkungsvoller an die biblische Wahrheit heranzuführen, erlernten viele deutsche Zeugen eine neue Sprache. Was für ein hervorragender Beweis dafür, daß sie ihren Nächsten wirklich lieben, ganz so wie Jesus es seine Nachfolger lehrte! (Mat. 22:39). Die meisten dieser Zeugen hätten keine Missionare im Ausland sein können, doch ihnen war daran gelegen, die Möglichkeiten innerhalb ihres eigenen Landes voll auszuschöpfen. So gehörten im August 1998 über 23 600 Verkündiger der guten Botschaft 371 fremdsprachigen Versammlungen und 219 fremdsprachigen Gruppen an. Natürlich sind solche Versammlungen nicht dazu gedacht zu trennen, sondern sie sollen Menschen ohne ausreichende Deutschkenntnisse die Wahrheit in ihrer Muttersprache näherbringen. Viele Verkündiger haben gemerkt, daß eine Fremdsprache zwar den Verstand ansprechen kann, daß aber oft die Muttersprache nötig ist, um das Herz zu erreichen.

Obwohl von manchen Bevölkerungsgruppen in Deutschland angefeindet und schlecht behandelt, werden Ausländer in Jehovas Volk mit echter christlicher Liebe aufgenommen. Zu den 24 Sprachen, in denen Jehovas Zeugen derzeit außer in Deutsch Zusammenkünfte abhalten, gehören Albanisch, Amharisch, Arabisch, Chinesisch, Farsi, Hindi, Japanisch, Rumänisch, Tamil, Tigrinja, Ungarisch und Vietnamesisch. Bei den Bezirkskongressen „Göttliche Belehrung“ 1993 besuchten rund 10 Prozent der 194 751 Anwesenden die fremdsprachigen Kongresse. Und die Zahl der Getauften machte fast 14 Prozent der Gesamttäuflinge aus.

Unter denen, die positiv auf die Königreichsbotschaft reagiert haben, befand sich eine Hindufamilie, die 1983 wegen des Krieges Sri Lanka verließ und hoffte, den 6jährigen Sohn in ärztliche Behandlung geben zu können. Leider starb der Junge. Doch die Familie lernte Jehova kennen, der die Toten auferwecken und ihnen die Gelegenheit geben wird, für immer zu leben (Apg. 24:15). Ein anderes Beispiel ist eine Nigerianerin, die als Jugendliche im Biafrakrieg gekämpft hatte. In Deutschland änderte sie ihr Leben, als sie erfuhr, wie Jehova die Menschen über ein friedliches Zusammenleben belehrt (Jes. 2:3, 4).

Unter den Italienern, die in Deutschland Zeugen Jehovas geworden sind, hört man nicht selten das Sprichwort: “Non tutti i mali vengono per nuocere” — „Nicht jedes Unglück schlägt zum Nachteil aus.“ Das trifft den Nagel auf den Kopf! Viele Italiener, wie auch Menschen aus anderen Ländern, kamen nach Deutschland, um wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu entfliehen, und haben etwas weit Wertvolleres als materielle Güter gefunden: die Wahrheit über Gott und seinen Vorsatz.

Die eifrige Tätigkeit der Zeugen unter diesen Bevölkerungsgruppen ist nicht unbemerkt geblieben. Die Versammlung Halberstadt erhielt folgenden Brief: „Wir haben hier im Ort die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber. Es sind ständig Menschen aus über 40 Staaten hier ... Diese Menschen kommen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen, mußten Familie, Heimat, Sprache und Tradition hinter sich lassen. Diese Leute haben oft traumatische Erlebnisse hinter sich und sehen einer ungewissen Zukunft entgegen. ... So suchen viele Halt und Hoffnung im Glauben. Wir sind Ihnen sehr dankbar, daß Sie durch Ihre hochherzige Spende [Bibeln in verschiedenen Sprachen] ermöglicht haben, daß diese Menschen durch das Lesen der Bibel in ihrer Sprache Tröstung und Zuversicht erhalten.“

Die Tätigkeit unter der fremdsprachigen Bevölkerung — eine Auswahl

ENGLISCH: Asylanten aus Nigeria, Ghana, Sri Lanka, Indien und anderen Ländern profitieren von der Tätigkeit der englischen Versammlungen. Steven Kwakye aus Ghana ist einer von ihnen. Als in Deutschland ein junger Bangladescher Steven erzählte, daß er immer versucht, die Zeugen Jehovas abzuwimmeln, meinte Steven, er solle sie doch zu ihm schicken. In jungen Jahren hatte er sich mit einem Zeugen in Ghana unterhalten. Jetzt, wo seine Verwandten ihn nicht mehr unter Druck setzen konnten, wollte er mehr wissen. Heute ist er ein christlicher Ältester, und auch seine Familie dient Jehova.

TÜRKISCH: Rasims Frau und seine Söhne waren schon über 10 Jahre Zeugen Jehovas, er dagegen blieb beim islamischen Glauben. Ihm fiel allerdings auf, daß der Koran in den Moscheen so unterschiedlich ausgelegt wurde, daß manche Muslime grundsätzlich nur in ihre eigene Moschee gingen. Während eines Urlaubs in der Türkei besuchte er sowohl eine Moschee als auch eine Zusammenkunft der Zeugen Jehovas. Die Interpretation des Islam, die er in der Moschee hörte, wich von dem ab, was in Deutschland gelehrt wurde. Es war keine Einheit da. Zurück in Deutschland, sagte er: „Hier im Königreichssaal ist die gleiche Liebe und das gleiche Programm wie Tausende Kilometer weiter im Königreichssaal in der Türkei. Das ist die Wahrheit.“

HINDI: 1985 kamen zwei Zeugen Jehovas zu Sharda Aggarwal an die Tür, nachdem sie gerade gebetet hatte, sie suche einen Gott, dem sie ihr Herz ausschütten könne. Ihr Mann hatte Lungenkrebs. Sie war verzweifelt, weil sie den Eindruck hatte, bei den Hindugöttern würden ihre Gebete auf taube Ohren stoßen. Sie fragte die Zeugen, ob Jesus Gott sei. Deren Erklärung überzeugte sie, daß ihr Gebet erhört worden war. Was sie über Jehova hörte, klang so schön, daß sie mehr über diesen Gott erfahren wollte. Zuerst zögerte sie zwar, sich von den Göttern des Hinduismus abzuwenden, aus Angst, bei ihnen in Ungnade zu fallen, aber dann warf sie ihre Götterbilder weg und akzeptierte Jehova als den wahren Gott. 1987 ließ sie sich taufen. Heute ist sie allgemeine Pionierin und ist dankbar, einem persönlichen Gott zu dienen, auf den sie sich verlassen kann. Ihr Mann und ihr Sohn sind beide Dienstamtgehilfen (Ps. 62:8).

POLNISCH: 1992 wurde in Berlin eine polnische Versammlung gegründet, und noch im selben Jahr war ein Tagessonderkongreß in Polnisch geplant. Zwar fand er in einer Gegend Deutschlands statt, wo viele Menschen polnischer Herkunft wohnen, doch daß der Kongreßsaal, der angrenzende Königreichssaal und die Cafeteria voll besetzt sein würden — damit hatte keiner gerechnet. Es kamen geradezu unglaublich viele Besucher, insgesamt 2 523. Zum Teil waren es polnische Zeugen, die deutschen Versammlungen angehörten, aber sie freuten sich zu sehen, wie sich das Königreichswerk im polnischen Gebiet entwickelt, und waren dankbar, biblische Wahrheiten in ihrer Muttersprache zu hören.

Sogar Russisch, Serbisch, Kroatisch und Chinesisch!

RUSSISCH: Nach dem Ende des kalten Krieges gingen viele, die in Rußland aufgewachsen waren und Russisch sprachen, aber deutscher Abstammung waren, in das Land ihrer Vorfahren. Auch gab es die in der damaligen DDR stationierten sowjetischen Soldaten und ihre Angehörigen. Ihre geistigen Bedürfnisse, die ja alle Menschen von Natur aus haben, waren nicht befriedigt worden.

Die deutschstämmige Familie Schlegel zog 1992 von der Halbinsel Krim in der Ukraine in die Heimat ihrer Vorfahren. Dort sprach eine Frau mit ihnen, die ursprünglich aus Usbekistan kam und in Deutschland eine Zeugin Jehovas geworden war. Nach einem Bibelstudium ließ sich die ganze Familie taufen.

Sergej und seine Frau Zhenya waren Atheisten. Als sie jedoch biblische Antworten auf ihre Fragen, vor allem die Zukunft betreffend, erhielten, waren sie erstaunt. Demütig entwickelten sie Glauben an Jehova und änderten ihr Leben, obschon das für Sergej einen Berufswechsel und den Verzicht auf eine Pension bedeutete, die man ihm bald gezahlt hätte.

Marina, Krankenschwester in einem Militärhospital, war auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Nachdem sie das Buch Du kannst für immer im Paradies auf Erden leben erhalten hatte, las sie es sofort durch und merkte auch gleich, daß sie am Ziel ihrer Suche angelangt war. Zurück in Rußland, besuchte sie andere, die in Deutschland mit Zeugen Jehovas die Bibel studiert hatten, und redete ihnen ermunternd zu. Es dauerte nicht lange, und sie nahm den Pionierdienst als Lebensziel auf.

Im August 1998 gab es 31 russische Versammlungen und 63 kleinere Gruppen mit insgesamt 2 119 Verkündigern — eine Zunahme um 27 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

SERBISCH/KROATISCH: Nach Aussage von Johann Strecker, einem reisenden Aufseher in diesem fremdsprachigen Gebiet, lebten im früheren Jugoslawien mindestens 16 verschiedene Nationalitäten. Er erklärt: „Es ist herrlich zu sehen, wie die Wahrheit sie vereint.“ Als Munib, ein Muslim, der 8 Jahre in der jugoslawischen Armee gedient hatte, in Deutschland zu einer Zusammenkunft der Zeugen Jehovas eingeladen wurde, sah er Kroaten, Serben und Menschen mit muslimischem Hintergrund friedlich beisammen. Er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Einen Monat lang spielte er den Beobachter. Dann war er überzeugt, daß der Frieden und die Einheit unter den Zeugen echt sind, und wollte die Bibel studieren. 1994 folgte die Taufe.

Rosanda, eine Katholikin aus Kroatien, hatte mehrere Jahre im Kloster zugebracht. Nun war sie bei Verwandten in Deutschland zu Besuch, die Zeugen Jehovas geworden waren. Nach dem gemeinsamen Besuch der Theokratischen Predigtdienstschule und der Dienstzusammenkunft gestand sie: „Ihr habt die Wahrheit. Ich fragte mich immer, wie wohl die ersten Christen das Evangelium verkündigt haben. Als ich die beiden Schwestern auf der Bühne sah, wie die eine der anderen die Botschaft verkündigte, schoß es mir durch den Kopf: Genauso müssen es die ersten Christen gemacht haben.“ Heute ist sie eine Pionierin, die dem Beispiel der ersten Christen nacheifert.

Einige deutsche Zeugen, die die Sprachen dieser Bevölkerungsgruppen erlernten, um ihnen Zeugnis geben zu können, haben ihre Tätigkeit später ins Ausland verlegt, als sich die Möglichkeit dazu ergab.

CHINESISCH: Das chinesische Gebiet in Deutschland wurde erst in jüngerer Zeit erschlossen. „Die Mehrheit der aus China kommenden Personen haben noch nie etwas von uns gehört, geschweige denn die Bibel gelesen“, berichtet Egidius Rühle, ehemals Missionar auf Taiwan. „Da die meisten Chinesen sehr wißbegierig sind, saugen sie das Gelernte auf, wie ein trockener Schwamm Wasser aufsaugt.“

Als im Oktober 1996 der Bethelfamilie in Selters die 12. Klasse der Schule zur dienstamtlichen Weiterbildung vorgestellt wurde, freuten sich alle über den ersten chinesischen Studenten in der deutschen Schule. Die Wahrheit hatte er in Deutschland kennengelernt. Er gab wiederum einer chinesischen Geologieprofessorin Zeugnis und überreichte ihr das Buch Das Leben — Wie ist es entstanden? Durch Evolution oder durch Schöpfung? Innerhalb von einer Woche las sie es durch. Jetzt lehrt sie nicht mehr die Evolution, sondern leitet Heimbibelstudien. Ende 1996 waren es 16 an der Zahl.

Darauf bedacht, das Gelernte weiterzugeben

Buchstäblich Hunderte fremdsprachiger Einwohner haben über die Jahre in Deutschland die Wahrheit kennengelernt und sind in ihr Geburtsland zurückgekehrt, um dort weiter die gute Botschaft zu predigen. Viele sind mittlerweile Älteste oder Dienstamtgehilfen oder haben andere verantwortungsvolle Aufgaben. Petros Karakaris gehört zur Bethelfamilie in Griechenland, Mamadou Keita dient als Missionar in Mali, und Paulin Kangala, vielen bekannt als Pepe, und seine Frau Anke sind Missionare in der Zentralafrikanischen Republik.

Seit Anfang der 90er Jahre sind über 1 500 griechischsprachige Verkündiger nach Griechenland zurückgegangen, eine Reihe von ihnen als befähigte Älteste. Andere sind nach Schweden, Belgien, Großbritannien oder Kanada gezogen, um das Predigtwerk unter der dortigen griechischsprachigen Bevölkerung voranzutreiben. Und dennoch gibt es wahrscheinlich in keinem anderen Land der Welt mit Ausnahme Griechenlands so viele griechischsprachige Verkündiger wie in Deutschland.

Was spielte sich in der DDR ab?

Am Ende des 2. Weltkriegs war Deutschland von britischen, französischen, sowjetischen und US-amerikanischen Streitkräften besetzt. Die besiegte Nation wurde in 4 Besatzungszonen eingeteilt, wobei jede der 4 Siegermächte die Kontrolle über eine Zone hatte. (Berlin wurde ebenfalls in 4 Sektoren unterteilt.) Da die sowjetische Besatzungszone im östlichen Teil des Landes lag, kam schon bald die Bezeichnung Ostzone auf. 1949 erhielt dieser Teil Deutschlands die Souveränität und wurde zur Deutschen Demokratischen Republik. Doch faktisch trat an die Stelle des Begriffs „Ostzone“ auch der Name Ostdeutschland. Als die 3 übrigen Besatzungszonen 1955 zur Bundesrepublik Deutschland wurden, kam außerdem die Bezeichnung Westdeutschland auf.

Nach dem Untergang des NS-Staates ergriffen Jehovas Zeugen in der Ostzone prompt die Gelegenheit, öffentlich Zusammenkünfte abzuhalten und sich voll im Predigtwerk einzusetzen. Mitte 1949 berichteten dort mehr als 17 000 über ihren Predigtdienst. Allerdings war die Erleichterung über den Zusammenbruch des NS-Regimes nur kurzlebig. Wieder sprengte die Polizei Versammlungszusammenkünfte. Literatur wurde beschlagnahmt. Man sperrte Straßen, um die Zeugen vom Besuch eines Kongresses abzuhalten. Brüder wurden inhaftiert. Am 31. August 1950 folgte ein offizielles Verbot. Jehovas Zeugen in Ostdeutschland waren — diesmal wegen eines kommunistischen Regimes — erneut gezwungen, in den Untergrund zu gehen, aus dem sie erst 40 Jahre später wieder zum Vorschein kommen sollten.

Die Verfolgung in der DDR war in der Anfangszeit des Verbots am heftigsten. 1990 meldete die Berliner Morgenpost: „Von 1950 bis 1961 [als die Mauer gebaut wurde] wurden von den DDR-Behörden 2 891 Zeugen Jehovas verhaftet — 2 202 von ihnen, darunter 674 Frauen, wurden vor Gericht gestellt und zu insgesamt 12 013 Jahren Haft verurteilt. In Haft starben 37 Männer und 13 Frauen infolge Mißhandlungen, Krankheit, Unterernährung und hohen Alters. Zwölf Männer verurteilten Gerichte zu lebenslänglicher Haft, später wurden diese Urteile auf 15 Jahre herabgesetzt.“

Natürlich war das erst der Anfang. Das Verbot dauerte 4 Jahrzehnte an. Es gab Zeiten, wo der Druck auf die Zeugen scheinbar gelockert wurde. Dann kam es wieder zu Haussuchungen und neuen Verhaftungen. Über genaue Zahlen besteht zwar Ungewißheit, doch lassen die Geschichtsunterlagen der Gesellschaft erkennen, daß während der Verbotsjahre in der DDR an 231 verschiedenen Orten insgesamt 4 940 Zeugen Jehovas inhaftiert wurden.

Unauffällige Treffen

Selbst unter solch schwierigen Umständen fanden Jehovas Zeugen im allgemeinen Mittel und Wege, an biblische Literatur für das Studium heranzukommen. Hunderte mutige Brüder und Schwestern riskierten ihre Freiheit und bisweilen sogar ihr Leben, um sich geistiger Bedürfnisse anzunehmen. Oft spielten Schwestern eine Schlüsselrolle. Vor dem Bau der Berliner Mauer 1961 fuhren sie in den Westsektor Berlins, erhielten im dortigen Büro der Gesellschaft Literatur und nahmen sie mit zurück. Als dann auf einmal DDR-Spitzel das Büro beobachteten, um zu sehen, wer Literatur in Empfang nahm, wurden eine Anzahl Kuriere verhaftet. Also änderte man die Taktik. Die Schwestern, die als Kuriere unterwegs waren, holten die Literatur in den Wohnungen anderer Zeugen in Berlin ab und machten sich anschließend auf den Heimweg. Trotz einer Reihe von Verhaftungen, Prozessen und Haftstrafen riß der geistige Nachschub nie völlig ab.

