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Nicaragua

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Nicaragua

Nicaragua ist zu Recht als ein tropisches Paradies beschrieben worden. Seine Ostküste erhebt sich aus dem klaren, türkisfarbenen Wasser der Karibik. An die Westküste rollen die Wellen des mächtigen Pazifiks. Aus der Vogelperspektive gleicht das Land einem Mosaik von Wäldern, Farmen, Flüssen und unzähligen Seen, die wie Juwelen in den Kratern der erloschenen Vulkane glitzern. Doch diese Seen erscheinen im Vergleich zu den beiden riesigen Binnengewässern, dem Nicaraguasee und dem Managuasee, wie kleine blaue Teiche. Allein der Nicaraguasee nimmt mit seinen über 8 200 Quadratkilometern mehr als 6 Prozent der gesamten Fläche des Landes ein.

Die Hauptstadt Managua liegt am Südufer des Managuasees, der eine Fläche von etwa 1 000 Quadratkilometern bedeckt. Der Name „Managua“ ist sehr passend, denn er bedeutet in einer der einheimischen Sprachen „Ort eines großen Gewässers“. In Managua, dem Regierungs- und Geschäftszentrum, leben etwa eine Million Menschen, das sind 20 Prozent der fünf Millionen Einwohner des Landes. Die Stadt liegt auf dem schmalen Küstenstreifen des pazifischen Tieflands, wo etwa 60 Prozent der Nicaraguaner leben. Weitere 30 Prozent bewohnen das zentrale Bergland, und der Rest — weniger als 10 Prozent — hat sich in den zwei dünn besiedelten, politisch autonomen Regionen weiter im Osten angesiedelt, die die Hälfte des Staatsgebiets ausmachen.

An der südlichen Grenze Nicaraguas sind das Karibische Meer und der Pazifik nur etwa 220 Kilometer voneinander entfernt — so breit ist dort die mittelamerikanische Landbrücke. Zwischen dem Nicaraguasee und dem Pazifik liegt nur die 18 Kilometer breite Landenge von Rivas. Der Nicaraguasee entwässert über den Rio San Juan in das Karibische Meer. Die Wasserstraße Rio San Juan-Nicaraguasee war vor dem Bau des Panamakanals eine beliebte Reiseroute, wodurch die Region enorm aufgewertet wurde. Wie die Geschichte bezeugt, stand dieses Gebiet unter dem Einfluss vieler Völker, wie der Mayas, der Azteken, der Tolteken und der Chibchas. Hinzu kamen die Kolonialmächte Spanien, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion.

Der Einfluss dieser vielen Stämme und Nationalitäten ist unschwer an der mehrsprachigen, multikulturellen Gesellschaft Nicaraguas zu erkennen. Die Bevölkerung der Pazifikregion besteht überwiegend aus spanischsprachigen Mestizen, die spanischer und indianischer Herkunft sind; an der Karibikküste findet man hingegen mehrere Volksgruppen — überwiegend Misquito, Kreolen und Mestizen. Daneben gibt es kleinere Ethnien wie Sumo, Rama und Garífuna (Afro-Kariben). Viele dieser Bevölkerungsgruppen haben zwar ihre traditionelle Sprache und Kultur beibehalten, doch die Menschen sind einfach, offen und freundlich. Sie sind tiefreligiös, und viele von ihnen schätzen die Bibel.

Wie wir im Laufe dieses Berichts noch sehen werden, ist die nicaraguanische Mentalität durch widrige Umstände, wie Naturkatastrophen und politische Verhältnisse, geprägt worden. Managua wurde beispielsweise im letzten Jahrhundert zweimal durch Erdbeben zerstört, deren Epizentrum jeweils an der Pazifikseite der Landenge lag. Der Osten Nicaraguas wurde von anderen Naturkatastrophen heimgesucht. Hier waren es verheerende Orkane, die vom Atlantik herkamen. Darüber hinaus brachten Bürgerkrieg, politische Umwälzungen und grausame Diktaturen zusätzliches Leid.

Auch in dieses wunderschöne Land der Seen und Flüsse ergoss sich das reine Wasser der biblischen Wahrheit und brachte Tausenden aufrichtigen Menschen Trost und Hoffnung (Offb. 22:17). Der Strom geistiger Speise, der heute in Nicaragua fließt, zeugt von dem reichen Segen Jehovas, der auf der Verkündigung des Königreiches ruht. Noch vor 60 Jahren war nämlich die Verkündigung der guten Botschaft eher mit einem Rinnsal zu vergleichen.

Tröpfchenweise

Am 28. Juni 1945 trafen zwei leibliche Brüder namens Francis und William Wallace — Absolventen der ersten Klasse der Wachtturm-Bibelschule Gilead — in Managua ein. Sie organisierten die Verkündigung der guten Botschaft in Nicaragua und trafen Vorbereitungen für die Tätigkeit künftiger Missionare. Allerdings waren sie nicht die Ersten, die die Königreichsbotschaft in dieses Land brachten. 1934 hatte eine Pionierin, die zu Besuch war, in Managua und in anderen Teilen des Landes biblische Schriften zurückgelassen. Dennoch hatten bis zum Jahr 1945 erst sehr wenige von Jehovas Zeugen gehört.

Am Anfang ihrer Predigttätigkeit benutzten die Brüder Wallace ein tragbares Grammophon und spielten Schallplatten mit biblischen Vorträgen ab, was damals in Nicaragua eine kleine Sensation war. So hörten innerhalb des ersten Monats 705 Personen von der Königreichsbotschaft.

Im Oktober desselben Jahres trafen vier weitere Missionare ein, und zwar die Ehepaare Harold und Evelyn Duncan und Wilbert und Ann Geiselman. In dem Bemühen, das Königreich auf jede nur erdenkliche Weise bekannt zu machen, organisierten sie öffentliche Zusammenkünfte. So kam es, dass im November 1945 Nicaraguaner auf der Straße mit Handzetteln zu einem öffentlichen Vortrag eingeladen wurden. Obwohl politische Unruhen und Straßenkämpfe die Durchführung der Zusammenkunft gefährdeten, verlief alles friedlich und über 40 Personen hörten diesen ersten öffentlichen Vortrag. Im Missionarheim fanden bereits das wöchentliche Wachtturm-Studium und die Dienstzusammenkunft statt.

Das Jahr 1946 war für die Missionare und für die Ersten, die die biblische Botschaft angenommen hatten, eine glückliche Zeit. Einer der Neuen war der 24-jährige Arnoldo Castro. Schmunzelnd erzählt er, wie er mit der biblischen Wahrheit in Berührung gekommen war: „Meine Mitbewohner, Evaristo Sánchez und Lorenzo Obregón, und ich wollten Englisch lernen. Eines Tages kam Evaristo, mit einem Buch winkend, vom Markt zurück und rief: ‚Ich habe einen Amerikaner getroffen, der uns Englisch beibringen will!‘ Das war allerdings nicht die Absicht des vermeintlichen Lehrers. Aber Evaristo hatte es so verstanden. Als der vereinbarte Zeitpunkt gekommen war, blickten wir drei der Englischstunde bereits gespannt entgegen. Der Missionar Wilbert Geiselman — der ‚Englischlehrer‘ — freute sich, wahrheitshungrige Männer zu treffen, die das Buch schon griffbereit hatten.

Es war das Buch ‚Die Wahrheit wird euch frei machen‘, das wir zweimal wöchentlich beim Studium benutzten. Am Ende war aus dem Englischlernen nicht viel geworden, aber dafür hatten wir die biblische Wahrheit kennen gelernt.“ Arnoldo ließ sich im August 1946 auf einem Kongress in Cleveland (Ohio, USA) taufen und kehrte dann wieder nach Nicaragua zurück, wo er den Pionierdienst aufnahm. Seine beiden Mitbewohner ließen sich Ende desselben Jahres ebenfalls taufen.

Evaristo Sánchez, der jetzt 83 Jahre alt ist, erinnert sich voller Begeisterung an die damalige Zeit: „Anfangs hatten wir keine Versammlungsstätte. Aber da wir nur wenige waren, konnten wir uns dort versammeln, wo die Missionare wohnten. Später mieteten wir ein zweistöckiges Haus, wo 30 bis 40 Personen regelmäßig zusammenkamen.“

Diese drei jungen Männer waren die ersten Nicaraguaner, die die Missionare im Predigtdienst begleiteten — zuerst in Managua und dann in abgelegenen Gegenden. Damals war Managua mit 120 000 Einwohnern kleiner, als es heute ist. Der einzige gepflasterte Teil der Stadt bestand aus etwa 12 Häuserblocks im Zentrum der Stadt. „Wir waren zu Fuß unterwegs“, erinnert sich Evaristo. „Es gab keine Busse, keine gepflasterten Straßen, nur Gleise und die Feldwege für die Ochsenkarren. Je nachdem, ob Trocken- oder Regenzeit herrschte, gingen wir entweder durch den Schlamm oder durch den Staub.“ Die Anstrengungen der Brüder wurden jedoch belohnt, denn im April 1946 besuchten 52 Personen das Gedächtnismahl.

Ein Zweigbüro wird eröffnet

In demselben Monat kamen Nathan H. Knorr und Frederick W. Franz von der Zentrale in Brooklyn zum ersten Mal nach Nicaragua. Während des viertägigen Besuchs hörten 158 Personen Bruder Knorrs öffentlichen Vortrag „Seid fröhlich, ihr Nationen!“. Bruder Franz übersetzte den Vortrag ins Spanische. Vor der Abreise traf Bruder Knorr Vorbereitungen für die Eröffnung eines Zweigbüros der Zeugen Jehovas in Nicaragua, von wo aus das Werk beaufsichtigt werden sollte. Der 26-jährige William Eugene Call, der erst kurz zuvor aus Costa Rica gekommen war, wurde zum Zweigaufseher ernannt.

