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Uruguay

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ALS die Spanier 1516 das erste Mal nach Uruguay kamen, fanden sie weder das Gold noch das Silber, noch den Zugang zum Fernen Osten, nach dem sie gesucht hatten. Mit der Zeit merkten sie jedoch, daß das weite Hügelland und das milde Klima für die Viehzucht ideal waren. Das war die Gelegenheit, das große Geld zu machen. Mit Methoden, die für die Kolonialmächte allzu charakteristisch waren, machte sich Spanien in einem Eroberungsfeldzug daran, die einheimischen Charrúa-Indianer auszurotten und das Land an sich zu reißen. So wurde während des 17. und 18. Jahrhunderts die ansässige indianische Bevölkerung praktisch durch Spanier ersetzt. Später trafen auch noch Tausende von Einwanderern aus Italien und anderen Ländern ein. Deshalb sind heutzutage die meisten Bewohner Uruguays Nachkommen europäischer Einwanderer. Als Amtssprache gilt Spanisch.

Trotz des vorherrschenden europäischen Einflusses der über 3 Millionen Einwohner stammen etwa 10 Prozent von den indianischen Ureinwohnern ab, und weniger als 3 Prozent sind Nachkommen afrikanischer Sklaven. Für die meisten Bewohner Uruguays ist Religion kaum von Belang. Die katholische Kirche hat die Bevölkerung nicht so fest in ihrer Gewalt, wie das in anderen südamerikanischen Ländern der Fall ist. Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es eine deutliche Trennung von Kirche und Staat. Wenngleich viele Freidenker, Agnostiker und Atheisten sind, findet man auch eine beträchtliche Anzahl gottgläubiger Menschen. Ein oft gehörter Satz läßt erkennen, wie sie denken: „Ich glaube an Gott, aber ich halte nichts von Religion.“

Doch wie würden diese Menschen reagieren, wenn sie nicht über die Glaubenslehren der Christenheit belehrt würden, sondern über den wahren Gott, dessen liebevoller Vorsatz und gütige Handlungsweise mit der Menschheit in der Bibel aufgezeichnet sind? Würden sie zu den ‘begehrenswerten Dingen’ gehören, die Gott in seinem geistigen Haus der Anbetung willkommen heißt? (Hag. 2:7).

Ein kleiner Anfang

Im Jahr 1924 kam aus Spanien ein Mann namens Juan Muñiz, um nach aufrichtigen Menschen zu suchen, die Anbeter Jehovas werden wollten. Bruder J. F. Rutherford, der damalige Präsident der Watch Tower Bible and Tract Society, hatte ihn gebeten, nach Südamerika umzusiedeln und sich dort des Predigens der guten Botschaft in Argentinien, Chile, Paraguay und Uruguay anzunehmen. Nach seiner Ankunft in Argentinien segelte er kurze Zeit später über den Río de la Plata, um den Bewohnern Uruguays zu predigen.

In den folgenden 43 Jahren lehrte Juan Muñiz furchtlos Gottes Wort, bis er 1967 starb. Er trug dazu bei, daß die gute Botschaft in verschiedenen südamerikanischen Ländern, Uruguay eingeschlossen, verbreitet wurde. Viele Zeugen Jehovas aus jener Zeit können sich noch daran erinnern, daß er es fertigbrachte, die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer für 2 oder 3 Stunden zu fesseln, indem er nur die Bibel gebrauchte, ohne irgendwelche Notizen zu haben.

Die Bitte um mehr Arbeiter wird erhört

Schon bald nach seiner Ankunft in Südamerika erkannte Juan Muñiz, welch großes Potential an zukünftigen Jüngern vorhanden war, und ihm wurde bewußt, daß viele Arbeiter benötigt würden. Er muß wie Jesus empfunden haben, der sagte: „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige. Bittet daher den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte aussende“ (Mat. 9:37, 38). Ganz im Einklang mit seinen Gebeten zu Jehova, ‘dem Herrn der Ernte’, ließ Bruder Muñiz Bruder Rutherford wissen, worüber er sich Gedanken machte.

Bruder Rutherford reagierte auf diesen Hinweis und fragte 1925 in Deutschland während eines Kongresses in Magdeburg einen deutschen Pionier, ob er bereit sei, in Südamerika auszuhelfen. Sein Name war Karl Ott, und er nahm die ihm aufgetragene Arbeit an. Unter den spanischsprachigen Brüdern wurde er als Carlos Ott bekannt. Nachdem er eine Zeitlang in Argentinien gedient hatte, erhielt er 1928 den Auftrag, nach Montevideo, der Hauptstadt Uruguays, zu gehen. Die nächsten 10 Jahre war er dort tätig.

Carlos machte sich gleich an die Arbeit. Er war nicht nur fleißig, sondern auch einfallsreich. Sogleich fand er für sich in der Río-Negro-Straße eine Wohnung, in der er auch regelmäßig mit einigen interessierten Personen zusammenkommen konnte, um die Bibel zu studieren. Darüber hinaus arrangierte er auch, daß biblische Vorträge im Radio übertragen wurden. Eine Rundfunkstation war sogar damit einverstanden, die Vorträge unentgeltlich zu senden.

Manchmal ging Carlos ins Restaurant, um die Leute dort anzusprechen, während sie beim Essen waren. Als er eines Tages wieder von Tisch zu Tisch Zeugnis gab, stieß er auf den Ladenbesitzer José Gajek, einen Deutschen, der die biblische Wahrheit schnell annahm. Es dauerte nicht lange, und man sah Carlos in Begleitung von José, einem der ersten Verkündiger der guten Botschaft in Uruguay.

Entschlossen, sich an der Verbreitung der guten Botschaft von Gottes Königreich als Vollzeitprediger zu beteiligen, verkaufte Bruder Gajek sein Lebensmittelgeschäft und begann mit dem Pionierdienst. Bruder Ott und er trugen dazu bei, daß ein großer Teil des Landes bearbeitet wurde, indem sie von Haus zu Haus predigten und in vielen kleinen und großen Städten biblische Vorträge hielten. Bruder Gajek säte in die Herzen vieler Uruguayer reichlich Samen aus, bis er dann im Jahr 1953 starb. Viele, mit denen er studierte, schlossen sich der Christenversammlung an und sind bis zum heutigen Tag treu geblieben.

Russische Familien nehmen die Wahrheit an

Während des 1. Weltkriegs zogen einige russische Familien nach Uruguay. Sie wurden im Norden des Landes seßhaft, und es entstanden florierende landwirtschaftliche Kolonien. Traditionsgemäß hatten sie auch Achtung vor der Bibel, in der sie regelmäßig lasen. Als hart arbeitende, etwas zurückhaltende Menschen bildeten sie eine enge Gemeinschaft, die kaum gesellschaftliche Kontakte zu den Bewohnern Uruguays pflegte. In dieser Gegend trat ein weiterer Verkündiger der guten Botschaft auf den Plan. Er hieß Nikifor Tkachenko, ebenfalls einer der ersten Verkündiger in Uruguay.

In seiner Heimat in Bessarabien war Nikifor ein strenger Kommunist gewesen. Nachdem er jedoch nach Brasilien ausgewandert war, erhielt er die Broschüre mit dem Titel Wo sind die Toten?, die von der Watch Tower Society herausgegeben wurde. Er vernahm sofort den Klang der Wahrheit und fing voller Begeisterung an, die Bibel zu studieren. Bald begann er, in der Gegend von São Paulo unter der russischsprachigen Bevölkerung zu predigen. Von dem Wunsch beseelt, seinen in Uruguay lebenden Landsleuten in seiner Muttersprache zu predigen, legte er ungefähr 2 000 Kilometer zurück. So kam es, daß Bruder Tkachenko 1938 im Norden Uruguays in einer russischen Siedlung eintraf, die Colonia Palma genannt wurde. Dort predigte er mit solchem Eifer, daß sein Vorrat an biblischer Literatur in Russisch im Nu aufgebraucht war.

Die Bauern waren von der Botschaft begeistert. Ganze Familien fingen an zu studieren und nahmen die Wahrheit an. Sie waren unter den ‘begehrenswerten Dingen’, die eingeladen wurden, in Jehovas Haus zu kommen. Tkachenko, Stanko, Cotlearenco, Gordenko, Seclenov, Sicalo sind die Namen nur einiger Familien, deren Enkel und Urenkel im Norden des Landes die Grundlage für Versammlungen wie Bella Unión, Salto und Paysandú bildeten. Einige aus diesen Familien dienten als Sonderpioniere, Älteste, Kreisaufseher und Missionare. Bruder Tkachenko selbst blieb treu bis zu seinem Tod im Jahr 1974.