War es möglich, unter solchen Umständen christliche Zusammenkünfte abzuhalten? Verständlicherweise waren einige zunächst etwas ängstlich. Doch ihnen war klar, daß das Zusammenkommen mit anderen Christen wichtig ist, wenn man geistig stark bleiben will (Heb. 10:23-25). Man ging unauffällig vor und traf sich in kleinen Gruppen. Aus Sicherheitsgründen nannte man sich nur beim Vornamen. Die Zusammenkünfte fanden generell nach Einbruch der Dunkelheit, an wechselnden Orten und unterschiedlichen Tagen statt. Im Sommer begannen sie nicht vor 22 Uhr. Doch die Brüder und Schwestern meisterten die Lage.

Königreichssäle konnte man nicht benutzen, aber beispielsweise bot ein freundlicher Bauer in Sachsen seine Scheune an. Sie hatte eine Hintertür, durch die man zu einem von Büschen verdeckten Pfad gelangte. Einen ganzen Winter lang war die Scheune Treffpunkt einer Gruppe von zirka 20 Personen, die bei Kerzenlicht zusammenkamen. Nach kurzer Zeit wurde auch der Bauer ein Zeuge Jehovas.

Vor allem traf man Vorbereitungen, das Abendmahl des Herrn zu feiern. Manfred Tamme erinnert sich, wie er einmal Brüder im Gefängnis mit den Gedächtnismahlsymbolen versorgte: „Den Wein hatte ich in ein Fläschchen gefüllt, wo ein Haarwuchsmittel hineingehörte. Der Beamte der Haftanstalt nahm das Fläschchen, machte es auf, roch daran und sagte: ‚Und das soll bei Haarausfall helfen?‘ Ich erwiderte: ‚Na ja, drauf steht es ja.‘ Da schraubte er es zu und gab es dem Bruder.“

Lernen, unter Verbot zu predigen

In der DDR hörte man nicht auf, die gute Botschaft von Gottes Königreich zu predigen. Die Bibel war nicht verboten, also begann man Gespräche oft einfach mit einem biblischen Gedanken. Da es wenig oder gar keine Literatur zum Anbieten gab, suchte man zu verschiedenen Themen eine Reihe von Schriftstellen für biblische Gespräche zusammen. Selbstverständlich war das Predigen gefährlich. Jeder Tag im Predigtdienst konnte der letzte in Freiheit sein. Die Zeugen machten das Gebet zu ihrem „ständigen Begleiter“, wie es einer von ihnen ausdrückte. Er fügte noch hinzu: „Es gab eine gewisse innere Ruhe und Gelassenheit, man fühlte sich nie allein. Eine ständige Vorsicht war jedoch immer geboten.“

Trotz großer Vorsicht kam es vor, daß man der Polizei Auge in Auge gegenüberstand. Als Hermann und Margit Laube einmal auf Empfehlung von Leuten, die sie bereits kannten, Besuche machten, sahen sie hinter dem Mann, der die Tür öffnete, eine Polizeiuniform an der Garderobe hängen. Margit wurde kreideweiß, Hermanns Herz pochte. Sie beteten im stillen. Sicher würden sie ins Gefängnis kommen. „Wer sind Sie?“ fragte der Mann kurz angebunden. Margit ergriff das Wort: „Kennen wir uns nicht von irgendwoher? Aber ich weiß im Moment nicht, woher. Ah, jetzt weiß ich. Sie sind Polizist. Ich muß Sie in der Uniform schon gesehen haben.“ In etwas freundlicherem Ton fragte er: „Sind Sie von den Jehovas?“ „Ganz recht“, warf Hermann ein, „und Sie müssen sicher zugeben, daß es unsererseits allerhand Mut erfordert, an Ihre Tür zu klopfen. Aber wir sind an Ihnen persönlich interessiert.“ Die beiden wurden hereingebeten. Nach mehreren Besuchen ergab sich ein Bibelstudium. Schließlich wurde der Mann ein Glaubensbruder.

Auch direkt im Gefängnis gab man Zeugnis. Wolfgang Meise war im Zuchthaus Waldheim. Eines Tages erhielt er einen Brief von seiner Frau, in dem stand, daß sie in Berlin war, wo es „Knorr“-Suppe zu essen gab. („Knorr“ ist in Deutschland eine bekannte Suppenmarke.) Wolfgang packte die Gelegenheit beim Schopf und erklärte einem Mithäftling, was das bedeutete. In Berlin hatte ein Kongreß stattgefunden, und N. H. Knorr, der Präsident der Watch Tower Society, hatte dort gesprochen. Der Mann vergaß nie, wie Wolfgangs Augen vor Freude strahlten, als er den Brief von seiner Frau ausdeutete. Ungefähr 14 Jahre später, nachdem dieser Mann in den Westen gezogen war, studierte er die Bibel, und 2 Jahre danach ließ er sich in Würzburg taufen.

Hildegard Seliger, die bereits viele Jahre in NS-Konzentrationslagern zugebracht hatte, wurde von einem kommunistischen Gericht in Leipzig zu 10 weiteren Jahren Haft verurteilt. Später, im Zuchthaus Halle, sagte eine Beamtin zu ihr, sie werde als besonders gefährlich eingestuft, weil sie den ganzen Tag nur von der Bibel spreche.

Trotz Verbot durchweg Mehrung

Der Eifer der Brüder und Schwestern brachte gute Ergebnisse. Horst Schramm berichtet, daß es Anfang der 50er Jahre in der Versammlung Königs Wusterhausen 25 Verkündiger gab, beim Fall der Berliner Mauer dagegen 161. Und dabei waren 43 Verkündiger in den Westen gezogen und außerdem mehrere gestorben. Tatsächlich lernten in einigen Versammlungen über 70 Prozent der heute aktiven Zeugen die Wahrheit unter Verbot kennen.

Greifen wir als Beispiel die Familie Chemnitz heraus. Bernd und Waltraud lernten die Wahrheit schon in jungen Jahren, zu Beginn der Verbotszeit, kennen und wurden getauft. Nachdem sie geheiratet und eine Familie gegründet hatten, ließen sie sich durch das Verbot nicht daran hindern, ihre Kinder zu Dienern Jehovas zu erziehen. In den 80er Jahren, als das Werk noch immer unterbunden war, gaben sich Andrea, Gabriela, Ruben und Esther, dem Beispiel ihrer Eltern folgend, Jehova hin und unterzogen sich der Taufe. Matthias, der Jüngste, wurde als einziger nach Aufhebung des Verbots getauft. Jehova segnete die Eltern großzügig dafür, daß sie trotz Gegnerschaft entschlossen handelten. Was für eine Freude, daß heute alle ihre 5 Kinder zur Bethelfamilie in Selters gehören!

Ein Ältester, der mithalf, die monatlichen Predigtdienstberichte für die Gesellschaft zusammenzustellen, sagt, daß „es in den ganzen 40 Jahren des Verbotes keinen Monat gab, in welchem keine Taufen berichtet wurden“. Er führt aus: „Getauft wurde meistens in kleinem Rahmen in Privatwohnungen. Nach einer Ansprache wurden die Täuflinge in einer Badewanne untergetaucht, wobei es oft das Problem gab, den Täufling ganz unter das Wasser zu bekommen. Trotz solcher kleinen Schwierigkeiten erinnern sich alle noch gern an den Tag ihrer Taufe.“

Als es wieder möglich war, Predigtdienstzahlen aus Ostdeutschland zu veröffentlichen, herrschte große Freude, daß dort in den 80er Jahren immerhin 20 704 Verkündiger tätig waren. Inzwischen sind natürlich keine gesonderten Berichte mehr nötig. 1990 stieg die Zahl der Verkündiger im wiedervereinigten Deutschland auf 154 108 an.

Reorganisiert, um die Bruderschaft zu stärken

In der Zeit, als die kommunistischen Machthaber in ihrer Einflußsphäre alles daransetzten, die Zeugen von ihren Mitgläubigen in anderen Ländern zu isolieren, kam es weltweit in der Organisation der Zeugen Jehovas zu bedeutsamen Veränderungen. Das geschah in dem Bemühen, sich enger an das zu halten, was die Bibel über die Christenversammlung des 1. Jahrhunderts sagt, und diente dazu, die internationale Bruderschaft zu stärken und die Organisation auf das rapide Wachstum der künftigen Jahre vorzubereiten. (Vergleiche Apostelgeschichte 20:17, 28.)

So wurden vom Oktober 1972 an die Versammlungen nicht mehr von einer einzigen Person, dem Versammlungsdiener, beaufsichtigt, der sich mit Unterstützung von Gehilfen der notwendigen Arbeiten annahm. Statt dessen wurde in jeder Versammlung eine Ältestenschaft mit der Aufsicht betraut. 1975 zeichneten sich bereits gute Ergebnisse dieser Neuerung ab.

Der Wechsel wurde indessen nicht von allen begrüßt, wie Erwin Herzig, ein langjähriger reisender Aufseher, zu berichten weiß. Dadurch „wurde das Herz einiger Versammlungsdiener offenbar“, sagt er. Die große Mehrheit war loyal, aber durch die Neuerung wurden die wenigen ausgesiebt, die ehrgeizig waren und lieber die „Nummer eins“ sein wollten, als ihren Brüdern zu dienen.

Es bahnten sich noch mehr Veränderungen an. In den 70er Jahren wurde die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas vergrößert und dann neu organisiert, so daß die Arbeit auf 6 Komitees verteilt wurde, die ihre Tätigkeit am 1. Januar 1976 aufnahmen. Einen Monat darauf, am 1. Februar 1976, wurde die Aufsicht über die Zweigbüros auf der ganzen Erde neu geregelt. Jetzt war nicht mehr ein einziger Zweigdiener für ein Zweigbüro zuständig, sondern jeder Zweig unterstand einem von der leitenden Körperschaft bestimmten Zweigkomitee.

Bruder Frost, Bruder Franke und Bruder Kelsey waren alle eine Zeitlang als Zweigdiener in Deutschland eingesetzt. Bruder Frost sah sich veranlaßt, das Bethel aus gesundheitlichen Gründen zu verlassen. (Er starb 1987 im Alter von 86 Jahren. Sein Lebensbericht steht im Wachtturm vom 1. September 1961.) Als 1976 in Deutschland ein 5köpfiges Zweigkomitee gebildet wurde, gehörten sowohl Konrad Franke dazu (der in der NS-Zeit mehrmals inhaftiert war) als auch Richard Kelsey (ein Gileadabsolvent, der damals bereits 25 Jahre in Deutschland gedient hatte). Die übrigen waren Willi Pohl (ein KZ-Überlebender, der die 15. Klasse der Gileadschule besucht hatte), Günter Künz (ein Gileadabsolvent der 37. Klasse) und Werner Rudtke (ein ehemaliger reisender Aufseher).

Diese ursprünglichen Mitglieder dienen mit Ausnahme von Bruder Franke, der 1983 starb, noch immer im Zweigkomitee. (Konrad Frankes Lebensbericht ist im Wachtturm vom 1. Juni 1963 erschienen.) Zwei weitere Brüder gehörten vor ihrem Tod einige Zeit zum Zweigkomitee: Egon Peter von 1978 bis 1989 und Wolfgang Krolop von 1989 bis 1992.

Gegenwärtig setzt sich das Zweigkomitee aus 8 Mitgliedern zusammen. Zu den bereits erwähnten kamen außerdem Edmund Anstadt (seit 1978) und Peter Mitrega (seit 1989) hinzu sowie Eberhard Fabian und Ramon Templeton (seit 1992).

Als 1976 die Neuerung in der Zweigaufsicht wirksam wurde, gab es in Wiesbaden nur 187 Bethelmitarbeiter. Seither ist die Bethelfamilie auf 1 134 angewachsen, und es sind 30 Nationalitäten vertreten. Das spiegelt in gewissem Maß die Internationalität des Werkes wider, mit dem das Zweigbüro betraut ist.

Eine Druckerei für den expandierenden Bedarf

Mitte der 70er Jahre lag der deutsche Zweigkomplex in dem Wiesbadener Stadtteil Kohlheck — einst ein verschlafener Vorort am Waldrand, aber inzwischen ein schnell wachsender Stadtteil. Die Gesellschaft hatte ihre Gebäude in dieser Gegend schon 13mal vergrößert. Aber nun war die Zahl der Königreichsverkündiger in der Bundesrepublik auf rund 100 000 angestiegen. Man brauchte ein größeres Büro, um das Gebiet zu beaufsichtigen. Es war eine geräumigere Druckerei erforderlich, um biblische Literatur bereitstellen zu können. Noch mehr Land für eine Erweiterung zu erhalten gestaltete sich äußerst schwierig. Wie war das Problem zu lösen? Das Zweigkomitee betete zu Jehova um Leitung.

Ende 1977 erwogen die Mitglieder des neu eingesetzten Zweigkomitees die Möglichkeit, woanders ein neues Bethelheim zu bauen. War das aber wirklich notwendig? Die Grundstimmung ging in die Richtung, daß das Ende des alten Systems vor der Tür stehen müsse. Doch es war noch ein anderer Faktor zu berücksichtigen. Neue Druckmethoden kamen auf, und die Gesellschaft sah sich gezwungen, sie zu übernehmen, wenn sie in der verbleibenden Zeit des alten Systems weiter im großen Stil drucken wollte. Interessanterweise erleichterten es die Erfahrungen, die man durch das Verbot der Zeugen Jehovas in der DDR gewonnen hatte, den Brüdern in Wiesbaden, Veränderungen vorzunehmen, sowie sich die Notwendigkeit dafür ergab. Weshalb?

Der Beschluß, zum Offsetdruck überzugehen

Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 wurde es zusehends schwieriger, die Zeugen Jehovas in der DDR mit Literatur zu versorgen. Um die Sache zu erleichtern, stellte man für sie eine Sonderausgabe des Wachtturms in kleinerem Format her. Sie enthielt nur die Studienartikel. Für diese Ausgabe mußten die Artikel ein zweites Mal gesetzt werden. Das Drucken auf extradünnem Papier war problematisch wie auch das Falzen der Druckbogen. Als man auf eine geeignete automatische Falzmaschine stieß, stellte sich heraus, daß sie in Leipzig gebaut worden war, paradoxerweise also in der DDR, wo Jehovas Zeugen verboten waren und wo diese weniger auffälligen Ausgaben des Wachtturms hingeschafft werden sollten.

Ein Bruder, der vor seinem Betheldienst den Offsetdruck erlernt hatte, schlug zur Vereinfachung vor, die Zeitschriften mit diesem Verfahren zu reproduzieren. Man könnte die Studienartikel fotografieren, verkleinern und dann auf einer Offsetplatte belichten. Der Zweig erhielt eine kleine Bogenoffsetmaschine als Geschenk. Mit der Zeit ergab sich die Möglichkeit, nicht nur die Studienartikel, sondern die ganze Zeitschrift zu drucken — zunächst schwarzweiß und schließlich im Vierfarbendruck. Auf diese Art und Weise produzierte man auch Bücher im Kleinformat.

Nathan Knorr, damals Präsident der Watch Tower Society, besuchte 1975 Wiesbaden und beobachtete das Verfahren mit Interesse. „Nicht schlecht“, meinte er, nachdem er sich die Druckerzeugnisse genau angesehen hatte. Auf die Erklärung, es handele sich um eine Sonderausgabe für die DDR und man sei mit dem neuen Produktionsverfahren zufrieden, erwiderte er: „Brüder, die so viel durchmachen, verdienen das Beste, was wir ihnen geben können.“ Er genehmigte sofort den Kauf zusätzlicher Maschinen.

Als 1977 Grant Suiter von der leitenden Körperschaft Deutschland einen Besuch abstattete und erwähnte, die Gesellschaft erwäge schon lange ernsthaft, auf Offsetdruck umzustellen, und habe nun beschlossen, dies im großen Stil zu tun, verfügte man in Wiesbaden bereits über gewisse Erfahrungen damit. Indirekt hatte das Verbot in der DDR die Brüder auf diesen Wechsel vorbereitet.

Es ging allerdings nicht nur darum, sich mit dem Gedanken anzufreunden, daß neue Druckmethoden erforderlich waren. Bruder Suiter erklärte, man brauche auch größere und schwerere Druckmaschinen. Aber wo sollte man sie hinstellen? Vom Vierfarbendruck mit Rollenoffsetmaschinen zu träumen war eine Sache, den Traum in die Realität umzusetzen war etwas ganz anderes. Man untersuchte mehrere Möglichkeiten für eine Erweiterung am Kohlheck, aber alles erwies sich als schwierig. Was nun?

Ein neuer Zweigkomplex

Man machte sich anderweitig auf die Suche nach einem Grundstück. Am 30. Juli 1978 wurden rund 50 000 Zeugen Jehovas, die sich zu einem Kongreß in Düsseldorf versammelt hatten, und fast 60 000 in München mit der Nachricht überrascht, daß man plante, ein Grundstück für den Bau eines ganz neuen Zweigkomplexes zu erwerben.

Im Verlauf von fast einem Jahr wurden 123 Gelände inspiziert. Letztlich fiel die Wahl auf ein Grundstück, das auf einer Anhöhe über dem Dorf Selters lag. Mit Zustimmung der leitenden Körperschaft wurde der Kauf am 9. März 1979 abgeschlossen. Nach Verhandlungen mit 18 Grundstücksbesitzern erwarb man weitere 65 angrenzende Parzellen, so daß 30 Hektar Bauland zur Verfügung standen. Etwa 40 Kilometer nördlich von Wiesbaden gelegen, ist Selters leicht für Lkws zu erreichen. Der internationale Flughafen Frankfurt Rhein-Main liegt zirka 60 Kilometer entfernt.