In den nächsten Jahrzehnten richtete das Zweigbüro in folgenden Städten Missionarheime ein: Jinotepe, Masaya, León, Bluefields, Granada und Matagalpa. Außerdem wurde dafür gesorgt, dass ein Kreisaufseher die neu gegründeten Versammlungen sowie Verkündigergruppen besuchte, damit die Brüder gestärkt und ermuntert wurden.

Erfolg der Gegner von kurzer Dauer

Der Eifer der Brüder führte schon bald zu guten Ergebnissen, worüber sich die Geistlichkeit der Christenheit ärgerte. Die ersten Anzeichen von Gegnerschaft traten in Bluefields auf, einer Stadt an der Karibikküste, wo zwei Missionare tätig waren. Die Lage spitzte sich so weit zu, dass den Zeugen Jehovas am 17. Oktober 1952 per Gerichtsbeschluss jegliche Aktivität untersagt wurde. Die Anordnung war zwar von einem Beamten der Einwanderungsbehörde unterschrieben worden, aber Anstifter war die katholische Geistlichkeit.

Die Missionare in Bluefields, León, Jinotepe und Managua wurden von der Anordnung informiert. Bei den zuständigen Behörden und beim damaligen Präsidenten Anastasio Somoza García wurde Einspruch erhoben, leider ohne Erfolg. Die Brüder kamen daher in kleinen Gruppen zusammen. Der Straßendienst wurde eingestellt, und die im Zweigbüro gelagerte Literatur brachte man an sichere Orte. Unsere religiösen Gegner hatten erreicht, dass das Werk untersagt wurde, indem sie erklärten, Jehovas Zeugen seien Kommunisten. Ein Anwalt wurde beauftragt, beim Obersten Gericht gegen die Anordnung Berufung einzulegen.

Einige Brüder ließen sich zwar von Menschenfurcht lähmen, aber die Mehrheit blieb standhaft. Die Missionare, geistig stark und furchtlos, gaben den einheimischen Brüdern festen Rückhalt, die im Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes weiter predigten und sich versammelten (Apg. 1:8; 5:29; Heb. 10:24, 25). Dann, am 9. Juni 1953, — das Verbot hatte nur acht Monate angedauert — veröffentlichte das Oberste Gericht die einstimmige Entscheidung zugunsten der Zeugen Jehovas und bestätigte damit das verfassungsmäßige Recht auf Religions- und Redefreiheit. Die Intrigen waren also in jeder Hinsicht erfolglos.

Schwierige Zeiten für die ersten Missionare

Den ersten Missionaren machte nicht nur die Geistlichkeit zu schaffen. Nehmen wir zum Beispiel Sydney und Phyllis Porter, Absolventen der 12. Klasse der Wachtturm-Bibelschule Gilead. Als die beiden im Juli 1949 in Nicaragua eintrafen, wurde Sydney zum Kreisaufseher für das ganze Land ernannt. Er beschreibt, wie das Leben im Reisedienst damals aussah: „Als Transportmittel nutzten wir Züge und Busse. Brüder, bei denen wir hätten wohnen können, gab es kaum. Daher reisten wir mit unserem Bettzeug und einem kleinen tragbaren Herd, sodass wir uns Wasser heiß machen und etwas kochen konnten. Oft waren wir zehn Wochen unterwegs, bevor wir wieder ins Zweigbüro zurückkehrten. Das Gebiet war dermaßen fruchtbar, dass es in manchen Gegenden unmöglich war, sich um alle Interessierten zu kümmern. Als wir beispielsweise später in Managua tätig waren, leitete Phyllis 16 Bibelstudien. Wie schaffte sie das zeitlich? Sie opferte unseren freien Tag und setzte auch die Abende ein, an denen keine Zusammenkünfte stattfanden.“ Wie sich die ersten Missionare doch verausgabten!

Doris Niehoff kam 1957 nach Nicaragua. Sie schildert ihre ersten Eindrücke wie folgt: „Es war Ende März, Trockenzeit und die Landschaft sah braun aus. Autos gab es damals kaum. Stattdessen ritt jeder auf einem Pferd und trug ein Gewehr bei sich. Ich kam mir vor wie in einem Western. In jenen Tagen waren die Menschen entweder ganz reich oder ganz arm — die meisten waren jedoch arm. Was alles noch verschlimmerte, war der Umstand, dass Nicaragua wegen eines Gebietsanspruchs mit Honduras Krieg führte. Sechs Monate vor meiner Ankunft war Präsident Somoza García ermordet worden und im Land herrschte Kriegsrecht.

Ich war in die Universitätsstadt León geschickt worden. Da ich kaum Spanisch verstand, hatten die Studenten ihren Spaß daran, mir Streiche zu spielen. Wenn ich zum Beispiel versprach wiederzukommen, um mit einigen über die Bibel zu sprechen, waren sie zwar einverstanden, lachten aber, wenn sie mir ihren Namen nannten. Einer gab den Namen des Präsidentenmörders an, ein anderer den eines bekannten Guerillakämpfers. Es war ein wahres Wunder, dass ich nicht im Gefängnis landete, als ich mich nach den Studenten mit diesen Namen erkundigte.“

Eine Diskussion mit dem Bischof von Matagalpa

Etwa 130 Kilometer nördlich von Managua liegt die Stadt Matagalpa mitten in einem hügeligen Kaffeeanbaugebiet. Ein Missionarehepaar und zwei Missionarinnen wurden 1957 dorthin geschickt. Agustín Sequeira war damals Mathematiklehrer an einer privaten Hochschule, die von Nonnen des Josephine-Ordens geleitet wurde. Er erinnert sich an das religiöse Klima, das damals in Matagalpa herrschte und erzählt: „Die Bevölkerung war überwiegend katholisch und fürchtete die Priester, besonders den Bischof. Er war der Pate eines meiner Kinder.“

Dieses Klima der Furcht erschwerte es dem Zweigbüro, eine Unterkunft für die Missionare zu finden. Als es darum ging, ein Haus zu mieten, unterrichtete das Zweigbüro den Besitzer — einen Anwalt — davon, dass die Missionare dort gern christliche Zusammenkünfte abhalten würden. „Kein Problem“, lautete die Antwort.

Was später geschah, berichtet Doris Niehoff: „An dem Tag, an dem wir mit all unseren Möbeln eintrafen, kam uns der Vermieter mit besorgter Miene entgegen. Er sagte, er habe uns ein Telegramm geschickt und uns gebeten, nicht zu kommen. Weshalb? Der Bischof hatte ihm gedroht, seinen Sohn nicht in die katholische Schule aufzunehmen, falls er das Haus an uns vermieten würde. Glücklicherweise hatten wir das Telegramm nicht erhalten und außerdem schon eine Monatsmiete bezahlt.

Mit Müh und Not gelang es uns dann, im ersten Monat ein anderes Haus zu finden. Als der Bischof versuchte, auch diesen Hauseigentümer, einen mutigen einheimischen Geschäftsmann, unter Druck zu setzen, entgegnete dieser: ‚Schön, wenn Sie mir monatlich die 400 Córdobas zahlen, werde ich die Missionare raussetzen.‘ Natürlich zahlte der Bischof nicht. Unbeirrt ging er jedoch von Laden zu Laden und ließ Poster anbringen, auf denen die Bevölkerung gewarnt wurde, sich mit Jehovas Zeugen auf ein Gespräch einzulassen. Die Ladenbesitzer forderte er auf, uns keine Waren zu verkaufen.“

Trotz des Eifers der Missionare schien in Matagalpa niemand für die Wahrheit Stellung zu beziehen. Agustín, der Mathematiklehrer, hatte allerdings viele Fragen. Er verstand beispielsweise nicht, wieso die Pyramiden immer noch existieren, wenn doch die Pharaonen, die sie gebaut haben, schon so lange tot sind. Er erinnert sich noch genau an den Besuch eines Missionars, der ihm anhand der Bibel seine Fragen beantwortet hatte. Agustín berichtet: „Ich war fasziniert, aus der Heiligen Schrift zu erfahren, dass der Mensch geschaffen wurde, um zu leben, nicht um zu sterben. Er sollte für immer im Paradies auf Erden leben, und die Toten würden auferstehen. Sehr schnell erkannte ich, dass dies die Wahrheit war.“ Wie reagierte Agustín? Er erzählt weiter: „Ich fing an, jedem in der Schule, in der ich unterrichtete, zu predigen — auch der Rektorin, einer Nonne. Sie lud mich an einem Sonntag zu sich ein, um über das Ende der Welt zu sprechen. Zu meiner Überraschung wartete dort der Bischof von Matagalpa auf mich.

‚Nun, mein Freund‘, begann der Bischof, ‚man hat mir erzählt, dass Sie im Begriff sind, Ihren Glauben zu verlieren.‘

‚Welchen Glauben?‘, erwiderte ich. ‚Den Glauben, den ich nie besaß? Ich fange gerade an, etwas über den wahren Glauben zu erfahren.‘ “

Das war der Beginn einer dreistündigen Diskussion, bei der auch die Nonne zugegen war. Agustíns Eifer für seinen neuen Glauben ließ ihn zuweilen ziemlich forsch auftreten. Er bezeichnete die unbiblische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele sogar als ein Geschäft, bei dem unschuldige Menschen ausgebeutet werden. Um dem Bischof diesen Gedanken zu verdeutlichen, sagte er: „Angenommen, meine Mutter ist gestorben. Natürlich wende ich mich an Sie, um eine Messe lesen zu lassen, denn die Seele ist ja im Fegefeuer. Sie berechnen mir diesen Dienst. Acht Tage später folgt die nächste Messe, nach einem Jahr eine weitere und so weiter. Sie sagen mir jedoch niemals: ‚Mein Freund, ich werde keine weiteren Messen lesen, denn die Seele ihrer Mutter ist nicht mehr im Fegefeuer.‘ “

„Oh“, sagte der Bischof, „das liegt daran, dass nur Gott weiß, wann die Seele herauskommt!“

„Und woher wissen Sie, wann sie hineingekommen ist, sodass Sie mit dem Berechnen anfangen können?“, entgegnete Agustín.