Die sechs Deutschen

Wegen der brutalen Verfolgung der Zeugen Jehovas im nationalsozialistischen Deutschland verließen viele deutsche Pioniere ihr Heimatland, um in Südamerika zu dienen. Anfang 1939 trafen 6 von ihnen mit wenigen Habseligkeiten und ohne einen Pfennig in Montevideo ein. Die Freude war groß, als sie Carlos Ott sahen, der sie in Empfang nahm. Die 6 Pioniere waren Gustav und Berta Bender, Adolf und Charlotte Voss, Kurt Nickel und Otto Helle. Nur 3 Tage nach ihrer Ankunft sah man sie schon von Haus zu Haus predigen. Da sie nicht Spanisch konnten, verwendeten sie eine gedruckte Zeugniskarte in Spanisch. Alles, was sie auf spanisch sagen konnten, war: “Por favor, lea esto.” („Bitte lesen Sie das.“) Als Bruder Ott erneut Aufgaben in Argentinien übernehmen sollte, blieb die deutsche Gruppe trotz unzulänglicher Sprachkenntnisse zurück, um sich des Königreichswerks in Uruguay anzunehmen.

Die ersten Monate waren nicht leicht. Die Sprache zu erlernen war eine Herausforderung. Es war nichts Ungewöhnliches, wenn sie die Leute zu den riñones (Nieren) anstatt zu den reuniones (Zusammenkünften) einluden; an Stelle von ovejas (Schafen) sprachen sie von abejas (Bienen); und sie baten um arena (Sand) statt um harina (Mehl). Einer von ihnen erinnert sich: „Es war schon eine schwere Aufgabe, von Haus zu Haus zu predigen und Bibelstudien und Zusammenkünfte durchzuführen, ohne die Sprache zu beherrschen. Außerdem hatten wir keine finanzielle Unterstützung. Doch wir konnten unseren Lebensunterhalt sowie die Kosten für Verkehrsmittel von den Beiträgen, die wir für Literatur erhielten, bestreiten. Ende 1939 waren wir froh, daß wir während des Jahres 55 Zeitschriftenabonnements aufgenommen und mehr als 1 000 Bücher und 19 000 Broschüren abgegeben hatten.“

Fahrräder und Zelte

Diese 6 Deutschen ließen sich nicht leicht entmutigen. Sie machten sich bald daran, die gute Botschaft auf die damals wirtschaftlichste Art ins Land zu tragen — sie kauften sich 6 Fahrräder. Otto Helle und Kurt Nickel radelten einige Tage lang, um die 615 Kilometer bis nach Colonia Palma zurückzulegen, wo sie Bruder Tkachenko unterstützen wollten. Man stelle sich vor, wie überrascht sie waren, als sie herausfanden, daß er weder Spanisch noch Deutsch sprach; und sie verstanden kein Wort Russisch! Nachdem sie die Auswirkungen dessen verspürt hatten, was beim Turmbau zu Babel geschehen war, beschlossen sie, mit ihrem bißchen Spanisch in der benachbarten Stadt Salto zu predigen, während Bruder Tkachenko sich weiterhin um die russische Bevölkerung kümmerte (1. Mo. 11:1-9).

In der Zwischenzeit machten sich die Benders auf den Weg, um in den Städten und Ortschaften des Südens die Botschaft der Bibel zu verbreiten — eine Reise von Hunderten von Kilometern über staubige Schotterstraßen. Ihre Fahrräder waren beladen mit einem Zelt, einem kleinen Kocher, Küchenutensilien, Literatur, einem Grammophon und Schallplatten, bespielt mit biblischen Vorträgen, sowie ihrer Kleidung, die sie für die nächsten Monate benötigten. Die Ausstattung auf jedem Fahrrad wog soviel wie eine zweite Person! Mit dem Nötigsten ausgerüstet, trotzten sie der Kälte, der Hitze und dem Regen. Manchmal, wenn sie durch Wasser wateten, mußten sie alles auf ihren Schultern tragen, damit die Bücher und das Grammophon nicht naß wurden.

Ein sehr wichtiger Teil ihrer Ausrüstung war das Zelt. Die Benders hatten die Zeltplane mit Öl wasserdicht gemacht und mit Knoblauch behandelt, um Motten fernzuhalten. Eines Morgens trauten sie ihren Augen nicht, als sie beim Aufwachen den Himmel durch Dutzende von Löchern im Zeltdach sahen. Ameisen hatten in der Nacht der Versuchung nicht widerstehen können, die Zeltleinwand — bestrichen mit Öl und Knoblauch — zu verspeisen. Das deutsche Ehepaar hatte den unersättlichen Appetit der Ameisen unterschätzt.

„Nazispione“?

Während Gustav und Berta Bender im Landesinnern predigten, bereitete ihnen ihre deutsche Staatsbürgerschaft immer mehr Probleme. Warum? Der 2. Weltkrieg war in vollem Gang, und uruguayische Radiosender und Zeitungen brachten sensationelle Berichte über den Vormarsch der Deutschen in Europa. Einmal, als die Benders außerhalb einer Stadt zelteten, kam im Radio die Durchsage, die Deutschen hätten hinter der feindlichen Front bewaffnete Fallschirmspringer mit Fahrrädern abgesetzt. Sofort schlußfolgerten die in Panik geratenen Stadtbewohner, daß es sich bei dem deutschen Ehepaar, das außerhalb der Stadt zeltete, um „Nazispione“ handle. Um der Sache nachzugehen, steuerte die Polizei mit einer großen Gefolgschaft bewaffneter Männer umgehend aufs Zelt der Benders zu.

Gustav und Berta wurden verhört. Die Polizei bemerkte, daß einige Gegenstände mit einer Zeltplane zugedeckt waren. Ganz nervös fragten sie: „Und was haben Sie darunter versteckt?“ Gustav gab zur Antwort: „Unsere beiden Fahrräder und biblische Literatur.“ Mit einem ungläubigen Blick befahl einer der Polizeibeamten, die Zeltplane abzunehmen. Zum Vorschein kamen — keine Maschinengewehre, sondern zwei Fahrräder und einige Bücher. Die Beamten waren sichtlich erleichtert. Daraufhin boten sie den Benders für die Dauer ihrer Predigttätigkeit ein etwas komfortableres Nachtquartier an: die Polizeistation.

Jahrzehntelang predigten die 6 Deutschen treu in Uruguay. Nach dem Tod Gustav Benders im Jahr 1961 kehrte seine Frau nach Deutschland zurück, wo sie ihren Pionierdienst fortsetzte. Sie starb 1995. Adolf und Charlotte Voss dienten als Missionare in Uruguay bis zu ihrem Tod im Jahr 1993 beziehungsweise 1960. Auch Kurt Nickel blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1984 in Uruguay. Zur Zeit der Niederschrift dieses Berichts ist Otto Helle in seinem 92. Lebensjahr, und er verrichtet immer noch seinen Dienst in Uruguay.

Der Samen trägt Frucht

Diese ersten Verkündiger der guten Botschaft in Uruguay waren unermüdlich auf der Suche nach voraussichtlichen Untertanen des Königreiches Gottes. 1944 berichteten 20 Verkündiger und 8 Pioniere über ihre Tätigkeit in Uruguay. Es war ein kleiner Anfang, doch es sollten noch weitere ‘begehrenswerte Dinge’ gefunden werden.

Im gleichen Jahr, 1944, fingen María de Berrueta und ihre 4 Kinder, Lira, Selva, Germinal und Líber, an, die christlichen Zusammenkünfte zu besuchen. Kurze Zeit später begannen Lira und Selva mit dem Predigtdienst, und nach einigen Monaten nahmen sie den Pionierdienst auf. Sie begleiteten Aida Larriera, eine der ersten und sehr eifrigen Verkündigerinnen im Land. Allerdings hatte die Familie Berrueta ihre Hingabe noch nicht durch die Wassertaufe symbolisiert. Als Bruder Juan Muñiz aus Argentinien wieder einmal zu Besuch war, fiel ihm das auf. So wurden Lira und Selva nach 6 Monaten Vollzeitdienst zusammen mit ihrem Bruder Líber und ihrer Mutter María getauft.