Das größte Bauprojekt in der Geschichte der Zeugen Jehovas in Deutschland konnte losgehen. War man der Aufgabe aber gewachsen? Rolf Neufert, der zum Baukomitee gehörte, erinnert sich: „Keiner außer einem Bruder, der Architekt ist, hatte je an einem so riesigen Projekt gearbeitet. Die Schwierigkeiten eines solchen Auftrags sind kaum vorstellbar. Normalerweise würde sich nur ein Büro mit langjähriger Erfahrung und den notwendigen Fachleuten an ein so großes und kompliziertes Projekt heranwagen.“ Wenn es jedoch Jehovas Wille war, daß gebaut wurde, so überlegte man, dann würde er auch den Ablauf segnen.

Es mußten 40 verschiedene Baugenehmigungen eingeholt werden, doch die Behörden zeigten sich kooperativ, was sehr geschätzt wurde. Nun ja, anfangs regte sich ein wenig Widerstand, aber der kam hauptsächlich von Geistlichen, die in dem vergeblichen Bemühen, Opposition zu entfachen, Versammlungen einberiefen.

Zeugen Jehovas aus dem ganzen Land meldeten sich freiwillig zur Mitarbeit. Sie gingen mit außergewöhnlichem Elan ans Werk. Im Schnitt waren täglich 400 ständige Mitarbeiter am Bau beschäftigt, unterstützt von annähernd 200 „Ferienmitarbeitern“. In den 4 Jahren Bauzeit halfen sage und schreibe 15 000 verschiedene Zeugen Jehovas freiwillig mit.

Ein Bruder erzählt: „Egal, welches Wetter, egal, welche Schwierigkeiten vorhanden waren, ob warm oder kalt oder ganz kalt, es ging immer vorwärts. Wo andere ihre Tätigkeit eingestellt hatten, ging es bei uns erst richtig los.“

Auch aus anderen Ländern trafen Helfer ein. Für Jack und Nora Smith und ihre 15jährige Tochter Becky war der Tausende von Kilometern lange Weg von Oregon in den Vereinigten Staaten nicht zu weit. Sie waren bei dem internationalen Kongreß in München anwesend, als bekanntgegeben wurde, daß die Gesellschaft vorhatte, in Deutschland neue Zweiggebäude zu errichten. „Was für ein Vorrecht wäre es doch, beim Bau eines Bethels mithelfen zu können!“ sagten sie sich. Sie gaben Bescheid, daß sie zur Verfügung standen. Jack berichtet: „Wir hatten 1979 gerade mit Vorkongreßarbeiten zu tun, da erhielten wir ein Bewerbungsformular und die Einladung, so schnell wie möglich zu kommen. Wir waren so aufgeregt, daß wir uns bei der Arbeit und beim Kongreß kaum konzentrieren konnten.“

Zur Unterbringung der Baumitarbeiter mußten bereits bestehende Gebäude umgebaut werden. Im Winter 1979/80 war das erste Wohnhaus fertig. Im September 1980 war das Fundament für ein neues Bethelheim gelegt. Auch die Druckerei nahm man in Angriff, und dafür war es höchste Zeit. Die im Januar 1978 bestellte 27 Meter lange Rollenoffsetmaschine sollte 1982 geliefert werden. Bis dahin mußte die Druckerei wenigstens teilweise fertiggestellt sein.

Es war möglich, das meiste in Eigenarbeit zu leisten. Ein Bruder staunt heute noch: „Wir alle hatten keine Erfahrung, ein so großes Projekt mit fast ständig wechselnden Mitarbeitern zu erstellen. Oft glaubten wir, daß auf diesem oder jenem Gebiet Stockungen eintreten würden, weil uns Facharbeiter für spezielle Fachbereiche fehlten. Aber oft war es so, daß im letzten Augenblick ganz plötzlich die Bewerbungen von Brüdern eingingen, die auf bestimmten Gebieten große Erfahrung hatten. Die Brüder kamen so, wie wir sie benötigten.“ Man dankte Jehova für seine Leitung und seinen Segen.

Der Umzug nach Selters

Der Transport der Möbel und der persönlichen Sachen von etwa 200 Bethelmitarbeitern, ganz zu schweigen von all den Maschinen und Ausrüstungsgegenständen, brachte eine Menge Arbeit mit sich. Alles auf einmal erledigen zu wollen wäre zuviel gewesen. Während der Bau Fortschritte machte, siedelte die Bethelfamilie Abteilung für Abteilung nach Selters über.

Die Vorhut bildeten die Mitarbeiter der Druckerei, weil dies der erste fertiggestellte Komplex war. Nach und nach baute man die Maschinen in Wiesbaden ab und transportierte sie nach Selters. Unterdessen kam am 19. Februar 1982 in Selters der Vierfarbendruck mit der neuen Rotationsmaschine ins Rollen. Wenn das kein Grund zum Feiern war! Im Mai wurde es in der Wiesbadener Druckerei still. Nach 34 Jahren gingen dort die Druckarbeiten zu Ende.

Der erste Großauftrag für die neue Offsetdruckmaschine war das Buch Du kannst für immer im Paradies auf Erden leben. Dieses neue Buch sollte auf den Bezirkskongressen 1982 herauskommen, und Deutschland wurde beauftragt, es in 7 Sprachen zu produzieren. Das Problem war, daß die Buchbinderei noch in Wiesbaden stand. Der Umzug war für gut ein Jahr später geplant. So wurden die frisch gedruckten Bogen ruck, zuck mit dem Lkw der Gesellschaft von Selters nach Wiesbaden zum Binden gebracht. Von der Erstauflage in Höhe von 1 348 582 Exemplaren gelang es trotz der zusätzlichen Arbeit, 485 365 Bücher fertigzustellen, so daß sich das internationale Publikum auf Kongressen in mehreren Ländern über die Freigabe freuen konnte.

Verständlicherweise war der Umzug von gemischten Gefühlen begleitet. Für manch einen in der Bethelfamilie war Wiesbaden schon fast 35 Jahre das Zuhause. Aber schon bald gingen die einzelnen Bethelgebäude in Wiesbaden an verschiedene Käufer. Man behielt nur einen kleinen Teil der ehemaligen Buchbinderei, den man zu einem Königreichssaal umbaute. Ganz wie es für die internationale Einheit in Jehovas Volk typisch ist, sind in diesem Saal heute 4 Versammlungen untergebracht — zwei deutsche, eine englische und eine russische.

Die Bestimmungsübergabe

Nachdem das Bethel in Selters seinen letzten Schliff erhalten hatte, fand am 21. April 1984 das Programm zur Bestimmungsübergabe statt. Alle an dem Projekt Beteiligten hatten das starke Empfinden, daß Jehova mit ihnen war. Sie hatten bei ihm Leitung gesucht und ihm gedankt, wenn scheinbar unüberwindliche Hindernisse umgestoßen wurden. Sie hatten nun den greifbaren Beweis, daß sein Segen auf den fertiggestellten Gebäuden ruhte, die bereits zur Förderung der wahren Anbetung eingesetzt wurden (Ps. 127:1). Es war wirklich eine Zeit ganz besonderer Freude.

Zu Beginn der Woche öffneten sich die Türen für Besucher. Verschiedene Behörden, mit denen die Gesellschaft zu tun hatte, waren zu einer Besichtigung des Geländes eingeladen worden. Auch die Nachbarn waren willkommen. Ein Besucher verriet, er habe es seinem Pfarrer zu verdanken, daß er da sei. Der Pfarrer habe in den letzten Jahren so oft auf Jehovas Zeugen geschimpft, daß es die ganze Gemeinde schon nicht mehr hören könne. Am vorigen Sonntag habe er wieder einmal gegen die Zeugen gewettert und die Gemeinde ermahnt, die Einladung zum Tag der offenen Tür nicht anzunehmen. „Ich wußte von der Einladung“, erklärte der Besucher, „aber das Datum hatte ich verschwitzt. Hätte der Pfarrer letzten Sonntag nichts davon gesagt, hätte ich bestimmt nicht mehr dran gedacht.“

Nach den Vorbesichtigungen kam dann endlich der Tag der Bestimmungsübergabe. Als das Programm um 9.20 Uhr mit Musik begann, herrschte große Freude darüber, daß von den damals 14 Mitgliedern der leitenden Körperschaft 13 in der Lage gewesen waren, die Einladung zur Bestimmungsübergabe anzunehmen. Da nicht jeder, der auf die eine oder andere Weise zum Erfolg des Projekts beigetragen hatte, persönlich anwesend sein konnte, schaltete man Standleitungen zu 11 anderen Orten im ganzen Land. So kamen 97 562 Zuhörer in den Genuß des schönen Programms.

Zu denen, die an jenem denkwürdigen Tag in Selters versammelt waren, gehörten viele, die während des 2. Weltkriegs ihren Glauben in Konzentrationslagern unter Beweis gestellt hatten, und einige, die noch nicht lange aus der Haft in der DDR freigekommen waren. Das traf auf Ernst und Hildegard Seliger zu. Bruder Seliger hatte genau 60 Jahre zuvor den Vollzeitdienst aufgenommen. Er und seine Frau hatten unter dem nationalsozialistischen und dem kommunistischen Regime zusammen über 40 Jahre in Gefängnissen und Konzentrationslagern zugebracht. Nach der Bestimmungsübergabe schrieben sie: „Könnt Ihr Euch vorstellen, was wir empfanden, an diesem wunderbaren geistigen Festmahl im geistigen Paradies teilhaben zu dürfen? Von der ersten bis zur letzten Minute dieses herrlichen Programms klang es in unseren Ohren wie eine göttliche Sinfonie theokratischer Einheit und Harmonie.“ (Über Einzelheiten ihrer Glaubensprüfungen berichtet Der Wachtturm vom 15. Oktober 1975.)

Häuser ‘dem Namen Jehovas gebaut’

Die Leute staunen oft, wenn sie sehen, daß Jehovas Zeugen in wenigen Wochen — oder manchmal auch nur Tagen — einen Königreichssaal bauen, daß sie große Kongreßsäle in Freiwilligenarbeit errichten und Bethelkomplexe, die Millionen kosten, mit freiwilligen Spenden finanzieren. Einwohner Deutschlands hatten viele Gelegenheiten, solche Aktivitäten aus nächster Nähe zu beobachten.

Der erste Kongreßsaal in der Bundesrepublik wurde Anfang der 70er Jahre in Westberlin eingeweiht. Weitere folgten, so daß von 1986 an alle westdeutschen Kreiskongresse in eigenen Sälen stattfanden.

Bei diesen Projekten war der Segen Jehovas deutlich zu spüren. In München gelangte man durch die Kooperation der Stadtbehörden an ein äußerst preisgünstiges Grundstück für einen Kongreßsaal. Es grenzt an den landschaftlich schön gestalteten Olympiapark, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht das gigantische Olympiastadion.

Man war sorgsam darauf bedacht, die Kosten für den Bau und die Materialien gering zu halten. Da gerade ein Elektrizitätswerk an eine andere Stelle verlegt wurde, standen Schaltschränke und eine Telefonzentrale zum Verkauf, die man für weniger als 5 Prozent des Neupreises erwarb. Außerdem wurde zur rechten Zeit ein Gebäudekomplex abgerissen, so daß man Waschbecken, Toiletten, Türen, Fenster und Hunderte von Metern Wasser-, Gas- und Lüftungsrohre zu einem annehmbaren Preis erhielt. Gespart wurde auch dadurch, daß man Stühle und Tische selbst herstellte. Wegen landschaftlicher Auflagen der Stadt mußte man auf dem Kongreßsaalgelände 27 Linden pflanzen. Eine Baumschule, die den Betrieb einstellte, hatte gerade die erforderliche Zahl Bäume in exakt der richtigen Höhe, und das zu einem Zehntel des regulären Preises. Nachdem die Stadt München dazu übergegangen war, fast überall das Kopfsteinpflaster zu entfernen, waren Pflastersteine tonnenweise für so gut wie umsonst zu haben. Man pflasterte damit die Gehwege um den Saal herum und den zugehörigen Parkplatz.

Ähnliches ließe sich auch von den anderen Kongreßsälen in Deutschland berichten, von denen jeder individuell konzipiert wurde und auf seine Art schön ist. Und jeder ist, wie König Salomo vor über 3 000 Jahren vom Tempel in Jerusalem sagte, ein Haus, das ‘dem Namen Jehovas gebaut’ wurde (1. Kö. 5:5).

Daneben geht es mit dem Bau von Königreichssälen, entsprechend dem Bedarf der 2 083 Versammlungen in Deutschland, zügig voran. Derzeit bestehen 17 regionale Baukomitees. Bevor das erste 1984 gegründet wurde, besaßen Jehovas Zeugen in ganz Deutschland nur 230 Königreichssäle. Seither wurden bis August 1998 jährlich im Schnitt 58 neue Säle gebaut — das heißt mehr als einer pro Woche über einen Zeitraum von 12 Jahren.

Auch in Baufragen blicken Jehovas Zeugen in Deutschland über Staatsgrenzen hinaus. Sie gehören ja schließlich einer globalen Familie an. Über 40 International Servants aus Deutschland haben sich bereit erklärt, bei Bauarbeiten mitzuhelfen, ganz egal, wohin die Gesellschaft sie schicken würde und wie lange sie gebraucht würden. Weitere 242 Helfer haben solche Projekte in anderen Ländern unterschiedlich lange unterstützt.

Reisende Aufseher hüten die Herde

Ein wichtiger Faktor für das geistige Wohlergehen der Organisation ist die Arbeit der reisenden Aufseher. Diese Männer sind wahrhaftig Hirten der Herde Gottes (1. Pet. 5:1-3). Sie sind, wie sie der Apostel Paulus beschrieb, „Gaben in Form von Menschen“ (Eph. 4:8).

Nach dem 2. Weltkrieg besuchten reisende Aufseher die Versammlungen, erbauten sie und arbeiteten mit ihnen im Predigtdienst zusammen. Zu ihnen gehörten Brüder wie Gerhard Oltmanns, Josef Scharner und Paul Wrobel, die alle 1925 getauft worden waren. Otto Wulle und Max Sandner ließen sich beide in den 30er Jahren taufen.

Je nach Bedarf nahm man weitere Brüder in die Reihen der reisenden Aufseher auf. Vom Ende des 2. Weltkriegs bis in die Gegenwart standen in Westdeutschland mehr als 290 Brüder im Reisedienst und mehr als 40 in Ostdeutschland. Sie haben wirklich von sich selbst gegeben, um die Königreichsinteressen zu fördern. Für einige hat das bedeutet, daß sie ihre erwachsenen Kinder oder ihre Enkel nicht oft sehen konnten. Andere haben es neben ihren Aufgaben eingerichtet, ihren alten oder kranken Eltern regelmäßig Zeit zu widmen.

Einige reisende Prediger leisten ihre anstrengende und doch lohnende Arbeit bereits seit Jahrzehnten. Horst und Gertrud Kretschmer zum Beispiel haben seit Mitte der 50er Jahre schon ganz Deutschland bereist. Bruder Kretschmer war 1950 für kurze Zeit im Bethel Wiesbaden. Er weiß noch, wie Bruder Frost ihm liebevoll die Hand auf die Schulter legte und sagte: „Horst, mache dir nie Sorgen. Wenn du Jehova treu bleibst, er wird für dich sorgen. Ich habe dies so erlebt, du wirst es auch erleben. Bleib nur treu!“

Im Jahr 1998 gab es in Deutschland 125 Kreis- und Bezirksaufseher. Es sind reife Männer, die auf durchschnittlich 30 Jahre Vollzeitdienst für Jehova zurückblicken. Auch ihre Frauen setzen sich eifrig im Predigtdienst ein und spornen in den Versammlungen, die sie besuchen, besonders die Schwestern an.

Ein reisender Aufseher geht nach Brooklyn

Martin und Gertrud Pötzinger sind den Zeugen Jehovas in Deutschland ein Begriff. Beide hatten vor, während und nach Hitlers Drittem Reich Jehova treu gedient. Nach ihrer Freilassung aus der NS-Haft hatten sie den Vollzeitdienst unverzüglich wiederaufgenommen. Über 30 Jahre lang standen sie im Reisedienst und betreuten Kreise in ganz Deutschland. Sie erwarben sich die Liebe und Achtung Tausender von Zeugen.

Bruder Pötzinger besuchte 1959 die 32. Gileadklasse. Gertrud, die nicht Englisch sprach, begleitete ihn zwar nicht, freute sich aber mit ihm über dieses Vorrecht. Von ihrem Mann getrennt zu sein war für sie nichts Neues. Durch die NS-Verfolgung waren sie 9 Jahre gezwungenermaßen voneinander getrennt gewesen, und das nach erst wenigen Monaten Ehe. Jetzt, wo in Jehovas Organisation eine freiwillige Trennung wegen theokratischer Aktivitäten gefragt war, gab es kein Zögern, geschweige denn Klagen.

Keiner von beiden hatte Jehova je um persönlicher Vorteile willen gedient. Sie hatten theokratische Aufträge immer gern angenommen. Dennoch war die Überraschung groß, als sie 1977 eingeladen wurden, sich der Bethelfamilie in der Weltzentrale in Brooklyn (New York, USA) anzuschließen. Bruder Pötzinger wurde in die leitende Körperschaft berufen.