Als Agustín später einen weiteren Bibeltext aufschlagen wollte, sagte die Nonne: „Sehen Sie, Monsignore, er benutzt eine unzulässige Bibel, eine Lutherbibel!“

„Nein“, entgegnete der Bischof, „das ist die Bibel, die ich ihm gegeben habe.“

Im weiteren Verlauf der Diskussion war Agustín überrascht, als er den Bischof sagen hörte, man solle nicht alles glauben, was in der Bibel steht. „Nach diesem Treffen war ich davon überzeugt“, so Agustín, „dass die Geistlichkeit der Christenheit die Traditionen der Kirche vor das Wort Gottes stellt, genauso wie die religiösen Führer in den Tagen Jesu.“

Im Februar 1962 wurde Agustín Sequeira der erste getaufte Verkündiger von Matagalpa. Er machte weitere Fortschritte im Glauben, nahm den Pionierdienst auf und wurde zum Ältesten ernannt. Seit 1991 gehört Agustín zum Zweigkomitee in Nicaragua. Im Dienstjahr 2002 wurde über Matagalpa berichtet, dass es dort jetzt zwei blühende Versammlungen mit insgesamt 153 Verkündigern gibt.

Unermüdliche Sonderpioniere

Viele, die die gute Botschaft von Gottes Königreich angenommen hatten, wurden angeregt, ihren Dienst auszudehnen und den Vollzeitdienst aufzunehmen. Unter ihnen waren auch Gilberto Solís, seine Frau María Cecilia und seine jüngere Schwester María Elsa. Alle drei ließen sich 1961 taufen, und vier Jahre später waren sie als Sonderpioniere fleißig tätig. Dieses Trio gründete beziehungsweise unterstützte neun Versammlungen in verschiedenen Regionen des Landes. Eines ihrer Gebiete war Ometepe, eine Insel im Nicaraguasee.

Ometepe erstreckt sich über eine Fläche von 276 Quadratkilometern und besteht aus zwei Vulkanen, von denen einer 1 600 Meter hoch ist. Aus der Luft betrachtet hat die Insel die Form einer Acht. Die drei Pioniere machten sich beim Morgengrauen auf den Weg, um auf Ometepe zu predigen. So weit es ging, fuhren sie mit dem Bus; dann gingen sie zu Fuß — oft barfuß — am Sandstrand weiter, um zu den vielen Dörfern der Insel zu gelangen. In einem Zeitraum von 18 Monaten gründeten sie auf Ometepe mehrere Bibelstudiengruppen, die größte in Los Hatillos.

Für viele der neuen Verkündiger in Los Hatillos war der Tabakanbau eine Haupteinnahmequelle gewesen. Aber jetzt ließ ihr biblisch geschultes Gewissen es nicht mehr zu, diese Arbeit zu verrichten. Die meisten waren nun auf das Fischereigewerbe angewiesen, obwohl es einen geringeren Verdienst bedeutete. Die Solís waren überglücklich, einen solchen Glauben zu beobachten. Das war nur eine der vielen Segnungen im Dienst Jehovas. Die Zahl der Verkündiger stieg schnell auf 32 an. Sie brauchten nun unbedingt einen Königreichssaal. Einer der neuen Verkündiger, Alfonso Alemán, baute Wassermelonen an. Er stellte freundlicherweise ein Stück Land für einen Königreichssaal zur Verfügung. Aber woher sollten die Verkündiger in Los Hatillos die Mittel zum Bauen nehmen?

Gilberto Solís bemühte sich um einige Helfer, die auf dem bereitgestellten Stück Land Wassermelonensamen säten. Gilberto ermunterte die Gruppe, sich für Jehova um den Anbau der Wassermelonen zu kümmern, und legte auch selbst fleißig mit Hand an. María Elsa, eine zarte, aber tatkräftige Frau beschreibt, was die kleine Verkündigergruppe alles unternahm. Sie erzählt: „Wir standen schon vor Tagesanbruch auf und bewässerten das Feld. Drei Rekordernten waren der Lohn. Bruder Alemán brachte die Melonen mit seinem Boot über den Nicaraguasee nach Granada, wo er sie verkaufte und von dem Erlös Baumaterialien beschaffte. So entstand der Königreichssaal in Los Hatillos. Deshalb nennt ihn mein Bruder den kleinen ‚Wassermelonensaal‘.“ Das waren die bescheidenen Anfänge auf der Insel Ometepe, wo es jetzt drei prächtige Versammlungen gibt.

Gilberto, seine Frau und seine Schwester haben durch ihre demütige Einstellung, ihre positive Gesinnung und ihr unerschütterliches Vertrauen auf Jehova das Herz vieler Menschen erreicht. Gilberto sagte immer: „Wir sollten die Neuen wie kleine Kälbchen betrachten. Sie sind liebenswert, aber noch schwach. Wir wollen uns niemals über ihre Schwächen aufregen, sondern ihnen helfen, stark zu werden.“ Diese einfühlsame Haltung hat zweifellos dazu beigetragen, dass die drei vorbildlichen Sonderpioniere 265 Personen helfen konnten, sich Jehova hinzugeben und sich taufen zu lassen. Gilbertos Frau ist inzwischen in Treue gestorben. Er selbst ist jetzt 83 und merkt, dass seine Gesundheit stark nachgelassen hat. Doch sein Wunsch, Jehova zu dienen, ist so stark wie eh und je. Und was gibt es über María Elsa zu berichten? Als sie vor kurzem gefragt wurde, wie sie sich nach 36 Jahren im Sonderpionierdienst fühlt, sagte sie: „Wie am ersten Tag. Ich bin sehr froh und danke Jehova, dass er uns in seine heilige Organisation gebracht und uns einen kleinen Platz in diesem wunderbaren geistigen Paradies zugewiesen hat.“ Im Verlauf der Jahre haben viele hart arbeitende Pioniere wie die Solís erlebt, dass durch den reichen Segen Jehovas in Nicaragua eine große Ernte an Königreichsfrüchten eingebracht werden konnte.

Das Erdbeben in Managua im Jahr 1972

Am 23. Dezember 1972 kurz nach Mitternacht wurde Managua von einem gewaltigen Erdbeben der Stärke 6,25 auf der Richterskala erschüttert. Das entspricht der Energie, die bei der Explosion von etwa 50 Atombomben freigesetzt wird. Das Zweigbüro lag im Osten von Managua, nur 18 Häuserblocks vom Epizentrum entfernt. „Alle Missionare waren im Bett“, erzählt Levi Elwood Witherspoon, der damalige Zweigaufseher. „Als das Beben aufhörte, rannten wir nach draußen, mitten auf die Straße. Dann folgten kurz aufeinander zwei weitere Beben. Um uns herum stürzten überall Häuser ein. Die Stadt war in eine dicke Staubwolke gehüllt, und im Zentrum sah man den roten Feuerschein verheerender Brände.“

Das Epizentrum befand sich direkt unter dem Geschäftsviertel, und innerhalb von nur 30 Sekunden war Managua unbewohnbar. Überlebende krochen aus Staub und Trümmern hervor und rangen mühsam nach Atem. Für viele war es allerdings zu spät. Obwohl einige die Zahl der Toten auf über 12 000 geschätzt haben, blieb die genaue Zahl der Opfer unbekannt. Etwa 75 Prozent der Häuser in Managua wurden zerstört und 250 000 Menschen verloren ihr Obdach. In den drei darauf folgenden Tagen verließen täglich etwa 100 000 Menschen die Stadt.

Christliche Liebe tritt in Aktion

Am Tag des Erdbebens hatte das Zweigbüro schon mittags einen vollständigen Bericht von den Versammlungsaufsehern in Managua. Sie waren schnell und einvernehmlich vorgegangen und hatten jeden ausfindig gemacht, der zur Versammlung gehörte, um zu sehen, wie ihm geholfen werden konnte. Glücklicherweise war unter den über 1 000 Zeugen Jehovas in der Stadt kein Todesopfer zu beklagen, wenngleich über 80 Prozent der Brüder ihr Heim verloren hatten.

Getrieben von christlicher Liebe schritten Jehovas Zeugen aus den Nachbarländern schnell zur Tat. Weniger als 22 Stunden nach dem Erdbeben erreichten Lastwagen mit Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten und Kleidung das Zweigbüro. Tatsächlich war das Zweigbüro eines der ersten Zentren, die Hilfsgüter zur Verfügung stellten. Außerdem strömten zahlreiche Helfer aus anderen Versammlungen Nicaraguas herbei. Schnell waren alle dabei, Kleidung zu sortieren, Nahrungsmittel zu verpacken und alles zu verteilen. Auch aus weit entfernten Teilen der Welt trafen Hilfsgüter ein.

Einen Tag nach dem Beben kam der Zweigaufseher mit Vertretern der Zweigbüros von Costa Rica, El Salvador und Honduras zusammen, um weitere Hilfe zu organisieren. Die außerhalb von Managua wohnhaften Zeugen nahmen liebevollerweise Glaubensbrüder bei sich auf, die die Stadt verlassen mussten. Die in der Stadt verbliebenen wurden in Gruppen eingeteilt, die sich zu christlichen Zusammenkünften trafen und gemeinsam predigten. Der Kreisaufseher besuchte diese Gruppen, um sie zu ermuntern und ihnen Hilfsgüter zu bringen.