„Jehova hat uns in seiner unverdienten Güte gestützt und erhalten, und so sind wir unserem Hingabegelübde stets treu geblieben“, sagte Lira. 1950 erhielt sie eine Einladung zur Gileadschule. Sie wurde als Missionarin nach Argentinien gesandt, wo sie 26 Jahre diente. 1976 kehrte sie nach Uruguay zurück. Selva besuchte gemeinsam mit ihrem Mann 1953 ebenfalls die Gileadschule. Sie bekamen den Auftrag, nach Uruguay zu gehen, wo er als Kreisaufseher tätig war. Selva blieb bis zu ihrem Tod im Jahr 1973 treu. Líber heiratete und hatte Familie. Auch er erfreute sich vieler Dienstvorrechte. Bis zu seinem Tod im Jahr 1975 war er der Präsident der gesetzlichen Körperschaft, deren sich Jehovas Zeugen in Uruguay bedienen, der Sociedad La Torre del Vigía. Und was ist aus Germinal geworden? Er hörte auf, mit Jehovas Volk Gemeinschaft zu pflegen. 25 Jahre später faßte der Samen der Wahrheit in seinem Herzen jedoch wieder Wurzeln. Heute ist er Ältester in einer der Versammlungen Montevideos.

Gileadmissionare treffen ein

Im März 1945 statteten Nathan H. Knorr und Frederick W. Franz von der Weltzentrale der Gesellschaft Uruguay das erste Mal einen Besuch ab. Das war für alle eine Quelle der Ermunterung. So ziemlich zur gleichen Zeit traf in Uruguay noch ein anderer Bruder ein: Russell Cornelius. Bruder Cornelius kam aber nicht nur zu Besuch. Zur Freude der Brüder war er der erste Gileadabsolvent, der nach Uruguay geschickt wurde. Anfangs sprach er nur ein paar Brocken Spanisch, doch er war entschlossen zu lernen. Innerhalb von 6 Wochen konnte er bereits seinen ersten öffentlichen Vortrag in Spanisch halten. Er erwies sich für das Königreichswerk in Uruguay als eine unschätzbare Hilfe.

Noch im selben Jahr schickte die Gesellschaft 16 weitere Missionare — alles junge Schwestern. Ihre Anwesenheit in Montevideo hatte sich bald herumgesprochen, und in einer Zeitung hieß es, „blonde Engel mit Make-up“ seien in Montevideo vom Himmel heruntergekommen! Die Schwestern begannen sofort, voller Eifer und Begeisterung zu predigen. Bald sah man die Früchte ihrer Arbeit. Die Besucherzahl beim Gedächtnismahl stieg von 31 Personen im Jahr 1945 auf 204 im darauffolgenden Jahr. Später wurden einige dieser Missionarinnen in Städte im Landesinnern versetzt. Sie bearbeiteten Gebiete, die zuvor noch nie mit der guten Botschaft erreicht worden waren, und Jehova segnete ihre Anstrengungen.

Über die Jahre hinweg haben mehr als 80 Missionare in Uruguay gedient. Diejenigen, die immer noch dort ihren Aufgaben nachgehen, sind Ethel Voss, Birdene Hofstetter, Tove Haagensen, Günter Schönhardt, Lira Berrueta und Florence Latimer. Jeder von ihnen hat mehr als 20 Jahre in seiner Zuteilung ausgeharrt. Schwester Latimers Ehemann William starb nach 32 Jahren Missionardienst, von denen er viele im Kreisdienst verbrachte.

Eine Zusammenkunft mit Polizeischutz

Jack Powers, ein Absolvent der ersten Gileadklasse, fing mit seinem Dienst in Uruguay am 1. Mai 1945 an. Er und seine Frau Jane trugen unermüdlich zur Förderung der Königreichsinteressen bei, bis sie 1978 das Land verlassen mußten, um für ihre kranken Eltern in den Vereinigten Staaten zu sorgen. Jack erinnert sich an eine unvergeßliche Begebenheit aus seiner Zeit in Uruguay. Es war 1947, als Jack in Rivera eintraf, einer Stadt im Norden des Landes nahe der brasilianischen Grenze. Obgleich es dort keine einheimischen Verkündiger gab, predigte er zusammen mit einem Bruder aus Brasilien einen Monat lang der ganzen Stadt, wobei sie über 1 000 Exemplare der Broschüre Eine Welt, eine Regierung in Spanisch verbreiteten.

Als glanzvollen Höhepunkt der Tätigkeit der vorausgegangenen 4 Wochen entschloß er sich, eine öffentliche Zusammenkunft auf der Plaza Internacional abzuhalten. Wie der Name schon sagt, war die Plaza zentral gelegen, denn die Grenze zwischen Brasilien und Uruguay verlief mitten durch diesen Platz. Nachdem die beiden Brüder tagelang die Zusammenkunft publik gemacht hatten, stellten sie sich erwartungsvoll auf der Plaza auf und hofften, Volksmengen würden herbeiströmen, um dem Vortrag zuzuhören. Kurz darauf erschienen 50 bewaffnete Polizisten, die während der Zusammenkunft für Ordnung sorgen sollten. Und wie hoch war die Anwesendenzahl? Insgesamt 53: die beiden Brüder, eine Person, die aus Interesse an dem Vortragsthema gekommen war, und die 50 Polizisten. Unter dem wachsamen Auge der Polizei lief die Zusammenkunft äußerst geordnet ab.

Im darauffolgenden Jahr schickte die Gesellschaft 5 Missionare nach Rivera. Schon bald nach Ankunft der Missionare fand in Rivera eine Zusammenkunft mit Nathan H. Knorr und Milton G. Henschel von der Weltzentrale der Gesellschaft statt, bei der 380 Personen zugegen waren. Über die Jahre wurden in Rivera viele Menschen gefunden, die auf die Botschaft vom Königreich positiv reagierten. Jetzt gibt es dort zwei Versammlungen, die in diesem Gebiet tätig sind.

Zwei neugierige Nachbarinnen

Eine der größten Städte im Innern Uruguays ist Salto am Ostufer des Flusses Uruguay. Salto liegt inmitten einer landwirtschaftlich fruchtbaren Gegend, die für ihre Orangen und für andere Zitrusfrüchte bekannt ist. Aber auch in geistiger Hinsicht ist die Gegend ertragreich, denn es gibt dort 5 Versammlungen. Missionare begannen jedoch erst im Jahr 1947, in Salto nach den ‘begehrenswerten Dingen’ Jehovas zu suchen.

In jenem Jahr machte sich Mabel Jones, eine der 1945 eingetroffenen 16 Missionarinnen, auf den Weg nach Salto, um dort einige Wochen lang zusammen mit anderen Missionaren Interesse für den Kongreß zu wecken, der in Salto stattfinden sollte. Zwei Nachbarinnen, Carola Beltramelli und ihre Freundin Catalina Pomponi, beobachteten Mabel neugierig. Als Mabel an einem Samstagnachmittag vom Predigtdienst nach Hause kam, sprachen die beiden neugierigen Nachbarinnen sie an und stellten ihr biblische Fragen. Catalina Pomponi erinnert sich: „Mir lag schon immer viel an Religion. Deshalb begann ich, selbst in der Bibel zu lesen. Dabei lernte ich vieles. Ich lernte zum Beispiel, daß man persönlich zu Gott beten sollte, nicht um von anderen gesehen zu werden. Danach kniete ich oft nieder und bat Gott darum, mir Verständnis zu geben. Als Mabel Jones das erste Mal mit uns sprach, fiel es uns wie Schuppen von den Augen. Ich kam nach Hause, kniete nieder und dankte Gott. Tags darauf besuchten Carola und ich anläßlich des Kongresses die Zusammenkunft für die Öffentlichkeit.“

Trotz der Gegnerschaft der Ehemänner machten Mabels Nachbarinnen schnell Fortschritte und ließen sich taufen. Nach einiger Zeit wurde Catalina Pomponi zur Sonderpionierin ernannt. Ihre Laufbahn als Vollzeitdienerin war in den mehr als 40 Jahren sehr ertragreich, denn sie konnte 110 Personen helfen, getaufte Zeugen Jehovas zu werden. Carola Beltramelli hat ebenfalls bewiesen, daß sie eine eifrige Königreichsverkündigerin ist. Sie hat mehr als 30 Personen zur Taufe geführt. Ihre beiden Söhne wurden Pioniere. Delfos, der ältere, hatte das Vorrecht, die Gileadschule zu besuchen, und arbeitet seit 1970 im Zweigbüro, wo er einen Anteil an der Aufsicht des Werkes in Uruguay hat.