Das Ehepaar sollte im Bethel Wiesbaden bleiben, bis man eine Aufenthaltsgenehmigung für die Vereinigten Staaten beschafft hätte. Die Wartezeit dehnte sich länger aus als erwartet — auf mehrere Monate. Während Martin sein Englisch aufbesserte, klemmte sich auch seine tatkräftige Gertrud dahinter. Eine Frau in den Sechzigern lernt eine neue Sprache nicht spielend. Aber wenn es für den Dienst Jehovas war ...

Mehreren englischsprechenden Bethelmitarbeitern in Wiesbaden machte es große Freude, Martin und Gertrud beim Erlernen der Sprache behilflich zu sein. Jedesmal, wenn Gertrud über den Büchern verzweifelte, mahnte ihr Mann sie freundlich: “Take it easy, Gertrud, take it easy!” Doch Gertrud war nicht von der Sorte, die es leichtnahm. Ihr ganzes Leben im Dienst Jehovas war von ganzherzigem Einsatz und fester Entschlossenheit geprägt. Mit demselben Eifer machte sie sich also auch ans Englischlernen, und im November 1978, sobald die Einreisevisa da waren, begleitete sie ihren Mann nach Brooklyn.

Die Brüder in Deutschland verabschiedeten sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge, jedenfalls freuten sie sich mit ihnen über die neuen Dienstvorrechte. Es berührte sie tief, als sie etwa 10 Jahre später erfuhren, daß Martin am 16. Juni 1988 im Alter von 83 Jahren sein irdisches Leben beendet hatte.

Nach dem Tod ihres Mannes kam Gertrud zurück nach Deutschland, wo sie als Bethelmitarbeiterin dient. “Take it easy” ist immer noch nicht ihre Devise und wird es wohl auch nie sein. Neben ihrer Arbeit im Bethel verbringt Gertrud ihren Urlaub des öfteren im Hilfspionierdienst. (Näheres über die Pötzingers steht in den Wachtturm-Ausgaben vom 1. März 1970, 1. Oktober 1984 und 15. September 1988.)

Spezielle Schulen, um auf internationaler Ebene zu helfen

Im Jahr 1978, nicht lange bevor die Pötzingers nach Brooklyn gingen, wurde in Deutschland die Pionierdienstschule eingerichtet: ein 10tägiger praxisorientierter Lehrgang zur Stärkung der Pioniere. Diese Schule findet jedes Jahr, über das ganze Land verteilt, in verschiedenen Kreisen statt. Es werden alle Pioniere eingeladen, die schon mindestens ein Jahr in diesem Dienst stehen und die Schule noch nicht besucht haben. Bis 1998 hatten 16 812 an dem Lehrgang teilgenommen. Außer in Deutsch wurde der Unterricht auch in Englisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Serbokroatisch, Spanisch und Türkisch abgehalten.

Manche besuchten die Pionierdienstschule trotz sehr schwieriger Umstände. Gut eine Woche ehe Christine Amos an dem Lehrgang teilnehmen sollte, kam ihr Sohn auf dem Heimweg von einer Zusammenkunft bei einem Autounfall ums Leben. Wie sollte sie unter diesen Umständen etwas von der Schule haben? Wie würde ihr Mann zurechtkommen, wenn er währenddessen allein zu Hause bliebe? Die beiden entschieden, daß sie die Schule besuchen sollte, weil es ihr guttun würde, sich in geistige Dinge zu vertiefen. Ihr Mann wurde eingeladen, in dieser Zeit im Bethel mitzuarbeiten. Kurz darauf wurden sie beide gebeten, in Selters bei Bauarbeiten mitzuhelfen. Anschließend erlebten sie die Freude, bei Bauprojekten in Griechenland, Spanien und Simbabwe mit anzupacken. Und heute sind sie wieder Pioniere in Deutschland.

Einige, die auf der Pionierdienstschule waren, sind in der Lage gewesen, den Pionierdienst als Lebensziel zu verfolgen — ein Leben, das voller Herausforderungen steckt und zugleich große Befriedigung bringt. Inge Korth, Pionierin seit 1958, sagt: „Der Vollzeitdienst bietet mir eine besondere Hilfe, täglich meine tiefe Liebe und Dankbarkeit Jehova gegenüber zu zeigen.“ Waldtraut Gann, die 1959 in den Pionierdienst eintrat, erklärt: „Der Pionierdienst ist ein Schutz in diesem bösen System. Es ist etwas Besonderes, Jehovas Hilfe zu verspüren, was zu echtem Glück und Herzensfrieden führt. Ja es ist mit keinem materiellen Wert zu vergleichen.“ Martina Schaks, die zusammen mit ihrem Mann Pionier ist, meint: „Der Pionierdienst ist für mich eine ‚Schule fürs Leben‘ in vielen Eigenschaften, zum Beispiel Selbstdisziplin und Geduld. Als Pionier bin ich Jehova und seiner Organisation ganz nahe.“ Bei anderen war der Pionierdienst ein Sprungbrett für den Bethel-, Missionar- oder Kreisdienst.

Um dem dringenden Bedarf an Missionaren abzuhelfen, wurde 1981 in Deutschland eine Außenstelle der Gileadschule eingerichtet, so daß deutschsprachige Pioniere an diesem ausgezeichneten Lehrgang teilnehmen konnten. Da der neue Bethelkomplex in Selters noch nicht fertig war, fanden die ersten beiden Klassen in Wiesbaden statt. Auf den Umzug nach Selters folgten 3 weitere Klassen. Neben den 100 Studenten aus Deutschland besuchten deutschsprechende Studenten aus Luxemburg, der Schweiz und den Niederlanden diese 5 Klassen. Nach der Abschlußfeier wurden die Studenten in insgesamt 24 Länder zerstreut — eingeschlossen sind Gebiete in Afrika, Lateinamerika, Osteuropa und im pazifischen Raum.

Mitte der 70er Jahre gab es 183 Vollzeitdiener aus Deutschland, die die Wachtturm-Bibelschule Gilead absolviert hatten. Ende 1996 war die Zahl, zum Teil durch die Außenstelle der Gileadschule, auf 368 angestiegen. Wie schön zu wissen, daß im Januar 1997 rund die Hälfte dieser Absolventen immer noch als Missionare im Ausland diente! Zu ihnen gehören Paul Engler, der seit 1954 in Thailand tätig ist; Günter Buschbeck, der von 1962 an in Spanien diente, bis er 1980 nach Österreich kam; Karl Sömisch, der in Indonesien und im Nahen Osten predigte, bis er nach Kenia wechselte; Manfred Tonak, der nach seiner Tätigkeit in Kenia gebeten wurde, im Zweigbüro von Äthiopien mitzuhelfen, und Margarita Königer, die im Verlauf von 32 Jahren Missionardienst nach Madagaskar, Kenia, Benin und Burkina Faso kam.

Noch ein anderer Lehrgang — die Schule zur dienstamtlichen Weiterbildung für unverheiratete Älteste und Dienstamtgehilfen — findet in Deutschland seit 1991 in gewissen Abständen statt. Deutschsprechende Brüder aus Belgien, Dänemark, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz, der Tschechischen Republik und Ungarn haben sich Brüdern aus Deutschland angeschlossen, um von dieser erstklassigen Schulung zu profitieren. Und nach der Abschlußfeier haben einige der Absolventen zusätzliche Verantwortung übernommen und sind nach Afrika, Osteuropa oder in andere Gebiete gegangen, wo spezielle Hilfe gebraucht wurde.

Auch das Bethelheim und die Druckerei in Selters haben sich praktisch als „Schule“ erwiesen, die Brüder dafür ausgerüstet hat, in Osteuropa auszuhelfen, sobald sich die Möglichkeit dazu auftat. Durch das Bethelleben haben sie gelernt, mit allen möglichen Charakteren zusammenzuarbeiten, und ihnen ist klargeworden, daß Jehova die verschiedensten Menschen trotz ihrer Unvollkommenheit in seinem Werk gebrauchen kann. Brüder aus der Dienstabteilung haben beobachtet, daß sich Probleme durchweg lösen lassen, wenn man biblische Grundsätze anwendet und gewissenhaft die Anweisungen der leitenden Körperschaft befolgt. Von Mitarbeitern, die selbst unter starkem Druck die Frucht des Geistes Gottes offenbarten, haben sie Ausgeglichenheit und absolutes Vertrauen zu Jehova gelernt. Bestimmt wertvolle Lehren, die sie den Brüdern in anderen Zweigen vermitteln können.

Durch Information und Liebe eine Barriere überwunden

In den vergangenen 10 Jahren wurden Jehovas Zeugen im Rahmen eines weltweiten Lehrprogramms in ihrem Entschluß unterstützt, das biblische Blutverbot zu befolgen (Apg. 15:28, 29). Damit war verbunden, eine Mauer aus Vorurteilen und Fehlinformationen abzubauen. Im Zuge dieses Programms wurde 1990 in Deutschland der Krankenhausinformationsdienst ins Leben gerufen. Im November desselben Jahres besuchten 427 Brüder, zum großen Teil aus Deutschland, aber auch aus 9 weiteren Ländern, ein Seminar, das in Deutschland abgehalten wurde. Dadurch wurde die internationale Zusammenarbeit gefestigt. Die Ältesten schätzten die gebotene Hilfe sehr. Ein Ältester aus Mannheim bemerkte: „Wir wurden ausgerüstet, unseren Standpunkt unbeirrbar und respektvoll darzulegen, ohne uns durch Angst lähmen zu lassen.“ Ein Ältester aus Österreich sagte: „Ich habe noch nie ein Seminar miterlebt, bei dem derart breitgefächerte Informationen so einfach und unkompliziert dargelegt wurden.“

Seither fanden noch etliche andere Seminare statt, bei denen die inzwischen 55 Krankenhaus-Verbindungskomitees in Deutschland geschult wurden, sich um Zeugen Jehovas zu kümmern, die eine medizinische Behandlung ohne Blut brauchen. Die Arbeit dieser Komitees hat viel Gutes bewirkt. Bis August 1998 hatten über 3 560 Ärzte in ganz Deutschland ihre Kooperation bei der transfusionslosen Behandlung von Zeugen Jehovas zugesagt. In dieser Zahl enthalten ist ein Viertel der Ärzte, die vor einigen Jahren von Focus als „die 1 000 besten Ärzte“ Deutschlands aufgeführt wurden.

Im Januar 1996 begannen die Krankenhaus-Verbindungskomitees, das speziell ausgearbeitete Handbuch Schutz der Familie und medizinische Behandlung für Zeugen Jehovas zu verteilen. (Dieses ansprechend gestaltete Handbuch, das ausschließlich für medizinisches Personal und für Amtspersonen konzipiert wurde, enthält Informationen über medizinische Alternativen zu Bluttransfusionen. In einer größeren Aktion hat man sich bemüht, es Richtern, Sozialarbeitern, Neonatologen und Kinderärzten zu übergeben.) Die meisten Richter äußerten sich anerkennend, und häufig hörte man Kommentare über die hohe Qualität und Praxisbezogenheit des Buches. Viele waren überrascht zu erfahren, daß für Personen, die Bluttransfusionen ablehnen, zahlreiche Behandlungsmethoden ohne Blut zur Verfügung stehen. Ein Richter in Nördlingen sagte: „Das ist genau das, was ich brauche.“ Ein Professor für bürgerliches Recht an der Universität des Saarlandes benutzte bei einer Gruppe fortgeschrittener Studenten Material aus dem Handbuch als Grundlage für den Unterricht und für ein schriftliches Examen.

Da Krankenhaus-Verbindungskomitees mittlerweile weltweit tätig sind, ist in Notfällen internationale Zusammenarbeit möglich. In Situationen, wo bestimmte ärztlich indizierte Medikamente in dem Land, wo sich der Patient befand, nicht erhältlich waren, gelang es durch unser internationales Netzwerk, sie in Deutschland zu beschaffen und dort hinzuschicken. Außerdem sorgte man dafür, daß Brüder und Schwestern aus über einem Dutzend Länder mit kooperativen Ärzten in Deutschland Kontakt aufnehmen konnten, um sich auf eine Behandlung zu einigen, die ihren finanziellen Möglichkeiten entsprach.

Natürlich profitieren auch deutsche Zeugen Jehovas von dieser internationalen Zusammenarbeit. 1995 hatte eine Schwester während ihres Urlaubs in Norwegen einen Unfall und wurde in ein Krankenhaus eingeliefert. Als ihr Sohn in Deutschland davon erfuhr, bat er sofort den Krankenhausinformationsdienst um Hilfe. Dieser unterrichtete das norwegische Zweigbüro. Tags darauf erhielt die Schwester Besuch von einem norwegischen Zeugen, der 130 Kilometer gefahren war, um zur besseren Verständigung eine deutschsprechende interessierte Frau zu holen. Später schrieb der Sohn in einem Dankbrief: „Welch eine Organisation — welche Liebe! ... Oft reichen die Worte gar nicht aus, um die Gefühle auszudrücken. So etwas ist wirklich einmalig.“

So ist man durch Information und Liebe in einem Bereich, wo es eine gewaltige Hürde zu überwinden galt, ein großes Stück weitergekommen. Kurz davor wurde noch eine andersartige Barriere aus dem Weg geräumt.

Plötzlich — die Berliner Mauer fällt!

Die Plötzlichkeit dieses Geschehens versetzte die Welt in Staunen. Rund um den Erdball verfolgte man die Ereignisse am Fernsehschirm. Tausende in Berlin feierten lautstark. Die Grenze zwischen Ost und West existierte nicht mehr. Der Tag: 9. November 1989.

Über 25 Jahre zuvor, in den Morgenstunden des 13. August 1961, hatten die Berliner Bürger mit Entsetzen festgestellt, daß die Ostberliner Behörden eine Mauer bauten, die den kommunistisch kontrollierten Sektor vom Rest der Stadt abschnitt. Berlin wurde in Ost und West gespalten und spiegelte damit die Situation der Staaten DDR und Bundesrepublik Deutschland wider. Noch dramatischer als alles andere war vielleicht, daß die Berliner Mauer zum Symbol des Kampfes zwischen den beiden Supermächten im kalten Krieg wurde.

Am 12. Juni 1987, gut zwei Jahre vor den verblüffenden Ereignissen von 1989, forderte US-Präsident Ronald Reagan — den Blick auf das Brandenburger Tor gerichtet und die Berliner Mauer im Rücken —: „Mr. Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor! Mr. Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer ab.“ Gab es aber irgendein Anzeichen, daß man dieser Forderung nachgeben würde? War es mehr als Rhetorik des kalten Krieges? Eigentlich nicht. Noch Anfang 1989 sagte DDR-Chef Erich Honecker wie zur Antwort, die Mauer werde „in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen“.

Doch mit unerwarteter Plötzlichkeit öffnete sich das Brandenburger Tor, und die Berliner Mauer zerbröselte. Ein Bethelmitarbeiter in Selters erinnert sich, daß er am Abend des 9. November, an einem Donnerstag, nach seiner Rückkehr von einer Zusammenkunft zu Hause den Fernseher anschaltete, um sich die Spätnachrichten anzusehen. Ungläubig verfolgte er die Berichte über die Öffnung der Grenze zwischen Ost- und Westberlin. Zum erstenmal nach 27 Jahren strömten Ostberliner ungehindert nach Westberlin. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen: Autos fuhren, begleitet von freudigem Hupkonzert, über die Grenze, während sich immer mehr Westberliner, die zum Teil aus dem Bett gesprungen waren, in Richtung Grenze aufmachten, um die unerwarteten Besucher zu umarmen. Die Tränen liefen nur so. Buchstäblich über Nacht war die Mauer gefallen!

In den nächsten 24 Stunden konnten sich Menschen rund um die Erde nur schwer vom Fernseher losreißen. Vor ihren Augen spielte sich Geschichte ab. Was bedeutete das alles für Jehovas Zeugen in Deutschland? Was würde es für Jehovas Zeugen in aller Welt bedeuten?

Ein Trabi steht vor der Tür

Am Samstag darauf, kurz vor 8 Uhr, war ein Bethelmitarbeiter gerade auf dem Weg zur Arbeit, als er Karlheinz Hartkopf begegnete, einem anderen Mitarbeiter, der jetzt in Ungarn dient. Aufgeregt meinte der Bruder: „Ich bin sicher, es dauert nicht lange, bis die ersten Brüder aus der DDR in Selters auftauchen.“ Bruder Hartkopf erwiderte in seiner ruhigen, nüchternen Art: „Sie sind schon da.“ Tatsächlich waren in den frühen Morgenstunden zwei Brüder mit ihrem Zweitakt-Trabi aus der DDR angekommen, hatten vor dem Betheleingang geparkt und warteten auf den Arbeitsbeginn.

Die Neuigkeit verbreitete sich im Bethel wie ein Lauffeuer. Doch ehe alle die Gelegenheit hatten, die unerwarteten, wenngleich willkommenen Besucher zu sehen und zu begrüßen, hatte der mit Literatur vollgepackte Trabi auch schon den Heimweg in die DDR angetreten. Zwar war dort die Literatur offiziell noch verboten, wie überhaupt das Werk der Zeugen Jehovas, aber durch die Begeisterung der Stunde erhielten die Brüder neuen Mut. „Wir müssen morgen früh zur Zusammenkunft zurück sein“, erklärten sie. Man kann sich vorstellen, wie sich die Versammlung freute, als diese Brüder mit Kartons voller Literatur eintrafen, die lange Zeit so rar gewesen war.