Zufolge des Erdbebens herrschte überall im Land wirtschaftliche Not. Aber trotz der sich verschlimmernden Lebensbedingungen ging es mit den Wiederaufbauarbeiten an den Königreichssälen und den Häusern von Glaubensbrüdern gut voran. Zudem kamen viele Neuinteressierte in die Versammlungen. Bestimmt freute sich Jehova über sein Volk, weil es nicht aufhörte, die Königreichsinteressen an die erste Stelle zu setzen (Mat. 6:33).

Im Jahrbuch 1975 heißt es: „Die meisten der 14 Versammlungen in Managua kommen immer noch in Gebäuden mit rissigen Wänden zusammen oder einfach unter einem verzinkten Dach in einem Innenhof. Interessanterweise ist die Zahl der Besucher bei diesen Zusammenkünften im letzten Jahr auf das Doppelte gestiegen. Die Brüder hatten eine 20-prozentige Zunahme gegenüber dem Verkündigerdurchschnitt des letzten Jahres. Es gibt dort jetzt 2 689 Verkündiger, und 417 wurden getauft.“

Aufgrund des anhaltenden Wachstums war das alte Zweigbüro den Anforderungen nun nicht mehr gewachsen. Man stelle sich die Begeisterung der Verkündiger vor, als im Dezember 1974 — nur zwei Jahre nach dem Erdbeben — ein neues Zweigbüro und ein Missionarheim fertig gestellt wurden! Das neue Zweigbüro lag in einer ruhigen Gegend in der Calle El Raizón, gut 15 Kilometer südlich vom Stadtzentrum Managuas entfernt.

Missionare — vorbildlich in Liebe und Einheit

Seit der Zeit, als die Brüder Wallace im Jahr 1945 nach Nicaragua kamen, sind die Missionare für die Einheimischen ein Vorbild im Glauben, in der Liebe und im Ausharren gewesen. Durch diese bewundernswerten Eigenschaften kamen sich die Missionare nicht nur gegenseitig näher, sondern auch ihren einheimischen Glaubensbrüdern. Kenneth Brian erzählt: „Nach dem Erdbeben halfen wir im Zweigbüro aus; dann waren wir den Brüdern behilflich, aus ihren beschädigten Häusern auszuziehen und ihre verstorbenen Verwandten zu beerdigen. Unter solchen Umständen miteinander zu arbeiten, schweißt Menschen zusammen.“ Über ihre Missionargefährten bemerkt Marguerite Moore (früher Foster) Folgendes: „Obwohl wir aus verschiedenen Ländern kamen, unterschiedlicher Herkunft waren und jeder seine eigene Persönlichkeit hatte, half uns der familiäre Zusammenhalt trotz unserer Unzulänglichkeiten, in unserer Zuteilung glücklich zu sein.“

Kenneth und Sharan Brian sind sehr froh darüber, dass ihnen das Beispiel erfahrener Missionare wie Francis und Angeline Wallace, Sydney und Phyllis Porter und Emily Hardin zugute gekommen war. „Alle waren sehr fleißig“, erinnert sich Sharan, „und es war klar zu erkennen, dass sie in ihrer Arbeit aufgingen.“

Im Laufe der Jahre wurden viele Missionarehepaare im Reisedienst eingesetzt. So gab es in den ersten drei Jahrzehnten in Nicaragua ein ausgezeichnetes geistiges Wachstum, weil die eifrigen Missionare ein solides Fundament gelegt hatten. Die Stabilität des geistigen Gebäudes sollte allerdings auf die Probe gestellt werden, nicht durch ein weiteres Erdbeben, sondern durch etwas, was länger dauerte und in geistiger Hinsicht gefährlicher war: durch den Nationalismus und eine Revolution (1. Kor. 3:12, 13).

Die Flammen der Revolution

Ende der 1970er Jahre gewann die Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) im Land immer mehr an Macht. Schließlich stürzte sie die seit 42 Jahren bestehende Militärherrschaft. Ruby Block, eine Missionarin, die 15 Jahre in Nicaragua verbrachte, sagt über die damalige Zeit: „Die jahrelange intensive politische Propaganda ging allen auf die Nerven. Zwischen den Militärs und den Sandinisten kam es häufig zu gewaltsamen Zusammenstößen. Um unseren Dienst durchführen zu können, mussten wir völlig auf Jehova vertrauen.“

Trotz ihrer christlichen Neutralität in politischen Angelegenheiten wurden Jehovas Zeugen oft von Anhängern der Sandinisten beschuldigt, entweder Agenten des Somoza-Regimes oder des CIA (amerikanischer Geheimdienst) zu sein. Auch gegen Ausländer schürte man Feindseligkeit. Als die Missionarin Elfriede Urban beispielsweise einmal im Predigtdienst unterwegs war, beschuldigte ein Mann sie der Spionage. „Wie soll das denn gehen?“, entgegnete sie. „Ich habe weder eine Kamera noch ein Tonbandgerät bei mir. Und außerdem, wen oder was sollte ich denn hier in der Nachbarschaft wohl ausspionieren?“

Er erwiderte: „Sie sind so gut geschult, dass Ihre Augen Ihre Kamera sind und Ihre Ohren und Ihr Gehirn wie ein Tonbandgerät funktionieren.“

In den Straßen Managuas erschallte in jenen Tagen immer wieder der beliebte Slogan: „Zwischen den Christen und der Revolution gibt es keine Opposition!“ Dieses Denken wurde in den 1970er Jahren in Lateinamerika populär und spiegelte die Ansicht der Befreiungstheologie wider, die von einer marxistischen Bewegung innerhalb der katholischen Kirche gestützt wurde. Gemäß der Encyclopædia Britannica verfolgte die Befreiungstheologie das Ziel, „den Armen und Unterdrückten durch das Eingreifen [der Religion] in politische und bürgerliche Belange zu helfen“.

Ruby Block erinnert sich: „Eine Frage, die die Menschen damals immer wieder stellten, lautete: ‚Was halten Sie von der Revolution?‘ Wir erklärten, die einzige Lösung für die Probleme der Menschen sei Gottes Königreich.“ Angesichts dieser brisanten politischen Lage war es wirklich eine Herausforderung, an der Loyalität gegenüber Jehova festzuhalten. Ruby fügt hinzu: „Ich bat Jehova ständig um Kraft, neutral bleiben zu können — nicht nur in dem, was ich sagte, sondern auch in meinem Herzen und in meinem Sinn.“

Nach monatelangen heftigen Unruhen startete die FSLN im Mai 1979 einen Generalangriff, um die Regierung zu stürzen. Präsident Somoza Debayle wurde gezwungen das Land zu verlassen und seine Nationalgarde wurde aufgelöst. Im Juli desselben Jahres übernahm die Junta des nationalen Wiederaufbaus die Macht. Man schätzt, dass 50 000 Nicaraguaner während der Revolution umgekommen sind.

Wie ist es den Brüdern ergangen? In Unserem Königreichsdienst für Oktober 1979 war Folgendes zu lesen: „Die Brüder sind guten Mutes und führen die Zusammenkünfte und das Werk des Predigens und Jüngermachens wieder durch. Während der unruhigen Zeit verloren nur drei Brüder ihr Leben. Durch Plünderung verloren aber viele, die zur Miete wohnen, ihr Hab und Gut. Der Straßenverkehr ist lahm gelegt. Die meisten Busse wurden zerstört, die Straßen werden erst jetzt repariert, und Treibstoff ist kaum vorhanden.“ Trotz allem sollten auf Jehovas Volk noch größere Schwierigkeiten zukommen.

Verhaftungen und Ausweisungen

Schnell zeigte sich, dass die neue Regierung die neutrale Haltung der Zeugen Jehovas nicht billigte. Der Zoll erschwerte die Einfuhr von Literatur. Außerdem erforderte ein Gesetz, das 1981 erlassen wurde, dass alle bürgerlichen und religiösen Gesellschaften eingetragen und rechtlich anerkannt sein mussten. Bis den Brüdern diese Anerkennung gewährt wurde, war ihr früherer rechtlicher Status aufgehoben. Bedauerlicherweise blieben die Bitten um Eintragung unbeantwortet.

Im September 1981 wurden Andrew und Miriam Reed, die im zentralen Bergland im Kreisdienst tätig waren, festgenommen. Zehn Tage hielt man sie in verschiedenen Gefängnissen unter höchst unangenehmen Bedingungen fest. Schließlich brachte man sie in das Hauptquartier der Geheimpolizei, wo sie die meiste Zeit in getrennten Zellen untergebracht waren. Sie wurden häufig verhört; manchmal dauerte ein Verhör mehrere Stunden. Man wollte ihnen unbedingt die Namen verantwortlicher Brüder entlocken. Beiden wurde jeweils gesagt, ihr Ehepartner habe zugegeben, ein Agent des CIA zu sein. Dabei waren die Reeds nicht einmal amerikanische Staatsbürger. Letztendlich teilte man ihnen mit, alles sei ein Versehen gewesen. Obwohl sie formal nie angeklagt wurden, wies man sie nach Costa Rica aus. Zuvor sagte man ihnen jedoch, es sei nicht zu akzeptieren, dass sich Jehovas Zeugen weigerten Waffen zu tragen. Jeder Nicaraguaner müsse für sein Land kämpfen.

Für den Fall, dass das Zweigbüro irgendwann geschlossen werden würde, hatte das Zweigkomitee in weiser Voraussicht die einheimischen Brüder für die Leitung des Werkes geschult. In der Zwischenzeit fanden mehrere Klassen der Königreichsdienstschule für Älteste und Dienstamtgehilfen statt sowie ein Kurs für Kreisaufseher und ihre Vertreter. Außerdem wurden mehrere Klassen der Pionierdienstschule abgehalten. Mit großen Veranstaltungen war es allerdings schwierig.