Im Land des Mate

Als die Missionare die ländlichen Gebiete bearbeiteten, sprachen sie bei einigen estancias vor. Das sind große Farmen zur Aufzucht von Rindern und Schafen. Die Bewohner dieser Gegenden sind einfache und gastfreundliche Menschen. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn sie die Zeugen mit dem hier üblichen Matetee willkommen heißen. Mate wird heiß serviert; man trinkt ihn aus einer Kalebasse mit Hilfe einer bombilla, eines Metallrohrs, das an einem Ende mit einem Sieb versehen ist. Für die Uruguayer ist die Zubereitung und das Servieren von Mate fast eine Zeremonie. Nachdem der Tee fertig ist, wird die Kalebasse in der Runde herumgereicht, und jeder saugt an der gleichen bombilla.

Man stelle sich die Reaktion der Missionare vor, als sie zum erstenmal zu einem Mate-Umtrunk eingeladen wurden. Während sie das grüne, bittere Gebräu tranken, verzogen sie das Gesicht — sehr zum Amüsement ihrer Gastgeber. Für einige der Missionare stand danach fest, daß dies ihr erster und letzter Versuch gewesen war. Künftige Einladungen zum Mate wurden höflich abgelehnt.

„Wenn es bei Ihnen Götzen gibt, sehen Sie mich nie wieder“

Eine Gruppe Missionare wurde in die Stadt Tacuarembó im Norden Uruguays gesandt. In der Umgebung dieser Stadt gibt es große estancias und andere landwirtschaftliche Betriebe. 1949 erhielt Gerardo Escribano, ein junger Farmer, der sich viele Gedanken über das Leben machte, eine Einladung zu einem öffentlichen Vortrag im Königreichssaal. Er nahm die Einladung an, stellte jedoch folgende Bedingung: „Wenn es bei Ihnen Götzen gibt oder ich Gebete nachsprechen soll, sehen Sie mich nie wieder.“

Gerardo gefiel es, daß es im Königreichssaal weder Götzen noch Rituale gab, und was ihn noch mehr begeisterte, war ein Vortrag, der sein Interesse an der Bibel weckte. Von da an fehlte er bei keiner Zusammenkunft. Schließlich wurde er ein Jehova hingegebener und getaufter Zeuge. All die Jahre hindurch erfreute er sich als Sonderpionier sowie als Kreis- und Bezirksaufseher vieler Dienstvorrechte. Alles in allem haben Bruder Escribano und seine Frau Ramona schon über 83 Jahre im Vollzeitdienst verbracht. Seit 1976 ist Bruder Escribano zusammen mit Delfos Beltramelli und Günter Schönhardt ein Glied des Zweigkomitees. Bruder Schönhardt, ein Missionar aus Deutschland, hat viele Jahre lang sehr zur geistigen Erbauung der Versammlungen im Umkreis des Zweigbüros beigetragen.

Die Ernte nimmt zu

Jesus sagte: „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige“ (Mat. 9:37, 38). Diese Worte waren im Leben der Missionare in Uruguay von besonderer Bedeutung, da sie ein recht ausgedehntes Gebiet zu bearbeiten hatten. Im Verlauf der Jahre wurde es immer offensichtlicher, daß Jehova die Anstrengungen seiner Arbeiter unterstützte und segnete.

Als Bruder Knorr und Bruder Henschel 1949 das zweite Mal zu Besuch kamen, versammelten sich in Montevideo 592 Personen, um Bruder Knorr zuzuhören, der den Vortrag hielt: „Es ist später als du denkst!“ Bei dieser Gelegenheit ließen sich 73 Personen taufen. Zu jener Zeit zählte man im ganzen Land 11 Versammlungen. 10 Jahre später sprach Bruder Knorr in Montevideo anläßlich seines vierten Besuchs zu einer Zuhörerschaft von mehr als 2 000 Personen. Inzwischen gab es in Uruguay 1 415 Verkündiger und 41 Versammlungen.

Die 50er Jahre zeichneten sich dadurch aus, daß die Zahl der Versammlungen im ganzen Land anstieg. Doch damals mußten noch viele Zusammenkünfte in Privatwohnungen abgehalten werden. In einem Fall montierte der Wohnungsinhaber klugerweise Rollen an alle Wohnzimmermöbel. Wenn es dann an der Zeit war, für die Zusammenkunft der Versammlung Platz zu schaffen, mußte er nur die Möbel zur Seite rollen. In einem anderen Fall kam die Versammlung in einem kleinen Raum im vorderen Bereich einer Privatwohnung zusammen. Als die Versammlung wuchs, wurden die Trennwände entfernt, damit die größer gewordene Gruppe genügend Platz hatte. Schließlich entfernte man fast alle Wände, und die Familie kam überein, in dem verkleinerten Bereich im hinteren Teil des Hauses zu wohnen.

Ein hervorragendes Mittel, das sehr dazu beitrug, die Menschen in Uruguay mit dem Werk der Zeugen Jehovas vertraut zu machen, war der Film Die Neue-Welt-Gesellschaft in Tätigkeit, den die Brüder in Uruguay 1955 erhielten. In jenem Jahr reiste Líber Berrueta ins Landesinnere und führte den Film mehr als 4 500 Personen vor. Viele, die zuvor nur wenig Interesse gezeigt hatten, wurden dadurch angeregt, mit Jehovas Zeugen die Bibel zu studieren.

Ein neues Zweigbüro

Da die Zahl der Verkündiger rapide anstieg, wurde es nun offensichtlich, daß zur Unterbringung des Zweigbüros und des Missionarheims geeignete Einrichtungen benötigt wurden. All die Jahre hindurch hatte man für diesen Zweck immer wieder verschiedene Gebäude gemietet. Doch nun war es an der Zeit, ein Grundstück zu kaufen und gesellschaftseigene Gebäude zu errichten. Grundstücke im Zentrum der Hauptstadt Montevideo waren jedoch zu teuer. Es schien, als bliebe den Brüdern nichts anderes übrig, als Land etwas außerhalb, am Stadtrand, zu kaufen. Demzufolge erwarben sie 1955 ein größeres Stück Land. Die Bauzeichnungen waren genehmigt worden und die Baumannschaft wollte gerade mit dem Bau beginnen, als die Brüder mit Schrecken erfuhren, daß das Stadtparlament beschlossen hatte, die Verlängerung einer der Hauptstraßen direkt durch das vor kurzem erworbene Grundstück vorzunehmen.

Was sollten sie tun? Es folgten Verhandlungen mit den Behörden. Als Lösung wollte man das Grundstück wieder der Gesellschaft abkaufen. Doch der Betrag, den man zahlen wollte, lag unter dem, den die Brüder ursprünglich dafür ausgegeben hatten. Das Geld hätte zum Kauf eines ähnlichen Grundstücks nicht ausgereicht.

„Schließlich folgerten wir, es sei wohl von Jehovas Standpunkt aus gesehen nicht die richtige Zeit zum Bauen“, kann sich Jack Powers noch erinnern. „Doch bald verstanden wir die Worte des Apostels Paulus in Römer 11:34 besser, wo es heißt: ‚Wer hat den Sinn Jehovas erkannt, oder wer ist sein Ratgeber geworden?‘ Einer der Behördenvertreter machte uns nämlich den Vorschlag, eventuell unser Grundstück gegen ein unbebautes Grundstück der Regierung einzutauschen. Er bot uns ein ähnlich großes Grundstück an, das ganz ideal mitten im Zentrum von Montevideo an der Francisco-Bauzá-Straße lag. Ohne zu zögern, nahmen wir das Angebot an. Immerhin war der Wert des Grundstücks um einiges höher als der Wert des zuerst gekauften — und zahlen mußten wir dafür keinen Peso mehr! Ja, die Hand Jehovas lenkte die Angelegenheit zugunsten seines Volkes!“

Ein Architekt trifft eine Entscheidung

Die Bauarbeiten für das Zweigbüro gingen unter der Leitung des namhaften Architekten Justino Apolo gut voran. Justino hatte kurze Zeit vorher angefangen, mit einem der Missionare die Bibel zu studieren. „Schon immer wollte ich die Wahrheit über Gott kennenlernen“, sagte Justino. „Ich wurde katholisch erzogen, bin aber im Lauf der Jahre immer mehr enttäuscht worden. Ich kann mich noch sehr gut an den Tag erinnern, an dem ich zur Kirche ging, um für meine Hochzeit Vorbereitungen zu treffen. Der Priester fragte mich: ‚Wie viele Lichter sollen denn während der Trauzeremonie brennen? Je mehr Lichter leuchten, um so teurer wird es; aber Ihre Freunde werden bestimmt beeindruckt sein.‘ Natürlich wünschte ich mir eine glanzvolle Hochzeit. Daher bat ich um Festbeleuchtung. Dann fragte der Priester: ‚Möchten Sie einen roten oder einen weißen Teppich?‘ Worin bestand der Unterschied? ‚Selbstverständlich kommt das Brautkleid auf dem roten Teppich besser zur Geltung‘, erklärte er, ‚aber der kostet doppelt soviel.‘ Dann verhandelten wir darüber, wie das Ave-Maria gesungen werden sollte. ‚Wollen Sie es von einem Solisten oder von einem Chor gesungen haben?‘ Und so verkaufte mir der Priester eine ‚zeremonielle Dienstleistung‘ nach der anderen.