In den nächsten Wochen strömten Tausende Ostdeutsche über die Grenze nach Westdeutschland, viele zum erstenmal in ihrem Leben. Sie genossen ganz offensichtlich ihre lang entbehrte Bewegungsfreiheit. An der Grenze wurden sie von winkenden Westdeutschen in Empfang genommen. Auch Zeugen Jehovas waren unter denen, die die Ankommenden begrüßten, allerdings mit etwas Gehaltvollerem als sichtbaren Gefühlsregungen. Sie verbreiteten großzügig biblische Literatur unter den Besuchern aus dem Osten.

In manchen Grenzorten gaben sich die Versammlungen besondere Mühe, auf die anreisenden Ostdeutschen zuzugehen. Da die Literatur der Zeugen Jehovas jahrzehntelang verboten gewesen war, wußten viele kaum etwas oder gar nichts davon. Statt Haus-zu-Haus-Dienst war jetzt „Trabi-zu-Trabi-Dienst“ gefragt. Die Leute wollten alles kennenlernen, was neu war, auch in puncto Religion. Manchmal sagten die Verkündiger einfach: „Diese beiden Zeitschriften haben Sie wahrscheinlich noch nie gelesen, weil sie in Ihrem Land fast 40 Jahre verboten waren.“ Oft wurde entgegnet: „Wenn sie verboten waren, müssen sie was taugen. Geben Sie mal her.“ Zwei Verkündiger in der Grenzstadt Hof verbreiteten jeweils bis zu 1 000 Zeitschriften im Monat. Es versteht sich von selbst, daß die Zeitschriftenvorräte in den umliegenden Versammlungen bald aufgebraucht waren.

Unterdessen freuten sich die ostdeutschen Zeugen an ihrer neugewonnenen Freiheit, wenn auch zunächst noch etwas verhalten. Wilfried Schröter, der die Wahrheit 1972 unter Verbot kennengelernt hatte, erinnert sich: „An den ersten Tagen nach dem Mauerfall war natürlich noch eine gewisse Furcht dabei, es könnte alles wieder rückgängig gemacht werden.“ Knapp zwei Monate später besuchte er einen Kreiskongreß im Berliner Kongreßsaal. Seine Eindrücke schilderte er wie folgt: „Das erste Mal Gemeinschaft pflegen mit so vielen Brüdern war einfach überwältigend. Beim Singen der Königreichslieder standen mir die Tränen in den Augen, und vielen anderen Brüdern erging es ebenso. Die Freude, Kongresse live mitzuerleben, war riesengroß.“

Eine ähnlich dankbare Äußerung kam von Manfred Tamme. Während des Verbots fanden die Zusammenkünfte im kleinen Kreis statt, und man brauchte keine Lautsprecheranlage. Er erzählte: „Obwohl ich ja über 30 Jahre im Sonderdienst gestanden hatte, konnte ich nun das erste Mal in meinem Leben in ein Mikrofon sprechen. Dabei erinnere ich mich, wie ich erschrocken war, als ich meine Stimme über Lautsprecher hörte.“ Dennoch sagte er: „Für mich war es ein wunderbares Erlebnis, plötzlich in einem gemieteten Saal mit der ganzen Versammlung zusammenzusein.“

Schön war es auch, noch ganz andere Stimmen zu hören, beispielsweise die, die Manfred einige Monate später vernahm. Er berichtete: „Im Januar 1990 war ich wegen einer medizinischen Behandlung in einer Sauna. Dort war auch unser ehemaliger ‚Abschnittsbevollmächtigter‘ der Volkspolizei. Während eines freundlichen Gespräches sagte er zu mir: ‚Manfred, ich habe erkannt, wir haben gegen die Falschen gekämpft.‘ “

Geistige Speise in Hülle und Fülle

„Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jeder Äußerung, die durch den Mund Jehovas ausgeht.“ Mit dieser Grundwahrheit, die Jesus Christus aus den inspirierten Hebräischen Schriften zitierte, sind alle Zeugen Jehovas gut vertraut (Mat. 4:4; 5. Mo. 8:3). Auf Grund liebevoller Hilfe der internationalen Bruderschaft erhielten die Zeugen in Ostdeutschland sogar in den Jahren des Verbots geistige Speise, allerdings in begrenzten Mengen. Wie sie sich doch nach dem geistigen Überfluß sehnten, den ihre Glaubensbrüder in anderen Ländern hatten!

Sobald die Berliner Mauer gefallen war, nahmen einzelne Zeugen stapelweise Literatur mit in den Osten. Ungefähr 4 Monate später, am 14. März 1990, wurde Jehovas Zeugen in der DDR die offizielle Anerkennung zugesprochen. Jetzt konnte die Gesellschaft Literatur direkt liefern. Am 30. März verließ ein Lkw mit 25 Tonnen geistiger Speise Selters in Richtung Osten. Das 1991 Britannica Book of the Year merkte dazu an: „Innerhalb von nur zwei Monaten versandte das westdeutsche Zweigbüro der Watchtower Society 275 Tonnen biblische Literatur, darunter 115 000 Bibeln, allein nach Ostdeutschland.“

Etwa um diese Zeit schrieb ein Zeuge aus Leipzig einem Glaubensbruder in Westdeutschland: „Vor einer Woche haben wir noch Speise in kleinen Mengen heimlich rangeholt; demnächst kommt ein Lkw mit 4 Tonnen!“

„Da die erste Literatursendung sehr schnell kam“, erzählte Heinz Görlach aus Chemnitz, „waren wir noch nicht so richtig darauf vorbereitet. Nachdem die erste Sendung eingetroffen war, konnte ich nur mit großer Mühe mein Bett erreichen — das gesamte Schlafzimmer stand voll mit Kartons. Mir war, als schliefe ich in einer Schatzkammer.“

Die Mitarbeiter in Selters erhielten einen flüchtigen Eindruck davon, was die neue Situation für jemand bedeutete, der so lange von dem abgeschnitten war, was die Zeugen in Freiheit oft für selbstverständlich hielten. Ein Druckereiaufseher berichtete: „Ein älterer, einfach gekleideter Bruder stand nachdenklich an der Auslage unserer Maschine. Die Besuchergruppe, der er angehörte, war schon weitergegangen, und er schaute gedankenversunken auf unsere volle Geschwindigkeit laufende Zeitschriftenauslage. Dann näherte er sich einem unserer Mitarbeiter, und man konnte sehen, daß er tief bewegt war — er hatte Tränen in den Augen. Er wollte etwas in gebrochenem Deutsch sagen, doch seine Stimme versagte. Wir verstanden jedoch sein von Herzen kommendes Lächeln. Dann holte er aus der Innentasche seines Jacketts ein paar Blätter, gab sie uns und ging rasch weiter. Was hatte er uns gegeben? Nun, es war eine auf kariertem Schulheftpapier kopierte, kaum leserliche, abgegriffene Wachtturm-Ausgabe in Russisch. Wie groß mag der Arbeitsaufwand für die Herstellung dieser Zeitschrift gewesen sein? Wir wissen es nicht, doch mit Sicherheit ein Vielhundertfaches des Sekundenbruchteils, den wir für die Herstellung einer unserer Zeitschriften benötigen.“

Die Zeugen in den einzelnen Studiengruppen mußten sich nun nicht mehr mit ein paar kleingedruckten oder handgeschriebenen Zeitschriften zufriedengeben, die sie nur wenige Tage behalten durften. Jetzt hatte jeder sein eigenes Exemplar — mit farbigen Illustrationen — und noch zusätzliche für den Predigtdienst.

Umstellung auf freie Religionsausübung

Die größere Freiheit brachte ihre eigenen Probleme mit sich. Das Predigen unter staatlichem Verbot erforderte Mut. Man lernte dadurch auch, sich ganz auf Jehova zu verlassen. Nach Aufhebung des Verbots sagte jedoch Ralf Schwarz, ein christlicher Ältester in Limbach-Oberfrohna: „Wir müssen jetzt noch mehr aufpassen, damit wir uns nicht vom Materialismus und von den Sorgen des Lebens gefangennehmen lassen.“ Nach der Wiedervereinigung im Oktober 1990 zogen einige Familien im Osten in eine einfachere Wohnung, um wegen der steigenden Mieten keine Überstunden machen zu müssen und keine Zusammenkünfte zu versäumen (Mat. 6:22, 24).

Selbst in den schwierigen Jahren unter kommunistischer Herrschaft hatte man den Predigtdienst nicht eingestellt. Sogar der Haus-zu-Haus-Dienst ging weiter — allerdings war man vorsichtig, indem man zum Beispiel ein Haus in einer Straße bearbeitete und dann ein anderes Haus in einer anderen Straße. Manche taten das auch in Zeiten, wo die Gefahr der Inhaftierung am größten war. Martin Jahn, der erst 11 war, als das Verbot erlassen wurde, schilderte einige der Veränderungen, auf die man sich nun einzustellen hatte: „Sämtliche Predigtdienstgebiete mußten neu eingeteilt werden, damit die Verkündiger jetzt zusammenhängende Gebiete bearbeiten konnten. Da das alte System mit der Arbeit nach bestimmten Hausnummern beziehungsweise Etagen in Fleisch und Blut übergegangen war, bedurfte es bei einigen schon etwas Geduld, sich der neuen Situation anzupassen. Neu war sowohl für die Verkündiger als auch für die Interessierten die Situation, daß wir Literatur nicht mehr ausleihen, sondern abgeben. Da man das ja anders gewohnt war, passierte es hin und wieder, daß Verkündiger am Ende des Dienstes mehr Literatur in der Tasche hatten als beim Beginn.“

Auch die Einstellung der Menschen änderte sich. In den Jahren des Verbots sahen viele Jehovas Zeugen als Helden an, weil sie den Mut hatten, für ihre Überzeugung einzustehen. Das trug ihnen Achtung ein. Als dann größere Freiheit herrschte, hießen etliche die Zeugen mit einer gewissen Begeisterung willkommen. Doch nach einigen Jahren wendete sich das Blatt. Die Leute gingen in dem für die Marktwirtschaft typischen Lebensstil auf. Manch einer betrachtete die Besuche der Zeugen schließlich als Ruhestörung, wenn nicht gar Belästigung.

Das Zeugnisgeben unter Verbot verlangte Mut. Aber die Umstellung auf die neue Situation erforderte nicht weniger Entschlossenheit. Viele stimmen dem zu, was ein Aufseher in einem westeuropäischen Land sagte, wo das Werk lange verboten war: „Die Tätigkeit unter Verbot ist leichter als die in Freiheit.“

Gegnerschaft kann das Werk nicht lahmlegen

Obwohl das Predigen der guten Botschaft in Ostdeutschland mit neuem Schwung in Angriff genommen wurde, kümmerte sich die Geistlichkeit der Christenheit zunächst recht wenig darum. Als dann jedoch zu beobachten war, daß die Leute den Zeugen Jehovas tatsächlich zuhörten, machte sich unter den Geistlichen Unbehagen breit. Wie das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt schrieb, behauptete ein Pfarrer in Dresden, der sich als Experte für Religionen einstuft, folgendes: „Bei den Zeugen Jehovas geht es zu wie in einer kommunistischen Partei.“ Anstatt also den Zeugen zu unterstellen, sie seien antikommunistische amerikanische Spione, wie man es in den 50er Jahren getan hatte, versuchten die Geistlichen jetzt, Jehovas Zeugen mit den Kommunisten über einen Kamm zu scheren. Wer natürlich wußte, daß Jehovas Zeugen unter dem kommunistischen Regime 40 Jahre verboten waren, dem war klar, daß es sich hier um eine grobe Verdrehung der Tatsachen handelte.

Was bezweckte man damit? Die Geistlichen hofften, Jehovas Zeugen würden wie bereits in der NS-Zeit und dann unter der kommunistischen Herrschaft erneut verboten werden. Obwohl religiöse Elemente, unterstützt von Abtrünnigen, verhindern wollten, daß Jehovas Zeugen in den Genuß verfassungsmäßig geschützter Freiheiten kamen, schöpften die Zeugen die Gelegenheiten zum Zeugnisgeben voll aus, ganz wie Jesus Christus es geboten hatte (Mar. 13:10).

Wie einige die Wahrheit annahmen

Nicht wenige, die günstig auf die Königreichsbotschaft reagierten, waren stark in das alte System eingebunden. Egon war 38 Jahre lang Volkspolizist. Es freute ihn gar nicht, daß seine Frau anfing, mit Zeugen Jehovas die Bibel zu studieren. Deren freundliches, liebevolles und diszipliniertes Verhalten beeindruckte ihn jedoch, wie auch die aktuellen Erwachet!-Artikel, die sie oft vorbeibrachten. Als er mit seiner Frau einen Tagessonderkongreß besuchte, war er schockiert, einem Zeugen Jehovas gegenüberzustehen, den er früher einmal verhaftet hatte. Man kann sich unschwer vorstellen, daß er sich in seiner Haut nicht wohl fühlte und Gewissensbisse hatte. Aber trotz der vergangenen Vorkommnisse entstand zwischen beiden eine Freundschaft. Mittlerweile sind Egon und seine Frau getaufte Zeugen.

Günter war 19 Jahre lang Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes und stand sogar im Rang eines Majors. Verbittert und enttäuscht nach dem Zusammenbruch des Systems, für das er so lange gearbeitet hatte, begegnete er 1991 zum erstenmal Zeugen Jehovas. Ihr Auftreten und ihr Verständnis für seine Probleme imponierten ihm. Es wurde ein Bibelstudium begonnen, und obschon er Atheist war, gelangte er zu der Überzeugung, daß Gott existiert. 1993 war er für die Taufe bereit. Heute ist er glücklich, sich für Gottes Königreich engagieren zu können.

Ein anderer Mann, der nicht an Gott glaubte und den Kommunismus aus voller Überzeugung als die einzige Hoffnung für die Menschheit ansah, hatte keine Skrupel, sich in die Organisation Jehovas einzuschleusen, um Informationen über ihre Tätigkeit an das Ministerium für Staatssicherheit weiterzugeben. Nach seiner „Taufe“ im Jahr 1978 lebte er 10 Jahre mit einer Lüge. Heute gesteht er: „Durch das Verhalten der Zeugen Jehovas, das ich in der Praxis erleben konnte, und das Studium des Schöpfungs- und später des Offenbarungs-Buches mußte ich erkennen, daß vieles von dem nicht stimmte, was mir über die Zeugen Jehovas von den Feinden gesagt wurde. Die Beweise für die Existenz eines Schöpfers wurden für mich erdrückend.“ Kurz vor dem Fall der Berliner Mauer stand er vor einer schweren Wahl: Sollte er sich unter irgendeinem Vorwand vom Volk Jehovas zurückziehen und weiter ein System unterstützen, an das er nicht mehr glaubte, oder als Verräter Farbe bekennen und sich dann bemühen, ein wahrer Diener Jehovas zu werden? Er entschied sich für letzteres. Seine aufrichtige Reue mündete in ein Bibelstudium und eine zweite Taufe, diesmal auf der Grundlage genauer Erkenntnis und echter Hingabe.

Jetzt konnte man darüber reden

Nachdem das Verbot aufgehoben worden war, konnten Zeugen Jehovas aus dem Osten offener über ihre Erlebnisse während des kommunistischen Regimes reden. An der Feier zur Bestimmungsübergabe eines Verwaltungsgebäudes der Zeugen Jehovas in Berlin am 7. Dezember 1996 nahmen mehrere Älteste teil, die Entscheidendes geleistet hatten, um die Herde in Ostdeutschland geistig stark zu erhalten. Jetzt schwelgten sie in der Vergangenheit.

Wolfgang Meise, seit 50 Jahren Zeuge Jehovas, erinnerte sich an einen Vorfall im Juni 1951. Er war damals 20 Jahre alt. In einem stark publizierten Schauprozeß wurde er zu 4 Jahren Gefängnis verurteilt. Als er und mehrere andere Brüder abgeführt wurden, waren sie mit einemmal von zirka 150 Zeugen Jehovas umringt, die den Prozeß ebenfalls mitverfolgt hatten. Sie schüttelten ihnen die Hände und stimmten ein Königreichslied an. Aus allen Fenstern des Gerichtsgebäudes reckten Leute die Köpfe, weil sie sehen wollten, was da vor sich ging. Die Behörden wünschten freilich nicht, daß in der Öffentlichkeit solche Bilder haftenblieben. Damit wurden diese Art Schauprozesse eingestellt.

Egon Ringk wußte noch, daß in der Anfangszeit des Verbots einzelne Wachtturm-Artikel mit 6 bis 9 Durchschriften abgetippt wurden. Er erzählte: „Um die Versammlungen mit geistiger Speise zu versorgen, stellte sich ein Bruder, der Kraftfahrer in Westberlin war und ständig zur DDR pendelte, zur Verfügung. Das sogenannte Umladen der Speise dauerte meist nur 3 bis 4 Sekunden. Außerdem wechselten zwei gleich große Teddys die Fahrzeuge. Diese hatten einiges im Bauch und erzählten zu Hause wichtige Botschaften und neue Vereinbarungen.“ (Vergleiche Hesekiel 3:3.)