Im Dezember 1981 sollte in Masaya einer der beiden Bezirkskongresse „Loyale Unterstützer des Königreiches“ stattfinden. Obwohl die Stadträte von Masaya die Benutzung des Stadions genehmigt hatten, nahmen sie ihre Zusage 36 Stunden vor Beginn des Kongresses zurück. Die Entscheidung kam nicht vom Bürgermeisteramt, sondern von der Zentralregierung. Die Brüder waren allerdings schon gewarnt worden. So konnten sie einen Tag vorher mit einer Glaubensschwester Vereinbarungen treffen, die großzügigerweise bereit war, ihre Hühnerfarm zur Verfügung zu stellen. Das Gelände war etwa acht Kilometer von Managua entfernt. Rund um die Uhr waren Freiwillige mit dem Herrichten beschäftigt. Im Handumdrehen wurden mehr als 6 800 Brüder mündlich von der neuen Versammlungsstätte unterrichtet.

Zweigbüro geschlossen

Am Samstag, den 20. März 1982, gegen 6.40 Uhr hielt vor dem Zweigbüro ein Bus mit Beamten der Einwanderungsbehörde und Soldaten, bewaffnet mit Maschinengewehren. Ian Hunter war gerade dabei, das Frühstück für die Missionarfamilie vorzubereiten, als die Soldaten das Zweigbüro und das Missionarheim umstellten. „Die Beamten sagten, jeder solle nur einen Koffer und eine kleine Tasche packen“, berichtet Ian. „Sie sagten nicht, warum, nur dass wir zu einem Haus gebracht würden, wo wir eine kurze Zeit bleiben und bestimmte Untersuchungen abwarten müssten. Reiner Thompson, Koordinator des Zweigkomitees, schlüpfte unbemerkt ins Büro und telefonierte mit den anderen Missionarheimen, um sie über das Geschehen zu informieren.“

Ruby Block berichtet: „An diesem Tag wurde mir so richtig bewusst, was Paulus mit den Worten an die Philipper meinte: ‚Seid um nichts ängstlich besorgt, sondern lasst in allem durch Gebet und Flehen ... eure Bitten bei Gott bekannt werden; und der Frieden Gottes, der alles Denken übertrifft, wird euer Herz und eure Denkkraft ... behüten‘ (Phil. 4:6, 7). Von der Küche aus schaute ein bewaffneter Soldat zu, als Reiner Thompson mit uns allen betete. Am Schluss sagten wir alle aus tiefstem Herzen ‚Amen‘. Danach spürten wir eine große innere Ruhe, obwohl wir keine Ahnung hatten, wie der Tag enden würde. Wir waren aber zuversichtlich, dass Jehova uns die Kraft geben würde, die Lage zu meistern, was immer auch geschehen würde. Dieses Erlebnis bedeutet mir sehr viel und ich werde es niemals vergessen.“

Bruder Hunter berichtet, was weiter geschah: „Wir mussten in einen Bus einsteigen, der uns aufs Land zu einer alten Kaffeeplantage brachte. Ich erinnerte die Beamten daran, dass wir als Ausländer das Recht hätten, mit unserer jeweiligen Botschaft Kontakt aufzunehmen. Sie erwiderten, die Erklärung des Ausnahmezustandes, die am Anfang der Woche gegeben worden war, setze solche Rechte außer Kraft. Und wenn wir erst einmal außer Landes seien, könnten wir sprechen, mit wem wir wollten. Das war die erste versteckte Andeutung, dass wir aus Nicaragua ausgewiesen werden sollten.“ Noch an diesem Tag wurden die neun Missionare, die im Zweigbüro wohnten, in getrennten Gruppen an die Grenze von Costa Rica gebracht.

Mittlerweile hatten die Missionare in den anderen Heimen aufgrund des Anrufs von Bruder Thompson die Zeit genutzt. Mit der Unterstützung einheimischer Brüder hatten sie einiges an Ausrüstung, unter anderem eine Offsetdruckmaschine und vieles an persönlichem Eigentum, weggeschafft. Als die Beamten der Einwanderungsbehörde eintrafen, wunderten sie sich über das fast leere Haus und darüber, dass die Missionare beim Kofferpacken waren. An jenem Abend wurden die zehn Missionare der beiden Heime zum Flugplatz gebracht. „Obwohl man uns als Konterrevolutionäre bezeichnete“, erzählt Phyllis Porter, „wurde unser Gepäck keiner Sicherheitskontrolle unterzogen. Wir hatten zwar keine Flugtickets, aber aus unserem Gepäckschein ging hervor, dass wir nach Panama ausgewiesen wurden.“ Die einzigen Missionare, die noch im Land verblieben — ein Ehepaar aus Großbritannien im Kreisdienst —, wurden einige Monate später ausgewiesen.

Innerhalb von wenigen Tagen waren die Missionare im Zweigbüro von Costa Rica wieder vereint. Damit sie ihren Dienst fortsetzen konnten, erhielten sie von der leitenden Körperschaft neue Zuteilungen — unter anderem das benachbarte Belize, Ecuador, El Salvador und Honduras. Reiner und Jeanne Thompson und Ian Hunter blieben noch eine Zeit lang in Costa Rica, um den Kontakt zu den Brüdern aufrechtzuerhalten, die nun das Werk in Nicaragua beaufsichtigten.

Wie kamen die nicaraguanischen Brüder mit der Situation zurecht? „Nachdem sie wegen unserer Ausweisung Tränen vergossen haben“, schrieb Bruder Hunter damals, „gehen unsere lieben Brüder unbeirrt im Werk voran. Das neu ernannte Landeskomitee nimmt die Leitung fest in die Hand, und wir sind zuversichtlich, dass die Betreffenden ihre Sache gut machen werden.“ Félix Pedro Paiz, ein langjähriger einheimischer Kreisaufseher, berichtet, wie allen zumute war, als die Missionare ausgewiesen wurden: „Wir bedauerten das alles sehr. Sie hatten sich wirklich verausgabt und waren loyal geblieben. Durch ihr Beispiel legten sie eine solide Grundlage für das Werk in unserem Land und konnten die Brüder gestärkt zurücklassen.“

Einschränkungen, aber kein Verbot

Die neutrale Haltung der Zeugen Jehovas gegenüber der Politik, den Kriegen und den sozialen Konflikten wird zuweilen von den Regierungen missverstanden. So kommen oft widersprüchliche Vorstellungen über Jehovas Zeugen zustande. Unter dem Somoza-Regime während der 1950er und 1960er Jahre bezichtigten Gegner sie, Kommunisten zu sein. In den Augen der Sandinisten waren sie dann Agenten des amerikanischen Geheimdienstes. Die Medien schlugen in die gleiche Kerbe und bezeichneten sie als „konterrevolutionär“.

Trotzdem waren Jehovas Zeugen nicht verboten, wenngleich die freie Religionsausübung in der Zeit von 1982 bis 1990 bestimmten Einschränkungen unterworfen war. Sie konnten zum Beispiel keine Literatur ins Land bringen. Außerdem wurde ein Überwachungssystem eingeführt, durch das sowohl ihre Aktivitäten als auch die der Allgemeinheit kontrolliert wurden.

Von Nachbarn beobachtet

In einem Handbuch der Staatsbibliothek heißt es: „Unmittelbar nach der Revolution gründete die FSLN in Nicaragua Massenorganisationen zur Vertretung bedeutender Interessengruppen.“ So gab es Organisationen für Arbeiter, Frauen, Viehzüchter, Farmer und Landarbeiter. Gemäß dem Handbuch „gehörten 1980 etwa 250 000 Nicaraguaner diesen sandinistischen Organisationen an“. Zu den einflussreicheren zählten die CDS (Comités de Defensa Sandinista), sandinistische Verteidigungskomitees, die kommunistisch orientiert waren. Die CDS setzten sich aus Nachbarschaftskomitees zusammen, die in Städten Block für Block eine Volkszählung vornahmen. „So wusste man über den Aufenthaltsort eines jeden Bescheid“, heißt es in der oben angeführten Quelle. Diese Komitees dienten dem Staat als wirksames Instrument, um an Informationen heranzukommen und sie zu verbreiten.

Gegen Jehovas Zeugen war inzwischen eine heftige Propagandakampagne in die Wege geleitet worden, und so dauerte es nicht lange, bis ihre Aktivitäten genau unter die Lupe genommen wurden. Wer im Verdacht konterrevolutionärer Aktivitäten und „ideologischer Sabotage“ stand, wurde regelmäßig von den Nachbarschaftskomitees bei den sandinistischen Behörden angezeigt. Häufig wurden die Denunzierten dann von Agenten der Staatssicherheit festgenommen.

Eine Einrichtung der CDS war ein „Blockwartsystem“, ein nächtlicher Wachdienst. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, sich daran zu beteiligen. Männer wie Frauen sollten auf irgendwelche kriminellen oder konterrevolutionären Aktivitäten in ihrer Nachbarschaft achten. Die Zeugen machten dabei nicht mit, auch stellten sie ihre Wohnungen für die wöchentlichen CDS-Treffen nicht zur Verfügung. An anderen freiwilligen Maßnahmen wie dem Reinigen von Straßen beteiligten sich die Zeugen selbstverständlich, trotzdem hielt man sie für Fanatiker und sah in ihnen eine Gefahr für den Staat. Ein Bruder berichtet: „An die Vorderseite meines Hauses hatte man die Worte ‚Wir beobachten euch‘ geschrieben, sie standen dort fast zehn Jahre.“

Vorsichtig, aber mutig

Um nicht ungebührlich aufzufallen, verhielten sich die Brüder äußerst vorsichtig, wenn sie christliche Zusammenkünfte besuchten und im Predigtdienst tätig waren. Die Zusammenkünfte hatten in etwa die Größe von Großfamilien, und da sie in Privatwohnungen oder nicht gekennzeichneten Königreichssälen stattfanden, erregten sie keine Aufmerksamkeit. Je nachdem, in welcher Umgebung die Brüder zusammenkamen, verzichteten sie auf das Singen von Königreichsliedern. Mit der Zeit ersetzten die Verkündiger ihren Namen auf Formularen und Berichten der Versammlung durch Zahlen. Außerdem wurden Interessierte erst dann zu den Zusammenkünften eingeladen, nachdem sie mindestens ein halbes Jahr die Bibel studiert hatten und Fortschritte erkennbar waren.