Trotz allem ließen wir uns kirchlich trauen. Aber die Vermarktung der Religion ging mir richtig gegen den Strich. Als ich anfing, mit Jehovas Zeugen die Bibel zu studieren, merkte ich sofort den Unterschied. Mir war innerhalb kurzer Zeit klar, daß ich die Wahrheit gefunden hatte.“

Nachdem Justino viele Monate lang die Bibel studiert, beim Bethelbau mitgeholfen und dabei auch persönliche Kontakte zu den Zeugen geknüpft hatte, wurde ihm bewußt, daß er sich entscheiden mußte. Nach Fertigstellung des Gebäudes gegen Ende des Jahres 1961 traf der Architekt die richtige Entscheidung und ließ sich taufen. Inzwischen dient Justino als Ältester. Er war am Bau von mehr als 60 Königreichssälen in Uruguay beteiligt.

Zweigeinrichtungen werden erneut erweitert

Als am 28. Oktober 1961 das wunderschöne neue Gebäude seiner Bestimmung übergeben wurde, war die Freude groß. Im Erdgeschoß gab es genügend Platz für Büroräume, ein Literaturlager und einen komfortablen Königreichssaal. Im ersten Stock befanden sich 9 Zimmer, in denen die Missionare und die Mitarbeiter des Zweigbüros wohnten.

Damals waren 1 570 Verkündiger im Land tätig, und es schien, die neuen Betheleinrichtungen würden dem Zuwachs an Verkündigern, mit dem in den Folgejahren zu rechnen wäre, gerecht werden. Wider Erwarten gab es aber ein sehr rasches Wachstum. So erhielt das Zweigbüro 1985 einen zweigeschossigen Anbau und wurde dadurch um das Doppelte seiner ursprünglichen Größe erweitert.

Unlängst erwarb die Gesellschaft ein weiteres schönes Grundstück außerhalb von Montevideo. Der Bau neuer Zweiggebäude und eines Kongreßsaals ist in vollem Gang. Mit der Unterstützung einer internationalen Baumannschaft soll das Projekt 1999 fertiggestellt werden.

Schulung der Aufseher

Da es in Uruguay immer mehr ‘begehrenswerte Dinge’ gab, wurden nicht nur Zweigeinrichtungen benötigt, sondern auch fürsorgliche Hirten. In der Zeit von 1956 bis 1961 verdoppelte sich die Zahl der Verkündiger, so daß 13 neue Versammlungen gegründet wurden. Die Königreichsdienstschule, die 1961 begann, erwies sich als eine liebevolle und zeitgemäße Einrichtung. Viele Brüder, die in den Versammlungen verantwortliche Stellungen innehatten, trafen Vorbereitungen, um an diesem 4wöchigen Kurs der Königreichsdienstschule teilzunehmen. Eine ganze Anzahl von Brüdern hatte einen langen Anreiseweg, und einige von ihnen riskierten sogar den Verlust ihres Arbeitsplatzes, doch sie wollten den Schulungskurs vollständig miterleben.

Ein Beispiel dafür ist Horacio Leguizamón, der in Dolores wohnte, etwa 300 Kilometer von Montevideo entfernt, wo die Königreichsdienstschule abgehalten werden sollte. Als Bruder Leguizamón seinen Arbeitgeber um 4 Wochen Urlaub bat, sagte man ihm, das sei ein Ding der Unmöglichkeit. Also erklärte er, wie wichtig ihm diese Schulung sei und daß er auf alle Fälle zugegen sein wolle, selbst wenn er seinen Arbeitsplatz verlieren würde. Einige Tage später erfuhr er zu seiner Überraschung von dem Entschluß seines Arbeitgebers, eine Ausnahme zu machen, damit er die Schule besuchen konnte, und das ohne eine Kündigung.

War der Kurs es wert, all diese Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen? Einer der ersten Teilnehmer sagte: „So etwas hatten wir noch nie erlebt. In der Gemeinschaft mit reifen Brüdern aus dem ganzen Land fühlten wir uns so, als hätten wir einen Monat in der neuen Welt gelebt. Die Schule gab uns das entsprechende Rüstzeug, so daß wir der Herausforderung gewachsen waren, die Herde mit der liebevollen Unterstützung der irdischen Organisation Jehovas vortrefflich zu hüten.“

Die Königreichsdienstschule half Hunderten von reifen Christen, besser ausgerüstet zu sein, wodurch die Versammlungen gestärkt wurden, und das in einer Zeit, wo die Probleme dieses alten Systems der Dinge in verstärktem Maß zunahmen.

Arm und doch geistig reich

Nach den Worten von Historikern in Uruguay begann sich die wirtschaftliche Lage des Landes in den 60er Jahren zu verschlechtern. Die Preise für die traditionellen Exportgüter wie Rindfleisch, Leder und Wolle gingen auf dem Weltmarkt langsam zurück. Eine Anzahl von Banken und bedeutenden Herstellerfirmen machten Bankrott, worauf Tausende von Menschen arbeitslos wurden. Die Bevölkerung war in Sorge wegen der galoppierenden Inflation, der plötzlichen Abwertung ihrer Währung, der Steuererhöhungen und darüber, daß es immer schwieriger war, Nahrungsmittel und andere Lebensnotwendigkeiten zu beschaffen.

Die Wirtschaftskrise hatte ernste soziale Folgen. Die Verarmung der breiten Mittelschicht führte zu einem erheblichen Anstieg der Kriminalität. Unzufriedenheit war die Ursache von vielen Demonstrationen gegen die Regierung, die manchmal in Gewalttat ausarteten. Tausende von Uruguayern, besonders jüngere, wanderten aus, um der sich rasant verschlimmernden Krise zu entgehen.

Im Gegensatz dazu war in den 60er Jahren innerhalb der Organisation Jehovas ein geistiges Aufblühen zu beobachten, was an die Worte in Jesaja, Kapitel 35, Vers 1 und 2 erinnerte: „Die Wildnis und die wasserlose Gegend werden frohlocken, und die Wüstenebene wird voller Freude sein und blühen wie der Safran. Sie wird ganz bestimmt blühen, und sie wird tatsächlich mit Fröhlichkeit und mit Jubelrufen frohlocken.“ In der Zeit von 1961 bis 1969 wurden 15 neue Versammlungen gegründet, und die Gesamtzahl der Verkündiger im Land betrug 2 940 — eine Höchstzahl.

Am 9. Dezember 1965 genehmigte die Regierung die Statuten unserer gesetzlichen Körperschaft, die unter dem Namen Sociedad La Torre del Vigía bekannt ist. Danach war es möglich, für das Drucken, Importieren und Verbreiten von Bibeln und bibelerklärender Literatur besondere Genehmigungen zu erhalten und Steuerbefreiungen zu erwirken. Die rechtliche Anerkennung ermöglichte auch den Erwerb von Grundstücken zum Bau von Königreichssälen.

Der „große Kongreß“

Das Jahr 1967 wird immer als das Jahr des „großen Kongresses“ in Erinnerung bleiben. Eine Delegation von etwa 400 Zeugen aus den Vereinigten Staaten und aus Europa, zu der auch Bruder F. W. Franz und Bruder M. G. Henschel gehörten, kam, um diesen Kongreß zu besuchen. 3 958 Zuhörer erfreuten sich zum erstenmal an der Aufführung eines biblischen Dramas in Kostümen. Die Brüder durften auch erstmals das Palacio Peñarol benutzen, ein großzügig angelegtes Stadion, wo gewöhnlich viele wichtige gesellschaftliche, künstlerische und sportliche Veranstaltungen Montevideos stattfanden.