Man berichtete über den Mut von Kurieren, die vor dem Mauerbau in Westberlin Literatur holten und sie in die DDR schmuggelten. Natürlich mußte man damit rechnen, eines Tages von Westberlin abgeschnitten zu werden. Um diese Möglichkeit zu erörtern, wurden eine Reihe ostdeutsche Brüder zu einer Zusammenkunft am 25. Dezember 1960 eingeladen. „Das war eindeutig eine Führung Jehovas“, erklärte Bruder Meise, „denn am 13. August 1961 wurde plötzlich die Mauer gebaut, aber unsere Organisation stand.“

Hermann Laube erwähnte, daß er als Kriegsgefangener in Schottland zum erstenmal mit der Wahrheit in Berührung kam. Zurück in Ostdeutschland, erkannte er mit dem Verbot die Notwendigkeit, für seine Glaubensbrüder soviel geistige Speise wie möglich zu beschaffen. Also machten sich die Zeugen selbst ans Drucken und benutzten dazu eine behelfsmäßige Druckpresse. „Doch ohne Papier nützt die beste Druckpresse nichts“, sagte Bruder Laube noch in Gedanken bei dem Tag, wo er erfuhr, daß nur noch Papier für 3 Ausgaben da war. Was nun?

Bruder Laube fuhr fort: „Wenige Tage darauf klopfte es nachts an unserer Dachrinne. Ein Bruder aus Bautzen steht draußen und meint: ‚Du bist doch Buchdrucker. Auf der Aschehalde in Bautzen liegen ganze Rollen Zeitungspapier. Es sind Rollenreste aus der Bautzener Zeitungsdruckerei. Die wollen sie in der Asche vergraben. Könntet ihr so etwas gebrauchen?‘ “

Man verlor keine Zeit. „Noch in der Nacht trommelte ich eine Truppe zusammen, und wir fuhren nach Bautzen. Nein, das waren ja nicht nur einige Rollen, sondern fast 2 Tonnen Papier. Was unsere alten klapprigen Autos beim Abtransport leisten mußten, grenzte ans Sagenhafte. In kurzer Zeit war das ganze Papier abtransportiert. Dieses Papier reichte, bis wir durch die Gesellschaft mit unseren Dünndruckausgaben versorgt wurden.“

Die Umstände verlangten größte Achtsamkeit, damit die Identität einzelner Mitglieder der Herde geheim blieb. Rolf Hintermeyer erinnerte sich: „Einmal hatte man mich unterwegs nach einem Treff mit Brüdern abgefangen und zum Verhör in ihr Gebäude gebracht. Nun hatte ich da einige Zettel mit Adressen und anderen Informationen bei mir. Im Gebäude mußte ich eine Wendeltreppe hochsteigen. Das war die Gelegenheit, die Zettel zu verschlucken. Es war aber ziemlich viel, und so ging das nicht so schnell. Man hatte das mitbekommen und packte mich am Hals, sowie ich oben ankam. Ich würgte mit den Händen mit und sagte dann nach einer Zeit: ‚Jetzt ist es runter.‘ Daraufhin ließen sie los, und ich konnte es nun, gut aufgeweicht und zerkleinert, schlucken.“

Horst Schleussner nahm die Wahrheit Mitte der 50er Jahre an, zur Zeit der heftigsten Verfolgung. Er wußte, wovon er sprach, als er sagte: „Gewiß hat Jehova Gott seine Diener während der annähernd 40 Jahre, die sie in Ostdeutschland unter Verbot arbeiteten, liebevoll beschützt.“

Eine Siegesfeier in Berlin

Jetzt, wo die Ära kommunistischer Unterdrückung vorüber war, mußte einfach gefeiert werden. Vor allem wollte man Jehova unbedingt in größerem, öffentlichen Rahmen für die Gelegenheit danken, ihm nun mit mehr Freiheit dienen zu können.

Im November 1989, kaum war die Berliner Mauer gefallen, gab die leitende Körperschaft Anweisungen, einen internationalen Kongreß in Berlin zu planen. Die Kongreßorganisation funktionierte im Handumdrehen. Die verantwortliche Gruppe traf sich am Abend des 14. März 1990, um die Kongreßvorbereitungen zu besprechen. Helmut Martin weiß noch, daß ihn der Kongreßaufseher, Dietrich Förster, bat, den versammelten Brüdern mitzuteilen, daß am selben Tag Jehovas Zeugen in Ostdeutschland die staatliche Anerkennung erhalten hatten. Das Verbot war offiziell zu Ende!

Da der Kongreß relativ kurzfristig geplant wurde, war das Olympiastadion nicht mehr an einem Wochenende zu haben. Deshalb wurde der Kongreß für Dienstag, den 24. Juli, bis Freitag, den 27. Juli, angesetzt. Als das Stadion freigegeben wurde, hatte man nur einen Tag Zeit für den Aufbau und hinterher nur ein paar Stunden, um alles abzubauen.

Deshalb waren am Montag, den 23. Juli, schon um 5 Uhr morgens Hunderte von Freiwilligen im Stadion. Gregor Reichart, Bethelmitarbeiter in Selters, sagte: „Mit Schwung machten sich die Brüder und Schwestern aus der DDR an die Arbeit, so, als ob sie schon immer dabeigewesen wären.“ Ein Platzmeister des Stadions meinte zufrieden: „Durch eure Leute wird zum erstenmal das Stadion wirklich gründlich saubergemacht.“

Zirka 9 500 Besucher aus Ostdeutschland reisten mit 13 Sonderzügen an. Andere kamen mit 200 gemieteten Bussen. Ein Ältester berichtete, er habe bei den Vereinbarungen für einen Sonderzug einem Bahnbeamten gegenüber erwähnt, daß allein für den Dresdener Raum 3 Sonderzüge geplant seien. Der Beamte habe mit großen Augen gefragt: „Gibt es denn so viele Zeugen in Ostdeutschland?“

Für die Reisenden in den Sonderzügen begann der Kongreß schon vor der Ankunft in Berlin. „Wir versammelten uns auf dem Chemnitzer Hauptbahnhof, um in den bereitgestellten Zug einzusteigen“, erzählte Harald Päßler, ein Ältester aus Limbach-Oberfrohna. „Diese Fahrt nach Berlin war für mich ein unvergeßliches Erlebnis. Nach der langen Verbotszeit und der Tätigkeit in kleinen Gruppen im Untergrund war es auf einmal möglich, so viele Brüder auf einmal zu sehen. Die gesamte Fahrt über waren wir in den verschiedenen Abteilen und sprachen wieder mit Brüdern, die wir Jahre beziehungsweise Jahrzehnte nicht mehr gesehen hatten. Es war eine Wiedersehensfreude, die man nicht beschreiben kann. Alle waren um einige Jahre gealtert, hatten aber treu ausgeharrt. Auch der Empfang auf dem Bahnhof Berlin-Lichtenberg, wo wir über Lautsprecher zu den einzelnen Sammelpunkten geleitet wurden und unsere Berliner Brüder mit großen Schildern dort standen, war eine völlig neue Erfahrung, heraus aus der Anonymität. Hier erlebten wir das erste Mal, daß wir eine große internationale Bruderschaft sind, was wir bisher nur theoretisch durch unsere Literatur oder sonstige Nachrichten erfahren hatten.“

Für viele Zeugen Jehovas war es der allererste Kongreß. „Als die Einladung kam, waren alle begeistert“, erinnerte sich Wilfried Schröter. Das kann man ihm gut nachfühlen, zumal er sich 1972 unter Verbot Gott hingab. „Wochen vorher fieberten wir diesem Ereignis entgegen. Ich hatte in meinem Leben noch nie so etwas erlebt, und vielen anderen Brüdern erging es ebenso. So war es unfaßbar, nun eine internationale Bruderschaft in einem großen Stadion zu Gesicht zu bekommen.“

Wie oft hatten sich die Zeugen in Ostberlin gewünscht, die wenigen Kilometer durch die Stadt zu fahren, dorthin, wo sich ihre Glaubensbrüder zu einem Kongreß versammelten! Jetzt war es endlich möglich.

Fast 45 000 aus 64 Ländern waren zugegen. Auch 7 Brüder von der leitenden Körperschaft waren mit dabei. Sie waren gekommen, um sich mit ihren Glaubensbrüdern aus Ostdeutschland über dieses bedeutsame Ereignis zu freuen. Dasselbe Stadion benutzte das Dritte Reich 1936 für die Olympischen Spiele, um die Welt mit seinen Leistungen zu beeindrucken. Nun hallte das Stadion erneut von donnerndem Applaus wider, allerdings nicht, um Sportler zu rühmen oder aus Nationalstolz. Hier waren Mitglieder einer wirklich glücklichen internationalen Familie von Dienern Jehovas zusammen, und ihr Applaus zeugte von Dankbarkeit gegenüber Jehova und von Wertschätzung für die kostbaren Wahrheiten aus seinem Wort. Bei diesem Anlaß stellten sich 1 018 zur Wassertaufe an, von denen die meisten die Wahrheit in der DDR unter Verbot kennengelernt hatten.

Die Anwesenden, die sich wahrscheinlich am besten in die ostdeutschen Zeugen hineinversetzen konnten, waren die rund 4 500 enthusiastischen Delegierten aus Polen, dem Nachbarland der DDR. Auch sie hatten viele Jahre Verbot hinter sich, und erst vor kurzem hatten sie ihren ersten großen Kongreß nach langer Zeit erlebt. Ein Zeuge aus Polen schrieb: „Die Brüder aus Polen schätzen die Opferbereitschaft der Nachbarn im Westen sehr. Ihnen standen nämlich kostenlose Unterkünfte, Fahrscheine zum Kongreßgelände und die Verpflegung zur Verfügung. Ohne dies wäre die Anwesenheit hier unmöglich gewesen.“

Die Zeugen aus Westdeutschland, für die Kongresse in Freiheit nichts Außergewöhnliches sind, waren dennoch tief beeindruckt. „Es war ein erhebendes Gefühl, auf der Ehrentribüne, auf der einst Adolf Hitler und andere Nazigrößen saßen, nun unsere älteren treuen Brüder zu sehen, von denen einige nicht nur während der vergangenen 40 Jahre von den Kommunisten verfolgt wurden, sondern einige auch schon während des Dritten Reiches“, meinte Klaus Feige von der Bethelfamilie in Selters. Dieser besondere Sektor des Stadions wurde rücksichtsvollerweise für die Betagten und Behinderten reserviert. Was für ein eindrucksvoller Beweis dafür, daß Gottes Königreich über politische Mächte triumphierte, die sich verschworen hatten, um seinen endgültigen Sieg zu verhindern!

Versammlungsstätten bereitgestellt

Nachdem das Verbot in Ostdeutschland nicht mehr bestand, sorgte man auch gleich dafür, daß die Brüder und Schwestern dort von dem regulären Kongreßprogramm profitierten, das Jehovas Diener weltweit haben. Noch ehe die Kreise richtig eingeteilt waren, lud man die Versammlungen zu Tagessonderkongressen und Kreiskongressen in Westdeutschland ein. Anfangs setzten sich die Anwesenden zu gleichen Teilen aus Westdeutschen und Ostdeutschen zusammen. Dadurch wurde die brüderliche Verbundenheit gestärkt, und die ostdeutschen Zeugen hatten durch die Zusammenarbeit mit ihren westdeutschen Glaubensbrüdern die Gelegenheit, alles kennenzulernen, was zum Kongreßablauf gehört.

Als Kreise gebildet wurden, stellte man den ostdeutschen Zeugen die in Westdeutschland bereits bestehenden Kongreßsäle zur Verfügung. 5 davon lagen nahe genug an der ehemaligen Grenze: in Berlin, München, Büchenbach, Möllbergen und Trappenkamp. Trotzdem machte man sich so bald wie möglich an den Bau eines Kongreßsaals in Ostdeutschland. Er befindet sich in Glauchau, unweit von Dresden, und wurde am 13. August 1994 seiner Bestimmung übergeben. Mit 4 000 Sitzplätzen ist er gegenwärtig der größte Kongreßsaal der Zeugen Jehovas in Deutschland.

Man begann auch mit dem Bau von Königreichssälen. In der DDR durfte es keine geben, doch jetzt brauchte man Säle für die über 20 000 Zeugen. Was sich auf den Baustellen abspielte, verblüffte die Beobachter.

Den Bau eines Königreichssaals in Stavenhagen kommentierte eine Zeitung wie folgt: „Art und Tempo, in dem hier ein Haus entsteht, setzte bereits zahlreiche Neugierige in Erstaunen: ... knapp drei Tage ...[, in] denen das Haus von etwa 240 ausschließlich Freiwilligen — Fachleute aus insgesamt 35 Gewerken und allesamt den Zeugen Jehovas angehörend — hochgezogen wurde. In unentgeltlichem Wochenendeinsatz.“

Eine andere Zeitung schrieb über einen Saal, der in Sagard auf der Ostseeinsel Rügen gebaut wurde: „Mit Bienenfleiß sind dort etwa 50 Frauen und Männer dabei, die Fundamentierung für das Gebäude vorzubereiten. Dennoch herrscht keine Hektik, die Atmosphäre ist sonderbar entspannt und freundlich. Trotz sichtlich hohen Arbeitstempos — keiner ist nervös oder schnauzt herum, wie man das sonst vom Bau kennt.“

Ende 1992 waren 7 Königreichssäle errichtet, die von 16 Versammlungen benutzt wurden. 30 weitere waren in Planung. 1998 kamen bereits mehr als 70 Prozent der Versammlungen in der ehemaligen DDR in eigenen Königreichssälen zusammen.

Bewegende internationale Kongresse

Als in einem osteuropäischen Land nach dem anderen staatliche Einschränkungen gelockert wurden, plante die leitende Körperschaft für dort Kongresse. Es waren Anlässe zur geistigen Erbauung — Anlässe, bei denen das Werk, das Gott seinen Dienern aufgetragen hat, deutlich in den Vordergrund gerückt wurde (Mat. 6:19-24, 31-33; 24:14). Da sich in diesen Ländern viele Zeugen Jehovas jahrelang nur in kleinen Gruppen versammeln konnten, lernten sie auf den Kongressen Mitgläubige kennen und schöpften Mut durch die Beweise, daß Jehova ihr treues Ausharren segnet. Es waren auch Delegierte aus anderen Ländern eingeladen, so daß die Brüder und Schwestern ein noch vollständigeres Bild von der internationalen Bruderschaft erhielten, zu der auch sie gehörten. Viele reisten aus Deutschland an. Auf den internationalen Kongressen, die von 1989 bis 1993 in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und der ehemaligen Sowjetunion abgehalten wurden, waren sie gut vertreten.

Einen Tag vor Beginn des internationalen Kongresses „Freunde der göttlichen Freiheit“, der 1991 in Prag (heute in der Tschechischen Republik) stattfand, äußerte sich die Zeitung Lidové noviny über die beachtliche Leistung eines Teams von rund 40 Zeugen beim Installieren „einer von ihren ‚Brüdern aus Deutschland‘ geliehenen Lautsprecheranlage“. Die deutschen Brüder verliehen die Lautsprecheranlage allerdings nicht nur, sondern legten auch beim Installieren mit Hand an. Sie waren glücklich, daß sie an ihre tschechischen Glaubensbrüder dadurch etwas von ihrer jahrzehntelangen Kongreßerfahrung weitergeben konnten. Meistens ist die deutsche Delegation bei internationalen Kongressen auf mehrere hundert begrenzt, diesmal aber waren 30 000 Delegierte zum Prager Kongreß eingeladen. Und was für ein Kongreß das war!

Dieter Kabus, der 1955 in der Tschechoslowakei als Bezirksaufseher gedient hatte und den Kongreß als Delegierter aus Deutschland besuchte, schrieb: „Nach der Freigabe der [mit gesellschaftseigenen Maschinen gedruckten] Neuen-Welt-Übersetzung erhoben sich alle von ihren Plätzen und spendeten lang anhaltenden Beifall. Wir umarmten uns vor Freude und schämten uns unserer Tränen nicht. Wir dachten an die Zeit der Verfolgung, wo wir im Lager nur eine Bibel hatten, obwohl wir 16 Brüder dort waren. Viele blieben noch länger als eine Stunde, sangen und erfreuten sich der Gemeinschaft miteinander.“

Ein Jahr später, 1992, waren auch beim internationalen Kongreß in St. Petersburg (Rußland) deutsche Delegierte mit von der Partie. Manch einer erinnert sich noch, daß nicht alles reibungslos verlief, zumindest was die Unterbringung der deutschen Delegation betraf. Aber selbst das hatte positive Auswirkungen. Als eine Gruppe Delegierter Hals über Kopf in ein anderes Hotel umziehen mußte, war die 50jährige russische Betreuerin der Gruppe vom Verhalten der Zeugen dermaßen beeindruckt, daß sie ausrief: „Sie sind keine normalen Menschen, denn Sie schreien nicht und regen sich nicht auf!“ Von größerer Bedeutung für diese Delegierten war allerdings die Haltung ihrer lieben russischen Brüder und Schwestern. Nach dem Kongreß schrieb eine deutsche Delegierte: „Man kann es nicht in Worte kleiden, diese Wertschätzung, die unsere Brüder für das Programm hatten. Ohne Bibel und Liederbuch [damals in Rußland noch Mangelware] sitzen sie aufmerksam da und hören gespannt zu, was ihnen Jehova zu sagen hat.“

Im Jahr darauf besuchten über 1 200 deutsche Zeugen Jehovas die internationalen Kongresse in Moskau (Rußland) und Kiew (Ukraine). Bei ihrer Rückkehr sprudelten sie nur so über vor Begeisterung. Ein Delegierter war Titus Teubner, reisender Aufseher seit 1950. Er sagte: „Persönlich hatte ich meiner Frau versprochen: Sollte das Werk im Osten einmal frei werden, dann bin ich mit bei denen, die den ersten Kongreß in Moskau besuchen.“ Nachdem er 1993 sein Versprechen eingehalten hatte, meinte er: „Es grenzt fast an ein Wunder, daß ich auf dem Roten Platz die Zeitschriften der göttlichen Regierung abgeben konnte.“ Eine andere Delegierte schrieb: „Wir durften auf diesen Kongreß fahren, um unsere russischen Brüder zu ermuntern — was auch ganz bestimmt geschehen ist. Aber auch das Gegenteil war der Fall. Unsere russischen Brüder haben uns auf großartige Weise ermuntert und uns ein Beispiel der Liebe, Dankbarkeit, Treue und Wertschätzung gegeben.“

Die Bethelmitarbeiter empfanden eine tiefe Dankbarkeit, diesen treuen Brüdern und Schwestern dienen zu können. Die Dankbarkeit steigerte sich noch, als ihnen die Berichte der Bethelfahrer zu Ohren kamen, die von Transporten in andere Länder zurückkehrten und erzählten, wie lebhaft man sie willkommen hieß, mit welcher Freude die Brüder, auch spät in der Nacht, beim Abladen halfen und wie sie gemeinsam beteten, bevor sie den Fahrern zum Abschied winkten.