Man hielt nur kleine Kongresse ab und das dargebotene Programm war gekürzt. Vortragsdispositionen und andere Unterlagen wurden an alle Versammlungen gesandt, damit das Programm von ortsansässigen Ältesten ausgearbeitet und mithilfe von befähigten Dienstamtgehilfen auf Versammlungsebene dargeboten werden konnte. Die Mitglieder vom Landeskomitee sowie reisende Aufseher besuchten so viele Kongresse wie möglich.

Über die Versammlungsstätten wurden alle mündlich informiert. Keiner dieser Kongresse musste abgesagt werden. Doch so manches Mal war man gezwungen, in letzter Minute eine neue Örtlichkeit zu finden. 1987 war man beispielsweise dabei, in einer ländlichen Gegend im Garten eines Bruders einen Kongress für 300 Besucher vorzubereiten. Plötzlich erschien ein Militärpolizist mit seinen Leuten. „Was hat denn das alles zu bedeuten?“, fragte er.

„Wir wollen eine Gartenparty veranstalten“, erwiderte der Bruder, der an den Stiefeln des Mannes erkannt hatte, dass er von der Staatssicherheit war. Daraufhin ging der Beamte weg. Es lag auf der Hand, dass die Behörden Verdacht geschöpft hatten, und daher arbeiteten die Brüder und Schwestern die ganze Nacht hindurch, um alles wegzuräumen. Gegen 5 Uhr morgens waren die Stühle, die Bühne und die gesamte Küchenausrüstung nicht nur weggeräumt, sondern bereits auf einem anderen Gelände, etwa eineinhalb Kilometer entfernt, wieder aufgebaut worden. Kräftige junge Leute, die schnell laufen konnten, informierten die Brüder über die neue Versammlungsstätte. Im Laufe des Vormittags hielt auf dem ersten Gelände ein Lastwagen mit bewaffneten Soldaten. Sie hofften, den Kongress aufzulösen, junge Leute für den Militärdienst zu rekrutieren und verantwortliche Brüder festzunehmen. Der Einzige, den sie antrafen, war der Hausbesitzer.

„Wo sind all die Leute?“, wunderte sich der Beamte.

„Wir hatten gestern Abend eine Party, aber die ist nun vorbei“, entgegnete der Bruder.

„Hatten Sie nicht einen Kongress?“, fragte der Beamte.

„Überzeugen Sie sich selbst“, entgegnete der Bruder. „Hier ist nichts.“

Etwas ungläubig fuhr der Beamte fort: „Und was ist mit den Zelten, die gestern hier standen?“

„Die Party ist vorbei“, wiederholte der Bruder. „Sie haben alles mitgenommen.“

Danach gingen die Soldaten weg. Inzwischen erfreuten sich die Brüder auf dem neuen Gelände an dem glaubensstärkenden Programm.

Jesus sagte: „Siehe! Ich sende euch aus wie Schafe inmitten von Wölfen; darum erweist euch vorsichtig wie Schlangen und doch unschuldig wie Tauben“ (Mat. 10:16). Die Verkündiger nahmen sich diese Worte zu Herzen, und zwar nicht nur in Verbindung mit Zusammenkünften und Kongressen, sondern auch im Predigtdienst. Sie vermieden es, große Gruppen zu bilden, und gingen nur zu zweit in zuvor zugeteilte Gebiete. Bruder Félix Pedro Paiz, der als Kreisaufseher tätig war, berichtet: „Wir mussten sehr vorsichtig sein. Im Predigtdienst hatten wir nur die Bibel dabei. Jeden Tag begleitete mich ein anderer Bruder in den Dienst. In bestimmten Versammlungen besuchte ich am Dienstagabend eine Buchstudiengruppe, am Donnerstag eine weitere und am Sonntag wieder eine andere. In einigen Landesteilen konnten diese Vorsichtsmaßnahmen etwas gelockert werden.“

Beschlagnahmungen und Verhaftungen

Eines Nachts im Juli 1982 besetzten Gruppen von 100 bis 500 Randalierern in Begleitung von Agenten der Staatssicherheit mehrere Königreichssäle im Land. Wie es hieß, geschah dies „im Namen des Volkes“. Am 9. August wurden zwischen 19 und 21 Uhr fünf weitere Königreichssäle, ein Kongresssaal und ein Gebäude des ehemaligen Zweigbüros in der Calle El Raizón beschlagnahmt. Nachdem die Missionare im März ausgewiesen worden waren, blieben noch sechs nicaraguanische Brüder sowie das Missionarehepaar, das im Land verblieben war, im Zweigbüro wohnen, um das Gebäude zu bewachen. Doch schließlich zwangen die Beamten, angestachelt durch das Gegröle des Pöbels, auch diese zum Gehen. Sie durften nicht einmal ihre persönlichen Sachen mitnehmen.

Die Regierung gestattete den CDS, über die beschlagnahmten Königreichssäle zu verfügen, die nun als „Besitz des Volkes“ bezeichnet wurden. Angeblich sollten die Säle der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Letztendlich waren von insgesamt 50 Sälen 35 widerrechtlich besetzt worden, die jedoch formal nie beschlagnahmt worden waren.

In diesem nationalistisch aufgeheizten Klima wurden verantwortliche Brüder nicht nur streng bewacht, sondern auch häufig bedroht. In bestimmten Vierteln belästigten CDS-Randalierer die Brüder, indem sie stundenlang vor ihren Häusern Beschuldigungen und politische Slogans skandierten. Beamte der Staatssicherheit durchsuchten und plünderten sogar einige Wohnungen. Eine Reihe von Ältesten, auch solche, die zum Landeskomitee gehörten, wurden festgenommen und misshandelt.

Einer der ersten, denen es so erging, war Joel Obregón, der damals Kreisaufseher war. Am 23. Juli 1982 umstellten Beamte der Staatssicherheit das Haus, in dem er und seine Frau Nila zu Gast waren, und nahmen ihn fest. Erst nach fünf Wochen ständiger Bemühungen gestattete man Nila, ihren Mann zu sehen, jedoch nur für drei Minuten und in Gegenwart eines bewaffneten Beamten. Joel war offenbar misshandelt worden, denn er war abgemagert und es bereitete ihm Mühe, zu sprechen. „Joel will nicht mit uns zusammenarbeiten“, sagte ein Beamter zu Nila.

Nach 90 Tagen wurde Joel endlich aus dem Gefängnis entlassen, er hatte 20 Kilo abgenommen. Auch in anderen Landesteilen wurden Älteste verhaftet, verhört und wieder entlassen. Wie ihre beispielhafte Lauterkeit doch den Glauben der Brüder stärkte! (Siehe auch den Kasten „Eine Konfrontation mit der Geheimpolizei“, Seite 99—102.)

Die Wehrpflicht — ein Prüfstein für christliche Jugendliche

Besonders jüngere Brüder waren von der 1983 eingeführten Verordnung der allgemeinen Wehrpflicht, Patriotischer Militärdienst genannt, betroffen. Männer zwischen 17 und 26 Jahren waren gesetzlich verpflichtet, zwei Jahre aktiv zu dienen und zwei weitere Jahre als Reservisten. Nach der Einberufung wurden sie direkt in ein militärisches Trainingslager gebracht. Für Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen gab es keine Regelung. Wer den Wehrdienst verweigerte, blieb bis zur Verhandlung in Haft und wurde dann zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Die Brüder stellten sich tapfer dieser Prüfung. Sie waren entschlossen, Jehova gegenüber loyal zu bleiben.

Als beispielsweise der 20-jährige Pionier Guillermo Ponce aus Managua am 7. Februar 1985 unterwegs war, um Bibelstudien durchzuführen, wurde er von der Polizei festgenommen. Weil er keinen Wehrpass hatte, brachte man ihn in ein militärisches Trainingslager. Aber statt eine Waffe in die Hand zu nehmen, gab Guillermo den jungen Rekruten Zeugnis. Als ein Kommandant das sah, fuhr er ihn ärgerlich an: „Das hier ist keine Kirche, sondern ein Militärlager. Hier müssen Sie uns gehorchen!“ Guillermo antwortete mit den Worten aus Apostelgeschichte 5:29: „Wir müssen Gott, dem Herrscher, mehr gehorchen als den Menschen.“ Der verärgerte Kommandant, ein kubanischer Ausbilder, riss ihm die Bibel aus der Hand und sagte drohend: „Wir werden heute Abend mal ein Wörtchen miteinander reden.“ Gemeint war eine Art psychologische Folter, um Guillermos Willen zu brechen.

Glücklicherweise blieb es bei der Drohung des Kommandanten. Drei Tage später verlegte man Guillermo in ein Gefängnis, wo er die folgenden neun Monate unter primitiven Bedingungen festgehalten wurde. Trotzdem setzte er seinen Pionierdienst fort und leitete sogar im Gefängnis Bibelstudien und Zusammenkünfte. Später — es herrschten immer noch schwierige Zeiten — leistete Guillermo wertvolle Arbeit für das Landeskomitee.