Zahlreiche einheimische Brüder unternahmen enorme Anstrengungen, um die Reise und ihre Unterkunft finanzieren zu können. Eine Schwester wusch für einige Leute 6 Monate lang die Wäsche mit der Hand, um genügend Geld für die Reise zusammenzubekommen. Eine andere Schwester, deren Ehemann gegenüber ihrer Tätigkeit als Zeugin gegnerisch eingestellt war, sparte sich die erforderlichen Mittel zusammen, indem sie Eis herstellte und es dann in der Nachbarschaft verkaufte.

Was für einen Eindruck hinterließ der Kongreß bei der Stadionverwaltung? Ein Mitarbeiter meinte: „Das Palacio Peñarol ist noch nie so sauber und frei von unangenehmen Gerüchen gewesen.“ Die Verwaltung war von der Ordnung und guten Organisation der Zeugen so beeindruckt, daß man den Brüdern der Kongreßorganisation die Büros der Verwaltungsangestellten überließ. Danach fanden in diesem Stadion bis 1977 viele Bezirkskongresse statt. In jenem Jahr änderte die Regierung jedoch ihre Einstellung gegenüber Jehovas Zeugen, und in den darauffolgenden Jahren wurde ihnen untersagt, Kongresse abzuhalten.

„Vorsichtig wie Schlangen“

Anfang der 70er Jahre verschlimmerte sich die Wirtschaftslage in Uruguay. Nach und nach gehörten Handlungen zivilen Ungehorsams zur Tagesordnung. Arbeiteraufstände und Studentendemonstrationen führten zu gewalttätigen und zerstörerischen Ausschreitungen. In den Großstädten organisierten sich bewaffnete Banden, sogenannte Stadtguerillas. Furcht und Schrecken breiteten sich aus, als von diesen Banden Raubüberfälle und Bombenanschläge verübt und Leute tätlich angegriffen oder entführt wurden. Mitten in diesem Aufruhr gewann das Militär an Einfluß und riß 1973 die Macht an sich.

Das Militär herrschte mit eiserner Faust. Alle politischen und gewerkschaftlichen Aktivitäten wurden unterbunden. Man führte eine strikte Nachrichtenzensur ein. Öffentliche Veranstaltungen durften nur noch mit Genehmigung der Behörden durchgeführt werden. Die persönliche Freiheit wurde sehr eingeschränkt. Wie war es den Brüdern möglich, ‘das Wort selbst in unruhvoller Zeit zu predigen’? (Vergleiche 2. Timotheus 4:2.)

Bruder Escribano erinnert sich: „Wie nie zuvor mußten wir zu jener Zeit Jesu Worte aus Matthäus 10:16 beherzigen: ‚Siehe! Ich sende euch aus wie Schafe inmitten von Wölfen; darum erweist euch vorsichtig wie Schlangen und doch unschuldig wie Tauben.‘ Demzufolge gab die Gesellschaft unverzüglich allen Ältesten Anweisungen, den Verkündigern die notwendige Schulung zukommen zu lassen, damit sie das Predigtwerk eifrig fortsetzen könnten, jetzt allerdings mit Umsicht und dem nötigen Unterscheidungsvermögen.“

Einige Geistliche und etliche religiöse Gruppen hatten die Rebellen unterstützt. Deshalb begegnete die neue Militärregierung allen religiösen Bewegungen mit Mißtrauen, auch Jehovas Zeugen. Das hatte zur Folge, daß im ganzen Land viele Brüder festgenommen wurden, während sie im Haus-zu-Haus-Dienst standen. Sobald sie jedoch ihre bibelerklärenden Schriften gezeigt und ihre Tätigkeit näher erklärt hatten, setzte man sie in den meisten Fällen gleich wieder auf freien Fuß. Nach dieser anfänglichen Welle von Festnahmen hielten es die Brüder für ratsam, in kleineren Gruppen tätig zu sein, um weniger aufzufallen.

In manchen Fällen duldete das Militär das Predigen der Zeugen von Haus zu Haus stillschweigend. Einmal versuchten sie sogar zu helfen — auf ihre eigene Weise. Eine Gruppe Soldaten patrouillierte in einer Gegend, wo gerade eine Schwester predigte. Nachdem sie an einer Haustür geklingelt hatte, lehnte sich die Wohnungsinhaberin im zweiten Stock des Hauses aus dem Fenster und gab der Schwester auf sehr unhöfliche Weise zu verstehen, sie solle gehen. Einer der Soldaten, die das beobachtet hatten, reagierte sofort, indem er sein Maschinengewehr auf die Wohnungsinhaberin richtete und ihr befahl, nach unten zu kommen und die Schwester anständig zu begrüßen. Da gab es keine Widerrede.

Eine Kongreßstätte

Im Juni 1974 erhielt das Zweigbüro von der Regierung eine Vorladung, worauf einige verantwortliche Brüder im Sekretariat des Obersten Gerichtshofs erscheinen mußten. Bruder Beltramelli war einer von ihnen. Er erinnert sich: „Wir waren nervös. Wir wußten, daß die Militärregierung unser Werk sofort verbieten konnte, wenn sie das wollte. Doch wie erleichtert waren wir, als der Beamte uns erklärte, daß die Regierung daran interessiert sei, ein Gebäude zu kaufen, das momentan von uns als Königreichssaal benutzt wurde! Sie wollten uns sogar dabei helfen, andere geeignete Räumlichkeiten für einen Königreichssaal zu finden. Dadurch war es uns möglich, das Lutecia-Filmtheater in Montevideo zu kaufen — ganz ideal gelegen an einer der Hauptstraßen. Das Geld, das wir von der Regierung erhielten, war mehr als genug, um das Theater in einen neuen Königreichssaal umzugestalten.

Wir waren davon überzeugt, daß Jehova die Hand im Spiel hatte. Im großen Saal dieses Theaters gab es fast 1 000 Sitzplätze. Der Raum würde sich nicht nur als Königreichssaal für dieses Gebiet gut eignen, sondern auch als Kongreßsaal, der angesichts der neuen einschränkenden Bestimmungen, die unsere Kongresse betrafen, dringend benötigt wurde.“

Obwohl das ehemalige Filmtheater offiziell der Königreichssaal der Ortsversammlung war, wurde es jahrelang jede Woche für Kreiskongresse genutzt. Die Brüder lernten, bei diesen großen Zusammenkünften Vorsicht walten zu lassen. Sie betraten und verließen das Gebäude so unauffällig wie möglich und parkten ihre Autos an ganz verschiedenen Stellen überall in der Nachbarschaft.

Eine Zeit zum Bauen

Selbst in dieser turbulenten Zeit war die ständige Zunahme an Königreichsverkündigern und die Gründung neuer Versammlungen eine Quelle großer Freude. Bis 1976 hatte die Zahl der Verkündiger um 100 Prozent zugenommen, und das in weniger als 10 Jahren. Doch das brachte eine neue Herausforderung mit sich: Wie würden die vielen Neuen in den alten Königreichssälen, die zum größten Teil nur gemietet waren, Platz finden? „Für alles gibt es eine bestimmte Zeit“, sagte König Salomo unter Inspiration. Es gab jetzt 85 Versammlungen, aber nur 42 Königreichssäle. Offensichtlich war es an der Zeit zu bauen, und zwar Königreichssäle (Pred. 3:1-3).

Das ganze Land befand sich jedoch mitten in einer Finanzkrise, und den Versammlungen fehlte es an den Mitteln zum Bauen. Woher sollten die benötigten Mittel kommen? Delfos Beltramelli, der Zweigkoordinator, erzählt: „In dieser Zeit spürten wir Jehovas Hand und die Liebe seines Volkes. Durch die großzügigen Spenden von Brüdern aus aller Welt war es dem Zweigbüro möglich, den Versammlungen in Uruguay das erforderliche Geld zu leihen.“

Auch wurden qualifizierte Arbeiter benötigt, und Zeugen aus Uruguay stellten sich bereitwillig zur Verfügung, um an einem Ort nach dem anderen Königreichssäle zu errichten. Einer dieser unermüdlichen freiwilligen Helfer war Avelino Filipponi. Nachdem er 1961 beim Bau des Zweigbüros mitgewirkt hatte, waren er und seine Frau Elda Sonderpioniere, und von 1968 an diente er als Kreisaufseher. Einige Jahre lang hatte er auch die Aufgabe, den Brüdern bei Königreichssaalbauprojekten mit fachkundigem Rat zur Seite zu stehen und die Bauleitung zu übernehmen.