Mehr Gebäude, um einen dringenden Bedarf zu decken

In einem Land Osteuropas nach dem anderen wurden die Verbote umgestoßen. Es fanden große Kongresse statt. Das Predigen der guten Botschaft erhielt neuen Schwung. Der Bedarf an biblischer Literatur in diesen Regionen stieg sprunghaft an. Wie war er zu decken? Dem Zweig in Deutschland wurde eine weitere Rolle zugedacht.

Schon 1988, ehe die Berliner Mauer fiel, hatte die leitende Körperschaft eine Vergrößerung des deutschen Zweigkomplexes um 50 Prozent genehmigt. Anfangs sah das Zweigkomitee keine Notwendigkeit für eine solche Erweiterung. Schließlich war erst 4 Jahre zuvor ein großer, völlig neuer Komplex eingeweiht worden. Trotzdem reichte man bei den lokalen Behörden Anträge ein. Bruder Rudtke erinnert sich: „Als wir unsere Pläne vorlegten, sagte einer der Behördenvertreter von Selters hinter vorgehaltener Hand zu mir: ‚Ich rate Ihnen, so groß wie möglich zu bauen, denn die Behörden werden nicht noch einmal einer Erweiterung zustimmen.‘ Das brachte uns zum Nachdenken.“ Bedeutsamerweise waren innerhalb weniger Monate die Genehmigungen von all den verschiedenen Behörden eingeholt, und statt der ursprünglich geplanten Erweiterung um 50 Prozent war man nun bei 120 Prozent angelangt.

Im Januar 1991 ging es mit dem Bauen los. Wie es schien, waren jedoch nicht alle Brüder von der Notwendigkeit des Projekts überzeugt, denn die Reaktion auf den Ruf nach Facharbeitern war zunächst zögerlich und die finanzielle Unterstützung eher dürftig. Was war zu tun?

Es lag auf der Hand, daß die Brüder einfach besser informiert werden mußten, weshalb man am 3. Oktober 1991 in allen Kongreßsälen Deutschlands besondere Zusammenkünfte mit ausgewählten Ältesten abhielt. Man erklärte ihnen, die Buchproduktion im deutschen Zweig habe sich während des vergangenen Jahrzehnts fast verdreifacht. In Polen, Ungarn, Ostdeutschland, Rumänien, Bulgarien, der Ukraine und der Sowjetunion bestehe kein Verbot mehr. Man liefere Literatur aus bis weit über die deutsche Grenze hinaus. Die Verkündiger in diesen Ländern würden dringend um Literatur bitten. Selters solle eine führende Rolle darin spielen, sie bereitzustellen. Als den Brüdern die Notwendigkeit für das Projekt klar wurde, unterstützten sie es großzügig.

Allerdings erwies sich die anfänglich träge Reaktion als Segen. Wieso? Statt ausschließlich Freiwillige aus Deutschland in Anspruch zu nehmen, beschloß der Zweig, eine Regelung zu nutzen, die die leitende Körperschaft 1985 getroffen hatte. Damals war ein internationales Bauprogramm eingeführt worden. Ehe die Arbeiten am deutschen Zweigkomplex abgeschlossen waren, hatten 331 Freiwillige aus 19 Ländern mit der Bethelfamilie zusammengearbeitet.

Natürlich packten auch viele Zeugen aus Deutschland mit an — vorwiegend in ihrem Urlaub. Unter ihnen befanden sich um die 2 000 Verkündiger aus der früheren DDR, von denen es sich die meisten während des Verbots nie hätten träumen lassen, einmal im Bethel mitzuarbeiten.

Das Wochenende der Bestimmungsübergabe

Alle Zeugen Jehovas in Deutschland hatten einen Beitrag zu diesem Bauprojekt geleistet, sei es durch körperlichen Einsatz, finanzielle Hilfe oder durch Gebete. Selters war ihr Bethel, ein beträchtlich erweiterter Gebäudekomplex, den sie nun Jehova übergeben wollten. So machte man, schon lange bevor sich die Bauarbeiten dem Ende näherten, Pläne für eine gemeinsame Feier, zu der die gesamte Bruderschaft in Deutschland und viele Gäste aus dem Ausland eingeladen werden sollten.

Das Programm begann am Samstag, den 14. Mai 1994, morgens, und es wurde betont, daß sich in Osteuropa „eine große Tür, die zur Tätigkeit führt“, geöffnet habe (1. Kor. 16:9). Es war glaubensstärkend, zu hören, wie Brüder aus diesen Ländern persönlich über die hervorragende Mehrung und die Aussichten auf künftiges Wachstum berichteten. Die Begeisterung der 3 658 Anwesenden in Selters an jenem Tag sprang auf den Sonntag über. Alle Zeugen Jehovas in Deutschland waren in 6 Stadien eingeladen worden, die man aus diesem Anlaß gemietet hatte: in Bremen, Gelsenkirchen, Köln, Leipzig, Nürnberg und Stuttgart.

Als das Programm simultan an allen 6 Orten begann, verstummten Zehntausende in Erwartung dessen, was kommen sollte. Nach einem Kurzüberblick über das Programm, das am Samstag in Selters abgelaufen war, folgten weitere herzerfrischende Berichte von ausländischen Delegierten. Höhepunkt waren Ansprachen in Gelsenkirchen, Leipzig und Stuttgart, die jeweils von einem dort anwesenden Mitglied der leitenden Körperschaft gehalten wurden. Für die Zuhörer an den übrigen 3 Orten übertrug man die Ansprachen per Standleitung. Die 177 902 Versammelten wurden angespornt, im Glauben stark zu bleiben und der Versuchung zu widerstehen, langsamer zu machen. Tatkräftiger Einsatz war das Gebot der Stunde! Jehova hatte unerwartet die Tür zu größerer Mehrung in Osteuropa geöffnet, und nichts durfte das Werk aufhalten. Ehe man sich in einem Dankgebet vor Jehova verneigte, sang man zusammen: „Viele Myriaden von Brüdern / stehen an meiner Seit’; / jeder als treuer Zeuge / hält fest an Lauterkeit.“ Wohl selten hatte es einen deutlicheren Beweis der für Jehovas Volk kennzeichnenden Einheit und Entschlossenheit gegeben.

Ein herrliches Wochenende der Bestimmungsübergabe war zu Ende, aber mit der Expansion ging es weiter. Früh am nächsten Morgen machten sich die Baumitarbeiter erneut ans Werk. Das neue Zentrallager, das die Gesellschaft kurz zuvor eingerichtet hatte, um unnötige Arbeiten und Kosten zu vermeiden, machte einen größeren Versandbereich in Selters erforderlich.

Im Jahr 1975 produzierte der deutsche Zweig 5 838 095 Bücher und 25 289 120 Zeitschriften. Über 20 Jahre später, im Dienstjahr 1998, war die Produktion auf 12 330 998 Bücher, 199 668 630 Zeitschriften und 2 656 184 Tonbandkassetten angewachsen. Diese gewaltige Zunahme kam in erster Linie durch die Nachfrage in Osteuropa zustande.

Während ein Verbot nach dem anderen aufgehoben wurde, lieferte Selters Literatur in immer mehr osteuropäische Länder. 68 Prozent der Literatur, die von Mai 1989 bis August 1998 in Selters hergestellt wurde, das heißt 50 583 Tonnen, gingen in 21 Länder Osteuropas und Asiens. Das entspricht 2 529 Lkws mit 20 Tonnen Ladung.

Bauen, aber auch Zeugnis geben

Seit 1975 haben Jehovas Zeugen eine Menge gebaut. Und wie Noah, der neben seiner Bautätigkeit ein „Prediger der Gerechtigkeit“ war, sind sie bemüht, ihre Pflichten auszubalancieren (2. Pet. 2:5). Sie wissen, daß die Bautätigkeit heute ein wichtiger Teil der wahren Anbetung ist. Gleichzeitig halten sie sich deutlich vor Augen, wie wichtig und dringlich das Predigen der guten Botschaft ist.

Der Dienstabteilung in Selters ist aufgefallen, daß die zusätzliche Tätigkeit im Rahmen der Bauarbeiten tatsächlich von vermehrtem Zeiteinsatz im Predigtdienst begleitet war. Und natürlich war der Bau theokratisch genutzter Gebäude an sich schon ein Zeugnis. Königreichssäle in Schnellbauweise und Kongreßsäle haben auf Beobachter immer wieder großen Eindruck gemacht. Die mit Eifer und Hingabe verrichtete Bautätigkeit der Zeugen Jehovas trägt dazu bei, die Aufmerksamkeit auf die gute Botschaft zu lenken, die sie predigen. Ehrliche Menschen sind neugierig zu erfahren, was für eine Kraft Jehovas Zeugen in einer Weise motiviert, wie es bei keiner anderen religiösen Gruppe zu beobachten ist.

Was wurde aus Magdeburg?

In dieser Zeit wurde unter anderem auch ein Königreichssaal in Magdeburg seiner Bestimmung übergeben. 1923 hatte die Gesellschaft ihr deutsches Büro von Barmen nach Magdeburg verlegt. 1927/28 errichtete man dort einen würdigen Tagungssaal mit zirka 800 Sitzplätzen. Aus Wertschätzung für das von der Watch Tower Society herausgegebene Buch Die Harfe Gottes nannte man ihn Harfensaal. Die hintere Wand schmückte ein Relief, das den Harfe spielenden König David darstellte.

Im Juni 1933 konfiszierten die Nationalsozialisten das Eigentum der Gesellschaft in Magdeburg, schlossen die Druckerei und hißten auf den Gebäuden die Hakenkreuzfahne. Nach dem 2. Weltkrieg ging das Eigentum an die Zeugen zurück — allerdings nicht auf Dauer, denn im August 1950 wurden sie von kommunistischen Behörden enteignet.

Im Jahr 1993, nach der Wiedervereinigung, erhielt die Gesellschaft einen Großteil des Eigentums zurück, und für den Rest wurde sie weitgehend entschädigt. Zu dem zurückgegebenen Teil gehörte der frühere Harfensaal. Nach mehrmonatigen Renovierungsarbeiten auf dem Grundstück hatte Magdeburg einen geeigneten und dringend benötigten Königreichssaal.

„In diesen Gebäuden findet nun heute die dritte Bestimmungsübergabe statt, erst in den 20er Jahren, dann 1948 und heute 1995“, bemerkte Peter Konschak bei der Einweihungsfeier. Willi Pohl, der das deutsche Zweigkomitee vertrat, hielt die Ansprache zur Bestimmungsübergabe. In jungen Jahren hatte er im Magdeburger Bethel gedient. Als Hayden Covington von der Weltzentrale 1947 zu Besuch kam und in ebendiesem Saal zu den Brüdern und Schwestern sprach, war Bruder Pohl sein Dolmetscher. „Ihr könnt euch vorstellen, wie mir bei dieser Ansprache zumute ist“, vertraute er den 450 geladenen Gästen an.

Heute sind die verschiedenen Magdeburger Versammlungen, die sich regelmäßig in dem ehemaligen Harfensaal einfinden, ein lebendiger Beweis für die Zuverlässigkeit folgender Worte Jehovas an seine Diener, die Jesaja vor über 2 700 Jahren niederschrieb: „Welche Waffe es auch immer sei, die gegen dich gebildet sein wird, sie wird keinen Erfolg haben.“ Oder mit der Ermahnung Hiskias an seine Männer ausgedrückt: „Mit uns ist Jehova, unser Gott, um uns zu helfen und unsere Schlachten zu kämpfen“ (Jes. 54:17; 2. Chr. 32:8).

Ein Übersetzungsbüro

Bei den Arbeiten im deutschen Zweigbüro kommt dem Übersetzen eine bedeutende Rolle zu. Die deutsche Übersetzungsabteilung zog 1956 von Bern nach Wiesbaden um. Damals bestand sie aus lediglich 4 Personen. Alice Berner und Erika Surber (später: Köhler) aus dieser Gruppe arbeiteten treu bis zu ihrem Tod in dem Übersetzungsteam. Anny Surber, ebenfalls eine der ersten 4, dient immer noch in dieser Abteilung. Das Team ist im Lauf der Jahre größer geworden, so daß inzwischen nicht nur Der Wachtturm und das Erwachet!, sondern meistenteils auch gebundene Bücher für die deutschsprechenden Zeugen Jehovas gleichzeitig mit den englischen Publikationen erscheinen.

Außer ins Deutsche wurde, beginnend mit den 60er Jahren, in Deutschland auch ins Russische und ins Polnische übersetzt. Zuständig dafür war die Auslandsdienstabteilung, die sich um das Werk in mehreren dem Verbot unterliegenden Ländern kümmerte, darunter die DDR, Polen und die Sowjetunion.

Sowie die Möglichkeit bestand, wurden einige erfahrene Übersetzer aus Polen und eine Anzahl angehender Übersetzer aus der Sowjetunion nach Selters eingeladen. Dort hatten sie die notwendige Ausrüstung und auch ein angenehmes Arbeitsumfeld für ihre Weiterbildung. Sie konnten auch auf die Erfahrung der deutschen Übersetzer zurückgreifen, die hilfreiche Tips gaben, wie man Probleme löst, auf die alle Übersetzer ungeachtet der Sprache stoßen. Die Bethelfamilie in Selters hatte diese Übersetzer bald ins Herz geschlossen.

Die Schulung war natürlich eine vorübergehende Sache. Mit der Zeit sollten die Übersetzer wieder in ihre Heimat zurückkehren. Nachdem also der neue Bethelkomplex bei Warschau (Polen) 1992 der Bestimmung übergeben worden war und die Übersetzer ein größeres Projekt beendet hatten, schlossen sich die polnischen Übersetzer in Deutschland dem Übersetzungsteam in Polen an.

Sie waren noch nicht weg, da trafen bereits weitere voraussichtliche Übersetzer — Russen und Ukrainer — zur Schulung ein. Die ersten 5 fanden sich am 27. September 1991 ein, andere folgten. Insgesamt kamen über 30.

Im Januar 1994 gingen die russischen Übersetzer weg, um das damals noch nicht fertiggebaute Bethel in Solnetschnoje unweit von St. Petersburg zu beziehen. Die ukrainischen Übersetzer dagegen sehen zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichts ihrem baldigen Umzug in ein neues Bethelheim entgegen, das für die Ukraine geplant ist. Zwischenzeitlich haben auch noch andere Übersetzungsteams in Selters gearbeitet und von der dort gebotenen Hilfe profitiert. All das ruft einem immer wieder den Vorsatz Jehovas in den Sinn, Menschen „aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Zungen“ zu sammeln, um „eine neue Erde“ zu bilden — die Grundlage einer menschlichen Gesellschaft, die dem allein wahren Gott, Jehova, ergeben dient (Offb. 7:9, 10; 2. Pet. 3:13).

Ein Ort für internationale Seminare

Die günstige Lage des deutschen Zweigbüros lockt viele Besucher an. Frankfurt beansprucht für sich, durch den Rhein-Main-Flughafen das höchste Passagieraufkommen des europäischen Festlands zu haben. Da Selters nur etwa 60 Kilometer vom Frankfurter Flughafen entfernt liegt, machen viele Zeugen, auch wenn sie nur auf der Durchreise sind, liebend gern einen Abstecher dorthin, um die Gebäude zu besichtigen und kurz die Gastfreundschaft der Bethelfamilie zu genießen.

Selters hat sich auch als günstiger Ort für internationale Seminare herausgestellt und für Zusammenkünfte, bei denen sich Beauftragte verschiedener Zweige miteinander beraten. So arrangierte das Verlagskomitee der leitenden Körperschaft 1992 ein 4tägiges Treffen von Beauftragten aus 16 europäischen Zweigen und Brüdern aus Brooklyn. Das Ziel war, die Arbeit so zu koordinieren, daß für alle Zweige Europas, einschließlich der wirtschaftlich benachteiligten Länder, ein großzügiger Vorrat an geistiger Speise bereitstehen würde.

Schon davor haben Jehovas Zeugen in Deutschland allen, die ihre biblische Literatur gern lesen, Publikationen kostenfrei angeboten. Das straft mit Sicherheit die Behauptung von Gegnern Lügen, die Watch Tower Society würde gewinnbringend Literatur verkaufen.