Statt eingesperrt zu werden, wurden einige der jungen Brüder nun gezwungen, sich in den Bergen den Militäreinheiten anzuschließen, die man irreguläre Kampftruppen nannte. Jedes Bataillon bestand aus fünf oder sechs Kompanien von 80 bis 90 Mann, ausgebildet für den Kampf in der unwegsamen Bergregion, wo die schwersten Kämpfe gegen die Contras (Guerillas, die gegen die Sandinisten kämpften) tobten. Obwohl sich die Brüder weigerten, Militäruniformen anzuziehen und Waffen zu tragen, mussten sie dennoch in die Kampfzonen, wo sie Bestrafungen und Beschimpfungen ausgesetzt waren.

Auch der 18-jährige Giovanni Gaitán musste eine derartige Behandlung ertragen. Kurz vor dem Bezirkskongress im Dezember 1984, auf dem sich Giovanni taufen lassen wollte, hatte man versucht, ihn zum Militärdienst zu zwingen. Man schickte ihn für 45 Tage in ein militärisches Trainingslager, wo er lernen sollte, wie man mit einem Gewehr umgeht und wie im Dschungel gekämpft wird. Doch sein biblisch geschultes Gewissen erlaubte ihm nicht, den ‘Krieg zu lernen’ (Jes. 2:4). Er zog keine Militäruniform an und nahm auch keine Waffe in die Hand. Trotzdem wurde er gezwungen, in den nachfolgenden 27 Monaten mit den Soldaten zu marschieren.

Giovanni berichtet: „Ich konnte stark bleiben, weil ich unablässig gebetet habe. Außerdem habe ich über das in der Vergangenheit Gelernte nachgedacht und jedem Soldaten, der Interesse zeigte, Zeugnis gegeben. Immer wieder kamen mir die Worte des Psalmisten in den Sinn: Ich werde meine Augen zu den Bergen erheben. Woher wird meine Hilfe kommen? Meine Hilfe kommt von Jehova, der Himmel und Erde gemacht hat. Er kann unmöglich zulassen, dass dein Fuß wankt. Der dich behütet, kann unmöglich schläfrig sein‘ “ (Ps. 121:1-3; 1. Thes. 5:17).

Obwohl Giovanni etwa 40-mal gezwungen wurde, sich mitten in die Kampfzone zu begeben, überlebte er unversehrt. Nach seiner Freilassung ließ er sich am 27. März 1987 taufen und nahm bald darauf den Pionierdienst auf. Viele andere treue junge Brüder erlebten Ähnliches. (Siehe Kasten „Zwangsweise in Kampfzonen geschickt“, Seite 105, 106.)

An ihrer Neutralität festgehalten

Die staatlich kontrollierte Presse wie auch die CDS beschuldigten Jehovas Zeugen fälschlicherweise, ihren Haus-zu-Haus-Dienst dafür zu nutzen, dem patriotischen Militärdienst entgegenzuarbeiten. Es wurde behauptet, Jehovas Zeugen würden die nationale Sicherheit untergraben, indem sie die Jugend Nicaraguas vom Militärdienst abhielten. Obwohl unbegründet, wurden diese Anklagen oft genug wiederholt, sodass bei Staatsanwälten und Richtern Voreingenommenheit geschürt wurde. Was die Sache noch verschlimmerte, war der Umstand, dass prominente Geistliche evangelikaler Gruppen, die sich zur Revolution bekannten, sogar diejenigen anklagten, die aus Glaubensgründen neutral blieben, und diese als „Feinde des Volkes“ bezeichneten.

Ein Zeuge Jehovas, ein Anwalt, übernahm die Fälle von 25 Brüdern und legte Berufung ein. Die jungen Brüder waren wegen Verweigerung des Militärdienstes zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Weil Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen rechtlich nicht anerkannt war, bestand das Ziel darin, für den einzelnen Angeklagten Strafmilderung zu bewirken, indem man auf seine gute Führung hinwies und darauf, dass er sich der Haft nicht widersetzt hatte. Das Ergebnis war, dass einige Haftstrafen, aber nicht alle, um 6 bis 18 Monate verkürzt wurden.

„Es ist schon bemerkenswert“, sagt Julio Bendaña, ein Bruder, der bei den Verhandlungen zugegen war, „dass außer Jehovas Zeugen kein einziger Jugendlicher aus religiösen Gründen den Militärdienst ablehnte. Ich war stolz auf unsere 17-Jährigen, die mit fester Überzeugung ihre Neutralität vor dem Richter und einem Militärstaatsanwalt verteidigten, umgeben von gegnerischen Zuhörern“ (2. Kor. 10:4).

Literatur im Untergrund hergestellt

Während dieser Zeit gab die leitende Körperschaft den Brüdern in Nicaragua weiterhin Beistand und Anleitung durch das Zweigbüro in Costa Rica und durch das nicaraguanische Landeskomitee. Doch Literatur durfte nicht importiert werden. Wie sollte nun die „Speise zur rechten Zeit“ ausgeteilt werden? (Mat. 24:45). Wieder schuf Jehova einen Ausweg.

Im Jahr 1985 wurden die Brüder mithilfe einer kommerziellen Druckerei mit Wachtturm-Studienartikeln und anderer biblischer Literatur versorgt. Das war natürlich mit einem Risiko verbunden, denn dadurch konnte dem Werk durch Gegner Schaden zugefügt werden. Daher entschied man sich dafür, die Offsetpresse zu benutzen, mit der zuvor, das heißt bis zur Schließung des Zweigbüros, Kongressprogramme und Einladungen für das Gedächtnismahl gedruckt worden waren. Die Presse wurde im Haus einer Schwester in Betrieb genommen, die außerhalb von Managua wohnte.

Leider fiel die Presse im November desselben Jahres dem Staat in die Hände. Obwohl dies ein Rückschlag war, ließen sich die Brüder nicht entmutigen, sondern bauten schnell einen alten Vervielfältigungsapparat um, dem sie den Spitznamen „Der Hahn“ gaben. Früher waren mit dem Apparat Handzettel, Briefe und Programme gedruckt worden. Als es schwierig wurde, dafür Ersatzteile zu bekommen, gelang es den Brüdern am Ort einen anderen gebrauchten Vervielfältigungsapparat zu erwerben, den sie „Das Hähnchen“ nannten. Als das Zweigbüro in El Salvador später ein weiteres Gerät zur Verfügung stellte, blieb man bei dem Vokabular und nannte es „Die Henne“.

Eine technisch nicht so ausgereifte, aber keineswegs weniger erfolgreiche Methode war die Verwendung von Vervielfältigungstafeln, die von den Brüdern las tablitas oder „Täfelchen“ genannt wurden. Pedro Rodríguez, ein Möbeltischler, der sich 1954 hatte taufen lassen, stellte sie her. Die Vorrichtung bestand aus zwei rechtwinkligen Rahmen, verbunden mit zwei Scharnieren. Am oberen Rahmen war ein Stück feinmaschiger Stoff befestigt und im unteren Rahmen lag eine Glas- oder Holzplatte. Die Konstruktion war so simpel wie der Druckvorgang an sich. Eine beschriebene Papiermatrize wurde vor den Stoff im oberen Rahmen gelegt und ein Papierbogen auf den unteren Rahmen. Mit einer Walze wurde Druckfarbe auf den Stoff aufgebracht und nach jedem Druckvorgang legte man einen neuen Bogen ein.

Wenngleich etwas umständlich, wurde mit dieser Methode doch einiges an Literatur produziert, einschließlich des Liederbuches Singt Jehova Loblieder, und zwar alle 225 Lieder. „Als die Brüder so richtig mit den Täfelchen umgehen konnten“, berichtet Edmundo Sánchez, der mit der Vervielfältigung zu tun hatte, „schafften sie 20 Bogen in der Minute. Insgesamt stellten wir 5 000 Liederbücher her.“

Edmundos Frau Elda war eine der ersten Schwestern, die mithalfen, Matrizen für die Vervielfältigungsapparate anzufertigen. Elda, die auch Mutterpflichten zu erfüllen hatte, schrieb auf ihrer Schreibmaschine manchmal von frühmorgens bis spät in die Nacht hinein Wachtturm-Studienartikel auf Matrizen, die dann vervielfältigt wurden. Sie erinnert sich: „Edmundo gab mir immer ein Exemplar der Zeitschrift, die er aus Costa Rica bekommen hatte. Ich wusste nie, wie viele Gruppen sich mit dem Vervielfältigen beschäftigten oder wo sie tätig waren. Ich kannte nur meine Aufgabe. Außerdem war mir bewusst, dass, wenn wir entdeckt würden, unser Haus und unser ganzer Besitz beschlagnahmt werden würden. Und wir selbst würden verhaftet und möglicherweise sogar zu den ‚Verschwundenen‘ gerechnet werden. Doch unsere Liebe zu Jehova und unsere Gottesfurcht vertrieben jede Menschenfurcht.“

Die Vervielfältigungsstätten

Guillermo Ponce kann sich noch gut entsinnen, wie es in den Vervielfältigungsstätten zuging. Er war Korrektor und zugleich Verbindungsmann zwischen den Brüdern, die die Matrizen anfertigten, und denen, die mit der Vervielfältigung und der Verbreitung zu tun hatten. Bruder Ponce erklärt: „In Wohnungen von Glaubensbrüdern richtete man kleine Werkstätten ein, indem man von einem Raum einen kleinen Raum abteilte. Um den Lärm des Vervielfältigungsapparats zu übertönen, stellten wir direkt vor dem Raum ein Tonbandgerät oder ein Radio auf und drehten es auf volle Lautstärke.“

Schweißgebadet verbrachten die Brüder in den winzigen Räumen täglich 9 bis 10 Stunden, um den Wachtturm oder andere Publikationen zu vervielfältigen. Immer wenn die Nachbarn Verdacht schöpften oder wenn jemand die Behörden informiert hatte, musste die gesamte Ausrüstung in Windeseile in eine andere Wohnung gebracht werden.