„El plomito“

Bruder Filipponi kann sich noch gut an einige Erfahrungen erinnern, die beim Bau von Königreichssälen gemacht wurden: „Wo immer wir einen Königreichssaal bauten, waren die Nachbarn und Passanten immer höchst beeindruckt von der Begeisterung und dem Eifer, mit dem die Zeugen an die Arbeit gingen. Zu einer der Baustellen kam jeden Tag ein 6jähriger Junge aus der Nachbarschaft, dessen Eltern keine Zeugen Jehovas waren. Er bettelte darum, mitarbeiten zu dürfen. Er bettelte so beharrlich, daß er als ‚el plomito‘ bekannt wurde — eine landläufige Bezeichnung für ‚eine kleine Nervensäge‘. Nun, die Jahre vergingen, und wir hörten nichts mehr von dem Jungen. Aber auf einem Kongreß kam ein Bruder auf mich zu und fragte: ‚Bruder Filipponi, kannst du dich noch an „el plomito“ erinnern? Der bin ich. Vor zwei Jahren habe ich mich taufen lassen.‘ “ Offensichtlich wurde der Same der Wahrheit während des Königreichssaalbaus in das Herz des kleinen Jungen gepflanzt.

Inzwischen gibt es im ganzen Land insgesamt 81 Königreichssäle, also für je 129 Verkündiger einen Saal. Ohne Zweifel hat Jehova den Bau von geeigneten Anbetungsstätten für sein Volk in Uruguay gesegnet.

Kongresse fürs Nachbarland

Auch im westlich von Uruguay gelegenen Nachbarland Argentinien war eine Militärregierung an die Macht gekommen. Dort ließ die Regierung das Zweigbüro der Gesellschaft und alle Königreichssäle schließen. Daraufhin hielten die argentinischen Brüder ihre Zusammenkünfte in kleinen Gruppen ab. Während dieser Zeit konnten sie jedoch öffentliche Kongresse durchführen, ohne daß die Regierung dagegen Schritte unternahm. Wie war das möglich? Indem sie die Grenze passierten und ihre Kongresse in Uruguay abhielten. Das Organisieren dieser großen Zusammenkünfte erledigten zwar uruguayische Brüder, doch viele der Programmpunkte wurden von Brüdern aus Argentinien dargeboten. Es war ein besonderes Vorrecht, Tausenden von argentinischen Brüdern und Schwestern Unterkunft zu gewähren. Dadurch gab es einen „Austausch von Ermunterung“, was sehr glaubensstärkend war (Röm. 1:12).

Einer der unvergeßlichen Kongresse fand vom 13. bis 16. Januar 1977 im Palacio Peñarol statt, bei dem eine gemischte Zuhörerschaft von 7 000 uruguayischen und argentinischen Brüdern und Schwestern anwesend war. Nach dem Schlußprogramm sangen alle Anwesenden Königreichslieder zum Lobpreis Jehovas. Mit dem Singen wurde abgewechselt. Zuerst sangen die Brüder aus Argentinien eine Strophe, und die Brüder aus Uruguay hörten zu, und dann umgekehrt. Die letzte Strophe wurde schließlich von allen gemeinsam gesungen. Mit gemischten Gefühlen und Tränen in den Augen sagten sie einander auf Wiedersehen. Einerseits waren sie darüber glücklich, mit ihren lieben Brüdern in den vergangenen Tagen zusammengewesen zu sein, andererseits waren sie aber auch traurig, ihnen ade sagen zu müssen.

Noch während dieser große Kongreß im Palacio Peñarol im Gang war, veröffentlichte eine bekannte prokatholische Zeitung am 13. Januar 1977 auf der Titelseite einen Artikel mit folgender Überschrift: „Jehovas Zeugen: Ihre Befugnis unter die Lupe genommen“. Der Artikel verurteilte das Verhalten der Zeugen gegenüber den Staatssymbolen. Ferner wurde darin betont, die Regierung in Argentinien habe unser Werk verboten und das gleiche könne auch in Uruguay passieren. Kurze Zeit nach der Veröffentlichung des Artikels erhielten wir für unsere Kongresse von der Regierung keine Genehmigung mehr.

Immer mehr Einschränkungen

Im Jahr 1975 begann die Militärregierung eine Kampagne zur Förderung des Patriotismus und des Nationalismus. Zufolge aufgepeitschter Nationalgefühle gerieten viele Brüder in Schwierigkeiten, weil sie bemüht waren, ihre christliche Neutralität zu bewahren. Sie versuchten, ‘Cäsars Dinge Cäsar zurückzuzahlen, Gottes Dinge aber Gott’ (Mar. 12:17). Etliche junge Zeugen wurden von der Schule verwiesen, weil sie es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnten, die Staatssymbole zu verehren. Viele Brüder mußten an ihrem Arbeitsplatz großen Spott und Beleidigungen über sich ergehen lassen. Einige Zeugen verloren sogar wegen ihrer neutralen Haltung ihre Arbeit.

In kleineren Städten im Landesinnern waren die Zeugen der ständigen Beobachtung durch die Behörden ausgesetzt. Manchmal kamen Spione der Regierung in den Königreichssaal und gaben sich als Interessierte aus. Daraufhin hielten es die Brüder für notwendig, noch vorsichtiger zu sein. Um jeglicher Konfrontation mit den Behörden aus dem Weg zu gehen, vermieden sie es, in den Zusammenkünften das Thema Neutralität zu behandeln.

Einmal kam ein solcher Spion kurz vor Beginn der Zusammenkunft in den Königreichssaal. Er fragte einen der Brüder: „Wann wird die Versammlung heute die Hymne singen?“ Das spanische Wort himno kann sich entweder auf eine Nationalhymne oder auf ein religiöses Lied beziehen. Da der Bruder wußte, daß es sich um einen Spion handelte, gab er zur Antwort: „Dreimal — am Anfang der Zusammenkunft, in der Mitte und am Schluß.“ Natürlich meinte der Bruder damit unsere Königreichslieder. Völlig zufriedengestellt und in der Annahme, die Nationalhymne würde von den Brüdern dreimal während der Zusammenkunft gesungen, verschwand der Spion gleich wieder.

Verhaftet, aber glücklich

Manchmal machte die Polizei während der Zusammenkunft im Königreichssaal Razzia und verhaftete alle Anwesenden. Dann mußte sich jeder Bruder und jede Schwester einem Verhör unterziehen. Für die Brüder war das die Gelegenheit, einer ganzen Anzahl von Polizeibeamten Zeugnis zu geben. Nachdem jeder verhört worden war — gewöhnlich dauerte das einige Stunden —, wurden alle wieder freigelassen. (Vergleiche Apostelgeschichte 5:41.)

In der Versammlung Florida, die im Norden Montevideos lag, sollte Schwester Sely Assandri de Núñez in der Theokratischen Predigtdienstschule eine Aufgabe vortragen. Sie lud ihre Nachbarin Mabel ein, mitzukommen und zuzuhören. Mabel war zuvor noch nie in einem Königreichssaal gewesen. Gerade an jenem Abend machte die Polizei wieder Razzia und verhaftete alle Anwesenden, auch Mabel. Nachdem man Mabel einige Stunden festgehalten hatte, konnte ihr Mann ihre Freilassung bewirken. Dieses aufrüttelnde Erlebnis erweckte in ihr echtes Interesse für die Lehren der Zeugen Jehovas. Bald danach fing sie an, die Bibel zu studieren und die Zusammenkünfte regelmäßig zu besuchen. Inzwischen ist Mabel eine Gott hingegebene und getaufte Zeugin Jehovas.

Obwohl das Werk fast 12 Jahre lang den Einschränkungen der Militärregierung unterlag, strömten ständig immer mehr aufrichtige Menschen in Jehovas Organisation. 1973 gab es im ganzen Land 3 791 Verkündiger, doch 1985, als die schwierige Zeit vorbei war, war die Zahl auf 5 329 angestiegen — eine mehr als 40prozentige Zunahme! Zweifellos hatte Jehova sein Volk während dieser schwierigen Zeit gesegnet.

Kongresse ohne Einschränkungen

Im März 1985 wurde eine demokratische Regierung eingesetzt, woraufhin alle Einschränkungen aufgehoben wurden. Danach konnte Jehovas Volk ungehindert das Königreich verkündigen und lehren, und es war ihnen gestattet, Kreis- und Bezirkskongresse abzuhalten. Die Brüder und Schwestern freuten sich darüber, daß sie nun wieder Gelegenheit hatten, ihre Glaubensbrüder zu treffen, die aus entlegenen Winkeln des Landes kamen. Wie ermunternd war es doch für sie, zu sehen, daß auch diese Brüder standhaft geblieben waren und Jehova immer noch treu dienten.