Nach dem Seminar in Selters dehnte man diese Vorgehensweise auf ganz Europa aus. Das ist besonders den Menschen in Osteuropa zugute gekommen, wo viele geistigen Hunger erkennen lassen, aber oft wirtschaftlich schlecht dastehen. Wie werden jedoch die Kosten für das weltweite Königreichswerk gedeckt? Durch unaufgeforderte Spenden von Zeugen Jehovas und anderen dankbaren Menschen. Und warum spenden sie? Manche tun es, weil sie sehen, wie wichtig es ist, so vielen wie möglich zu der Erkenntnis zu verhelfen, daß das Umsetzen biblischer Grundsätze schon heute die Lebensqualität hebt (Jes. 48:17; 1. Tim. 4:8). Andere motiviert der Wunsch, dazu beizutragen, daß die gute Botschaft von Gottes Königreich Menschen in allen Ländern erreicht, ehe Gott dem gegenwärtigen bösen System der Dinge ein Ende macht (Mat. 24:14).

Ein zweites Seminar zu einem späteren Zeitpunkt im Jahr 1992 drehte sich um das Vorhaben, vom deutschen Zweig aus Literatur direkt an die einzelnen Versammlungen in europäischen Ländern zu versenden statt wie bisher an die Zweigbüros, von wo aus die Literatur weitergeleitet wurde. Auf einem dritten Seminar im April 1993 regelte man alles so, daß dieses Verfahren in 6 zentraleuropäischen Ländern eingeführt wurde. Im Februar 1994 veranstaltete man in Wien ein Seminar für osteuropäische Länder, woraufhin die Neuerung auf weitere 19 Länder ausgedehnt wurde.

Die Vorteile dieses Verfahrens sind offenkundig. Man spart Kosten ein, weil nicht in jedem Zweig Literatur gelagert werden muß. So erübrigen sich große Versandabteilungen in den einzelnen Ländern. In manchen Ländern wurde dadurch eine Erweiterung der bestehenden Betheleinrichtungen hinfällig. Und neue Bethelheime brauchen nicht mehr so groß gebaut zu werden, weil das Lagern, Verpacken und Versenden der Literatur in Deutschland erledigt wird.

Im Jahr 1989 hatte der deutsche Zweig rund 2 000 Artikel in 59 Sprachen auf Lager, 1998 waren es im Vergleich dazu 8 900 Artikel in 226 Sprachen. Im April 1998 deckte der Zweig in Selters den Literaturbedarf von 742 144 Verkündigern in 8 857 Versammlungen in 32 Ländern.

Haß auf wahre Christen — nicht nur in der Vergangenheit

Am letzten Abend vor seinem Tod sagte Jesus Christus zu seinen Aposteln: „Weil ihr nun kein Teil der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt auserwählt habe, deswegen haßt euch die Welt. ... Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen“ (Joh. 15:19, 20). Man mußte also damit rechnen, daß die Verfolgung der Zeugen Jehovas in Deutschland selbst nach dem Zusammenbruch von Hitlers Drittem Reich nicht ganz und gar zum Stillstand käme. Auch dort, wo von kommunistischen Regimen erlassene Verbote abgeschafft wurden, haben die Menschen zwar generell mehr persönliche Freiheit, aber die Verfolgung der Zeugen Jehovas hat nicht aufgehört. Sie hat lediglich andere Formen angenommen (2. Tim. 3:12).

An Stelle der früheren Verfolger des Volkes Jehovas traten jetzt Abtrünnige auf den Plan, um ihre ehemaligen christlichen Glaubensbrüder zu schlagen (Mat. 24:48-51). Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre machten diese Abtrünnigen stärker von sich reden und brachten immer mehr bösartige Anklagen vor. Moderatoren verschiedener Talk-Shows stellten die Abtrünnigen als „Experten“ für Jehovas Zeugen vor. Manche aufrichtige Menschen fanden es jedoch nicht richtig, Jehovas Zeugen auf Grund von Aussagen verärgerter Aussteiger zu beurteilen. Nach einer solchen Talk-Show rief ein junger Mann im Büro der Gesellschaft in Selters an und erzählte, der interviewte Zeuge habe vor ein paar Jahren mit ihm die Bibel studiert. Aus persönlichen Gründen hatte der junge Mann das Studium eingestellt. Als er nun die Fernsehsendung sah und seinen früheren Unterweiser wiedererkannte, reagierte er ziemlich ungehalten. Er fragte: „Wie kann er nur so etwas behaupten? Er weiß doch, daß das nicht stimmt, was er über die Zeugen sagt.“ Das Resultat war, daß der junge Mann sein Bibelstudium wiederaufnahm, diesmal mit einem Ältesten der Ortsversammlung.

Selbstverständlich gibt es viele Leute, die grundsätzlich alles glauben, was sie im Fernsehen hören oder in der Zeitung lesen. Wegen der Häufigkeit solcher Attacken gegen Jehovas Zeugen in den Medien verfaßte die Gesellschaft eine 32seitige Broschüre speziell zu dem Zweck, diese Flut irreführender Propaganda einzudämmen. Betitelt ist sie Jehovas Zeugen — Menschen aus der Nachbarschaft. Wer sind sie?

Die Broschüre enthält Fakten aus einer Umfrage von 1994, an der nahezu 146 000 Zeugen Jehovas in Deutschland teilnahmen. Die Ergebnisse widerlegen eindeutig viele falsche Auffassungen über die Zeugen. Eine Religion für alte Frauen? 4 von 10 Zeugen Jehovas in Deutschland sind männlichen Geschlechts, und das Durchschnittsalter liegt bei 44 Jahren. Eine Religion mit Anhängern, die man als Kind einer Gehirnwäsche unterzog? 52 Prozent sind als Erwachsene zu den Zeugen gegangen. Eine Religion, die Familien zerstört? 19 Prozent der Zeugen Jehovas sind unverheiratet, 68 Prozent verheiratet, 9 Prozent verwitwet und nur 4 Prozent geschieden, und von diesen wiederum war ein beträchtlicher Anteil bereits vor dem Übertritt zu den Zeugen Jehovas geschieden. Eine kinderfeindliche Religion? Fast 4 Fünftel der verheirateten Zeugen sind Eltern. Menschen mit unterdurchschnittlicher Intelligenz? Ein Drittel der Zeugen spricht mindestens eine Fremdsprache, und 69 Prozent informieren sich regelmäßig über das aktuelle Geschehen. Eine Religion, die ihren Anhängern die Freude am Leben nimmt? Im Lauf einer Woche bringt jeder Zeuge im Schnitt 14,2 Stunden mit verschiedenen Freizeitaktivitäten zu. Gleichzeitig räumen Jehovas Zeugen geistigen Belangen Priorität ein, denn sie setzen durchschnittlich 17,5 Stunden in der Woche für religiöse Aktivitäten ein.

Ein Fall, dem in der Broschüre besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, handelt von dem „kleinen Oliver“. Kurz nach seiner Geburt im Jahr 1991 entdeckten Ärzte ein Loch in seinem Herzen. Olivers Mutter leitete zur gegebenen Zeit eine Operation in die Wege und suchte, entsprechend ihrer religiösen Überzeugung, Ärzte aus, die bereit waren, ohne Blut zu operieren. Gegner verdrehten jedoch die Tatsachen, um Jehovas Zeugen in Mißkredit zu bringen. Selbst nachdem die Operation erfolgreich ohne Bluttransfusion verlaufen war, brachte eine Zeitung den Fall groß heraus und stellte die Sache so hin, als sei Oliver trotz der Opposition einer „fanatischen“ Mutter durch „lebensrettendes Blut“ gerettet worden. Diese krasse Falschdarstellung wurde in der Broschüre widerlegt.

Ursprünglich war die Broschüre nur für Personen gedacht, die Fragen hatten zu falschen Anklagen gegen die Zeugen. 1996 gestaltete man jedoch die Umschlagseite neu — auf der Rückseite wurde ein kostenloses Heimbibelstudium angeboten — und verbreitete 1 800 000 Exemplare in ganz Deutschland.

Tatsachenmaterial für die Medien bereitgestellt

Im selben Jahr unternahm man noch etwas gegen die unaufhörlichen Versuche von Gegnern, mit Hilfe der Medien Jehovas Zeugen verzerrt darzustellen. Walter Köbe wurde zum Vorsitzenden eines Komitees ernannt, das für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Er erklärt: „Die massive Kampagne unserer Gegner hat eine kontrollierte Entgegnung in Form zugänglicher Informationen erforderlich gemacht.“ Man suchte Mitarbeiter, die für eine effektive Öffentlichkeitsarbeit in Frage kämen. In Seminaren wurden sie geschult. Das Land wurde in 22 Regionen aufgeteilt, und 1998 gab es Hunderte geschulte Mitarbeiter, die in den jeweiligen Regionen anfallende Aufgaben wahrnahmen. Großen Wert legt man auf persönlichen Kontakt mit Redakteuren und Journalisten.

Die Arbeit dieser Abteilung umfaßt auch die Vorbereitung öffentlicher Aufführungen der Videodokumentation Standhaft trotz Verfolgung — Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime. Die Welturaufführung der deutschen Fassung fand am 6. November 1996 in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück statt, wo viele Zeugen Jehovas interniert waren. Die Presse und namhafte Historiker waren zugegen.

Bis zum 1. September 1998 waren bei den 331 öffentlichen Aufführungen des Videos insgesamt mehr als 269 000 Besucher gezählt worden. Das Publikum setzte sich nicht nur aus Zeugen Jehovas zusammen, sondern auch aus Vertretern der Presse, der Regierung und der Öffentlichkeit. Hunderte von Zeitungen berichteten in durchweg positiven Artikeln über die Veranstaltungen. 176 dieser Videopräsentationen waren von einer öffentlichen Ausstellung über die NS-Verfolgung der Zeugen Jehovas begleitet.

Immer mehr Medienvertreter gehen mit der Aussage eines Journalisten einig, der im November 1993 in der Meißner Zeitung schrieb: „Wer also der Auffassung ist, Jehovas Zeugen folgten blind oder leichtgläubig irgendwelchen Lehren der Bibel ohne Lebensnähe, wird überrascht sein zu erfahren, wie genau sie über die Kenntlichmachung ihres Vorbildes Jesus Christus Bescheid wissen und diese Kenntnis in ein sinnvolles Leben umsetzen können.“

Nach einem halben Jahrhundert immer noch standhaft

Über ein halbes Jahrhundert ist ins Land gegangen, seit Jehovas Zeugen in Deutschland aus den Konzentrationslagern freikamen. Doch die Chronik ihrer Lauterkeit liegt nicht in vergessener Geschichte begraben. Sie legt immer noch machtvoll vor der Welt Zeugnis ab. Einige, die wegen ihrer kompromißlosen Überzeugung im KZ waren, sind zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichts noch am Leben, und ihr Eifer für den Dienst Jehovas ist ungebrochen. Ihre mutige Haltung bezeugt, daß Jehova sein Volk bewahren kann. Hören wir uns einmal an, was einige der KZ-Überlebenden stellvertretend für Hunderte von ihnen gesagt haben, und übersehen wir nicht ihr in Klammern angegebenes Alter (Stand: Anfang 1998):

Heinrich Dickmann (95): „In Sachsenhausen mußte ich zuschauen, wie mein Bruder August vor dem ganzen versammelten Lager erschossen wurde. Mir wurde die Gelegenheit geboten, sofort entlassen zu werden, wenn ich von meinem Glauben ablassen würde. Weil ich keine Kompromisse einging, sagte der Kommandant: ‚Kannst dir überlegen, wie lange du noch lebst.‘ Er war 5 Monate später tot. Mein Wahlspruch war ‚Vertraue auf Jehova mit deinem ganzen Herzen‘. Das gilt für mich heute noch.“

Änne Dickmann (89): „Heute sehe ich es [das Geschehen im KZ] für mich als eine Schulung an für die Bewahrung der Lauterkeit gegenüber unserem großen Schöpfer und Lebengeber, Jehova, denn alle Erlebnisse haben mich bereichert und meinem Gott nähergebracht. Mein Glaube und meine Liebe zu Gott war die Triebfeder in all den Jahren, wozu mich niemand drängte.“

Josef Rehwald (86): „Ich blicke auf die Zeit der schweren Prüfungen mit Genugtuung zurück, weil ich trotz des Drucks und der damit verbundenen Leiden meinen christlichen Glauben und meine Neutralität bewahrt habe. Heute ist meine christliche Überzeugung noch fester, und es ist mein Wunsch, weiterhin kompromißlos auf Gottes Seite zu stehen.“

Elfriede Löhr (87): „Wenn ich über all das nachdenke, was ich während meiner 8jährigen Haftzeit unter dem Hitlerregime erlebt habe, so war mir klar, daß der Weg der Wahrheit einerseits Kampf und Verfolgung bedeutet, andererseits aber auch Freude und Sieg. Ich sehe diese Zeit nicht als Zeitverlust oder vergeblich an.“

Maria Hombach (97): „Ich bin immer noch vor lauter Freude überglücklich, eine solch einmalige Gelegenheit gehabt zu haben, Jehova meine Liebe und Dankbarkeit selbst unter grausamen Verhältnissen zu beweisen. Niemand drängte mich dazu! Im Gegenteil! Unsere Feinde bedrängten uns unter Drohungen. Sie wünschten uns zu zwingen, Hitler mehr zu gehorchen als Gott. Erfolglos! Ich bin deshalb nicht nur heute sehr glücklich, sondern war es auch hinter Gefängnismauern dank eines guten Gewissens.“

Gertrud Pötzinger (86): „Ich wurde zu dreieinhalb Jahren Einzelhaft verurteilt. Der Gerichtsdiener sagte nach dem Urteil des Gerichts zu mir, während er mich ins Gefängnis zurückbrachte: ‚Ich danke Ihnen. Sie haben mich angeregt, doch wieder an Gott zu glauben. Wenn Sie weiter so tapfer sind, werden Sie die dreieinhalb Jahre leicht ertragen.‘ In der Tat erlebte ich besonders in der Zeit der Einzelhaft Gottes Liebe und Kraft.“

Ja, die KZ-Überlebenden sind nach wie vor standhaft. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Befreiung, spricht ihr integrer Lebenslauf immer noch als Zeuge zur Welt und preist Jehova. Was für ein Ansporn für alle Diener Gottes!

Mit dem Predigen der guten Botschaft ist es in Deutschland noch nicht vorbei. Seit dem Ende des 2. Weltkriegs wurden hier über 800 000 000 Stunden dafür aufgewandt, mit anderen über Gottes Königreich zu sprechen. Gleichzeitig hat der Predigtdienst der Zeugen Jehovas in Deutschland auch auf das Leben von Menschen in vielen anderen Ländern hinübergewirkt. Man betrachtet sich nicht als separate nationale Gruppe, sondern als Teil einer globalen Familie von Anbetern Jehovas, des allein wahren Gottes.

Ein auffälliger Beweis der weltweiten Einheit waren die 5 internationalen Kongresse „Gottes Weg des Lebens“, die 1998 in Deutschland stattfanden und von 217 472 Personen besucht wurden. Es kamen Delegierte aus vielen Ländern, und das gesamte Programm wurde in 13 Sprachen dargeboten. Die Kongresse betonten, wie wichtig es ist, treu zu bleiben und beharrlich die gute Botschaft zu predigen. Jehovas Zeugen in Deutschland sind entschlossen, mit der Hilfe Jehovas loyal Gottes Weg des Lebens zu gehen.

[Karte auf Seite 79]

(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

WESTDEUTSCHLAND

Hamburg

Meckenheim

Selters

Frankfurt

Wiesbaden

Reutlingen

München

OSTDEUTSCHLAND

Berlin

Magdeburg

Glauchau

[Ganzseitiges Bild auf Seite 66]

[Bild auf Seite 69]

Internationaler Kongreß „Triumphierendes Königreich“ (Nürnberg, 1955)

[Bilder auf Seite 73]

Deutsche Zeugen haben vielen Ausländern die biblische Wahrheit nähergebracht

[Bild auf Seite 88]

Bethelkomplex in Wiesbaden (1980)

[Bild auf Seite 90]

Zweigkomitee (von links nach rechts); vorn: Günter Künz, Edmund Anstadt, Ramon Templeton, Willi Pohl; hinten: Eberhard Fabian, Richard Kelsey, Werner Rudtke, Peter Mitrega

[Bilder auf Seite 95]

Einige der 10 Kongreßsäle in Deutschland:

1 Glauchau

2 Reutlingen

3 München

4 Meckenheim

5 Berlin

[Bild auf Seite 99]

Martin und Gertrud Pötzinger

[Bilder auf Seite 100, 101]

Zweiggebäude in Selters

[Bilder auf Seite 102]

Einige Deutsche, die im Ausland Missionare sind: (1) Manfred Tonak, (2) Margarita Königer, (3) Paul Engler, (4) Karl Sömisch, (5) Günter Buschbeck

[Bilder auf Seite 110]

Sobald irgendwo in Osteuropa ein Verbot aufgehoben wurde, gingen große Mengen Literatur auf die Reise

[Bilder auf Seite 118]

Berliner Kongreß (1990)

[Bilder auf Seite 124]

Der erste Königreichssaal in der ehemaligen DDR

[Bilder auf Seite 132, 133]

Das Programm zur Bestimmungsübergabe — zuerst in Selters (siehe oben), dann landesweit in 6 Stadien

[Bild auf Seite 139]

Mittel, um einer Flut von Fehlinformationen entgegenzuwirken

[Bilder auf Seite 140, 141]

In den Konzentrationslagern (wo Jehovas Zeugen durch einen lila Winkel gekennzeichnet waren) blieben diese loyalen Christen (hier in Brandenburg, 1995) im Glauben fest

[Bilder auf Seite 147]

Andere Seite, im Uhrzeigersinn: Heinrich Dickmann, Änne Dickmann, Gertrud Pötzinger, Maria Hombach, Josef Rehwald, Elfriede Löhr