Aber wo könnte man eine Kongreßstätte finden, in der eine Zuhörerschaft von über 10 000 Menschen Platz haben würde? Keine der zuvor genutzten Versammlungsstätten würde jetzt mehr ausreichen. Jehova beantwortete abermals unsere Gebete. Als die Militärregierung noch an der Macht war, wurde das Estadio Charrúa, ein neues Fußballstadion, im Parque Rivera erbaut — einer der größten Parks in Montevideo. Obwohl das Stadion bisher ausschließlich für Sportveranstaltungen genutzt worden war, konnte es im Dezember 1985 für einen nationalen Kongreß gemietet werden. Seitdem waren die Stadtbehörden sehr kooperativ und überließen uns das Stadion jedes Jahr für die Kongresse, bei denen oftmals über 13 000 Personen anwesend waren.

Ein außerordentliches Zeugnis wurde in Verbindung mit einem Kreiskongreß gegeben, der im Dezember 1990 in dem Stadion der Stadt Treinta y Tres stattfand. Das Stadion, das bis auf den letzten Platz mit Zeugen Jehovas gefüllt war, stand genau im Blickfeld der Besucher einer katholischen Kirche. Eines Morgens zeigte der Priester zum Fenster hinaus aufs Stadion und sagte zu seinen Gemeindemitgliedern: „Seht ihr, wieviel Leute sich mit Jehovas Zeugen versammeln? Wie kommt es, daß es so viele sind? Die Zeugen haben etwas, was wir Katholiken nicht haben — den Geist des Evangelisierens! Wir werden jeden Tag weniger, weil wir nicht so missionieren wie sie. Entweder wir fangen an zu missionieren, so wie die Zeugen das tun, oder wir können die Kirche zumachen.“

Abgelegene Gebiete bearbeitet

In den 80er Jahren wurden spezielle Anstrengungen unternommen, auch die entlegensten Gebiete des Landes mit der guten Botschaft zu erreichen. Bei einem der jährlichen Besuche im Nordosten des Landes gab eine Gruppe von Brüdern in einem Dorf namens Cuchilla de Caraguatá einige Bücher ab. Im Jahr darauf besuchten die Zeugen einen Mann, der ihnen nicht zuhören wollte, da er angeblich schon die Wahrheit hatte. „Ich bin ein Zeuge Jehovas!“ verkündete er. Als die Zeugen im vorhergehenden Jahr vorgesprochen hatten, war er gerade verreist gewesen. Aber nach seiner Rückkehr hatte er die von den Zeugen zurückgelassene Literatur gelesen und war zu der Überzeugung gelangt, daß dies die Wahrheit sei. Daraufhin erzählte er im ganzen Dorf, daß er nun ein Zeuge Jehovas sei. Heute gibt es dort eine kleine Versammlung.

Obwohl Berta de Herbig in der abgelegenen Stadt Dolores wohnte, war ihr der regelmäßige Besuch der Zusammenkünfte äußerst wichtig. Mit ihren 6 Kindern marschierte sie jeweils 11 Kilometer zum Königreichssaal. Meistens waren sie schon ungefähr eine Stunde vor Beginn der Zusammenkunft da. Das gute Beispiel der Mutter in bezug auf Ausharren und Entschlossenheit hat sich nachhaltig auf ihre Kinder ausgewirkt. Nach Jahren treuen Dienstes sind jetzt 4 ihrer Kinder in der Wahrheit aktiv. Einer ihrer Söhne, Miguel Ángel, der später Pionier wurde, war manchmal 58 Kilometer mit dem Fahrrad unterwegs, um in La Charqueada-Cebollatí eine abgelegene Gruppe zu besuchen. Ihr Sohn Daniel dient gegenwärtig als Sonderpionier in Treinta y Tres.

Ein besseres Verhältnis

Viele Jahre lang blickten Ärzte auf Jehovas Zeugen herab, weil sie nicht verstanden, warum Jehovas Zeugen sich des Blutes enthalten (Apg. 15:28, 29). Eine große Anzahl Krankenhäuser im Land lehnten es ab, Jehovas Zeugen aufzunehmen. Andere ließen Zeugen Jehovas zwar zur Operation zu, doch in dem Moment, wo sie Blut verweigerten, wurden sie kurz vor der Operation entlassen. In den letzten Jahren hat sich jedoch das Verhältnis zwischen den Ärzten und den Zeugen erheblich verbessert.

Im Jahr 1986 organisierte das Hospital Central de las Fuerzas Armadas einen Kongreß, um über alternative Behandlungsmethoden für Jehovas Zeugen zu diskutieren. Dazu wurden eine Anzahl prominenter Persönlichkeiten aus den Bereichen Medizin und Chirurgie eingeladen sowie auch Rechtsanwälte, die sich auf den Fachbereich Medizin spezialisiert haben. Jehovas Zeugen unterbreiteten Krankenhausverwaltungen und Ärzteteams Informationsmaterial und machten Vorschläge. Als Ergebnis dieses besonderen Treffens änderten viele Ärzte Uruguays gegenüber den Zeugen ihre Einstellung, und man ist jetzt bereit, die Zeugen medizinisch zu behandeln und ihren biblisch begründeten Standpunkt zur Verwendung von Blut zu respektieren.

Es folgten eine Reihe von Tagungen in Montevideo und dann auch in anderen Städten, die überall publik gemacht wurden. Namhafte Spezialisten haben zugegeben, daß sie mit Hilfe von Jehovas Zeugen neue Techniken für die Behandlung ohne Bluttransfusionen gelernt haben. Ein Professor der Bluttransfusionstherapie sagte: „Wir haben dank der Zeugen Jehovas viel dazugelernt und haben unsere Denkweise geändert. In der Vergangenheit kam es zu zahlreichen Konfrontationen mit ihnen, weil wir sie einfach nicht verstanden. Jetzt erkennen wir, daß sie uns in vielem voraus waren. Offensichtlich sind sie durch das Ablehnen von Blut einer Menge von Problemen aus dem Weg gegangen.“

Ihre Arbeit war nicht umsonst

Es kann wirklich gesagt werden, daß die harte Arbeit, die eifrige Königreichsverkündiger in den 20er bis hin zu den 40er Jahren in Uruguay leisteten, nicht umsonst war. Eine Handvoll fleißiger Königreichsverkündiger kam aus dem Ausland hierher, um in diesem wunderschönen Hügelland Tausende der „begehrenswerten Dinge“ zusammenzubringen und zu unterweisen (Hag. 2:7). In Uruguay gibt es jetzt über 10 000 Verkündiger des Königreiches Gottes. Bei den mehr als 135 Versammlungen stehen durchschnittlich jeder Versammlung ungefähr 5 Älteste zur Verfügung. Die letzte Königreichsdienstschule, die im März 1998 stattfand, wurde von 656 Ältesten und 945 Dienstamtgehilfen besucht. Fast alle Königreichssäle sind Eigentum der jeweiligen Versammlung, und viele der Säle wurden von den Brüdern und mit der finanziellen Unterstützung der Gesellschaft errichtet.

In den letzten 20 Jahren hat sich die Zahl der Verkündiger mehr als verdoppelt, und es bestehen gute Aussichten auf weiteres Wachstum. Solange Jehova die Winde der sich nähernden großen Drangsal zurückhält, werden Jehovas Zeugen in Uruguay fortfahren, an andere die Einladung auszusprechen: „Kommt, und laßt uns zum Berg Jehovas hinaufziehen, zum Haus des Gottes Jakobs; und er wird uns über seine Wege unterweisen, und wir wollen auf seinen Pfaden wandeln“ (Jes. 2:3; Offb. 7:1).

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Juan Muñiz

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Sie wohnten in selbstgemachten Zelten und fuhren auf ihren Fahrrädern durch ganz Uruguay, um zu predigen (von links nach rechts): Kurt Nickel, Gustav und Berta Bender, Otto Helle

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Einige der ersten uruguayischen Verkündiger (von links nach rechts): María de Berrueta, Carola Beltramelli und Catalina Pomponi

[Bilder auf Seite 237]

Missionare, die immer noch in Uruguay dienen: (1) Florence Latimer, (2) Ethel Voss, (3) Birdene Hofstetter, (4) Lira Berrueta, (5) Tove Haagensen, (6) Günter Schönhardt

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Die im Bau befindlichen neuen Zweigeinrichtungen im Jahr 1998

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Zweigkomitee (von links nach rechts): Günter Schönhardt, Delfos Beltramelli, Gerardo Escribano