Die Tätigkeit wurde als Betheldienst angesehen, und die Mitarbeiter waren junge ledige Brüder. Felipe Toruño war 19 Jahre alt und hatte sich gerade erst taufen lassen, als er eingeladen wurde, mitzuhelfen. „Das Erste, was mir beim Betreten des winzigen, fast luftleeren Raums auffiel, war der durchdringende Geruch der Korrekturflüssigkeit“, berichtet Felipe. „Die Hitze schien unerträglich und für Licht sorgte eine kleine Leuchtstoffröhre.“

Es gab aber noch andere Schwierigkeiten. Wenn beispielsweise ein Apparat reparaturbedürftig war — und das kam häufig vor —, konnte man ihn nicht einfach in eine Reparaturwerkstatt bringen. Die Leute hätten gefragt, wem der Apparat gehört oder was damit hergestellt wird und ob die Tätigkeit von der Zentralregierung genehmigt ist. Daher mussten die Brüder nicht nur die Reparaturen selbst vornehmen, sondern auch selbst Ersatzteile zusammenbasteln. Ein anderes Problem war die häufige Stromsperre. „Da die Teams mit ihrer Produktion nicht in Rückstand kommen wollten, sah ich die Brüder manchmal im Schein einer Kerosinlampe arbeiten, ihre Nase von Ruß geschwärzt“, erzählt Bruder Ponce. „Die Wertschätzung, die gute Einstellung und die Opferbereitschaft dieser vorbildlichen jungen Männer motivierten mich, weiterzumachen.“

Kostbare Erinnerungen

Felipe Toruño erinnert sich gern an die vier Jahre, die er im Untergrund Literatur vervielfältigte. „Ich dachte immer daran, dass die Brüder schon gespannt auf diese wichtige geistige Speise warteten“, sagt Felipe. „Trotz all der Einschränkungen, die man uns auferlegte, waren wir voller Freude bei der Arbeit.“ Omar Widdy, der von Juni 1988 bis zum Schluss (Mai 1990) mitarbeitete, berichtet: „Am schönsten war die herzliche Atmosphäre unter den Brüdern. Neue waren eifrig und lernbereit; geduldig erklärte man ihnen die verschiedenen Arbeitsgänge. Die Bedingungen waren nicht ideal, doch die Freiwilligen — obwohl jung — waren Geistesmenschen. Ihnen war voll bewusst, dass diese Art Dienst ihnen Opfer abverlangen würde.“

Giovanni Gaitán war ebenfalls mit den Vervielfältigungsarbeiten beschäftigt. Er berichtet: „Was uns half, standzuhalten, war Dankbarkeit gegenüber Jehova und seiner Organisation. Keiner von uns erhielt damals eine finanzielle Zuwendung, aber das kümmerte uns wenig. Wir hatten alles, was wir benötigten. Ich befand mich bereits häufig in einer Situation, in der ich mich voll und ganz auf Jehova verlassen musste. Deshalb machte ich mir um meine finanzielle Lage keine großen Sorgen. Brüder wie Guillermo Ponce, Nelson Alvarado und Felipe Toruño waren zwar jung, aber dennoch ausgezeichnete Vorbilder für mich. Auch die älteren Brüder, die führend vorangingen, stärkten mich. Ja, rückblickend muss ich sagen, dass all diese Erlebnisse für mich wirklich eine bereichernde Erfahrung waren.“

Alle, die im Untergrund tätig waren, haben auf vielerlei Weise Jehovas Unterstützung erfahren, auch beim Vervielfältigen der Literatur. Bruder Gaitán erzählt: „Normalerweise reichte eine Matrize für 300 bis 500 Abzüge. Uns gelang es jedoch, mit ein und derselben Matrize 6 000 herzustellen!“ Warum war es nötig, mit derselben Menge an Material die Produktion zu steigern? Zum einen deshalb, weil die Materialien im Land nur in begrenzten Mengen und in staatseigenen Läden erhältlich waren, und zum anderen wäre der Kauf größerer Mengen aufgefallen, und der Käufer hätte sich der Gefahr ausgesetzt, im Gefängnis zu landen. Ja, Jehova segnete die Anstrengungen der Brüder. Abgesehen von der ersten Offsetpresse, die entdeckt wurde, fanden die Behörden keine weiteren Vervielfältigungsstätten und konnten sie somit auch nicht schließen.

Brüder, die aus familiären Gründen einer beruflichen Tätigkeit nachgingen, unterstützten ebenfalls das Werk, was nicht ungefährlich war. Viele verteilten beispielsweise das vervielfältigte Schriftgut mit ihrem eigenen Fahrzeug überall im Land. Manchmal waren sie den ganzen Tag unterwegs und passierten viele Militärkontrollpunkte. Falls sie dabei entdeckt worden wären, hätte man ihnen wahrscheinlich das Fahrzeug weggenommen und sie verhaftet und eingesperrt. Obwohl sie das wussten, machten sie unerschrocken weiter. Selbstverständlich benötigten diese Brüder die volle Unterstützung ihrer Frauen, von denen einige in dieser schwierigen Zeit eine wichtige Rolle spielten. Näheres werden wir nun gleich erfahren.

Mutige, geistig gesinnte Frauen

Viele christliche Frauen bewiesen in den Jahren der Einschränkung außergewöhnlichen Mut und Loyalität. In Zusammenarbeit mit ihren Männern stellten sie ihre Wohnungen für das Vervielfältigen von Literatur im Untergrund zur Verfügung, häufig monatelang. Sie bereiteten auch auf eigene Kosten Mahlzeiten für die Mitarbeiter zu. „Zwischen uns jungen Brüdern und diesen Schwestern entstand ein festes Band christlicher Liebe“, erinnert sich Nelson Alvarado, der mithalf die Arbeiten zu koordinieren. „Sie waren für uns wie Mütter, und wir — wie Söhne so sind — machten ihnen viel Arbeit. Manchmal arbeiteten wir bis 4 Uhr morgens, um unser Pensum zu schaffen und die Termine einzuhalten, besonders dann, wenn zusätzliche Aufträge vorgesehen waren wie die Broschüre Täglich in den Schriften forschen. Zuweilen arbeiteten zwei von uns in Schichten von fast 24 Stunden. Doch wie gewohnt, hatten die Schwestern immer ein Essen für uns bereit, selbst in den frühen Morgenstunden.“

Familien, die in ihrer Wohnung Schriften vervielfältigten, waren auch auf Sicherheit bedacht. Normalerweise nahmen Hausfrauen diese Aufgabe wahr, denn die meisten Männer waren tagsüber berufstätig. Eine Schwester berichtet: „Um den Lärm der Apparate zu übertönen, drehten wir das Radio auf volle Lautstärke. Kam jemand an die Pforte, alarmierten wir die Brüder drinnen, indem wir einen Schalter betätigten, der eine spezielle Glühbirne aufleuchten ließ.“

Häufig waren es Glaubensbrüder oder Verwandte, die zu Besuch kamen. Dennoch waren die Schwestern bemüht, sie so schnell und so taktvoll wie möglich wieder zu verabschieden. Wie man sich denken kann, war das nicht leicht, denn die Schwestern waren sonst immer sehr gastfreundlich. Nehmen wir als Beispiel Juana Montiel, die einen Cashewbaum in ihrem Garten hatte. Da häufig Glaubensbrüder kamen, um die Früchte zu ernten, wurde Juanas Garten zu einem Ort, wo man ganz ungezwungen zusammenkam. „Als wir dann die Schriften bei uns herstellen durften“, berichtet Juana, „mussten mein Mann und ich den Baum fällen. Da wir den Brüdern den Grund dafür nicht erklären konnten, hatte es plötzlich den Anschein, als wollten wir mit ihnen nicht mehr gern gesellig beisammen sein. Aber wir mussten die Herstellung der Schriften schützen.“

Consuelo Beteta, die inzwischen verstorben ist, ließ sich 1956 taufen. In ihrer Wohnung wurden ebenfalls Schriften vervielfältigt. Die Brüder konnten allerdings die Literatur nicht vor ihrem Haus verladen, ohne Verdacht zu erregen. Daher parkten sie an einer Stelle, die sicherer war, nämlich vor dem Haus eines Bruders, der einen Häuserblock weiter wohnte. In einem Gespräch kurz vor ihrem Tod berichtete Schwester Beteta von damals. Verschmitzt erzählte sie: „Die Zeitschriften wurden zusammengerollt und in den für die jeweilige Versammlung bestimmten Sack gesteckt. Jeder Sack wog etwa 15 Kilogramm. Um zum Haus des Bruders zu gelangen, trugen meine Schwiegertochter und ich die Säcke auf dem Kopf und überquerten einen Graben hinter meinem Haus. Die Nachbarn schöpften niemals Verdacht, denn die Säcke unterschieden sich nicht von denen, die von den meisten Frauen auf dem Kopf getragen wurden.“

Wie sehr schätzten die Brüder doch diese loyalen, mutigen Schwestern! „Es war wirklich ein großes Vorrecht, mit ihnen zusammenzuarbeiten“, sagt Guillermo Ponce und spricht damit vielen Brüdern aus dem Herzen, die damals gemeinsam mit ihm tätig waren. Verständlicherweise gaben solche guten christlichen Mütter und Väter ihren Kindern ein ausgezeichnetes Beispiel. Lasst uns nun einige Schwierigkeiten beleuchten, mit denen die Kinder in der damaligen ereignisreichen Zeit zurechtkommen mussten.

Loyale, vertrauenswürdige Kinder

Auch die Kinder derjenigen, die im Geheimen Literatur herstellten und verbreiteten, zeichneten sich durch außergewöhnliche Loyalität aus. Claudia Bendaña, deren beide Kinder damals noch zu Hause waren, erinnert sich: „In einem Hinterzimmer unseres Hauses wurde fünf Monate lang Literatur vervielfältigt. Sobald die Kinder aus der Schule kamen, wollten sie den Brüdern helfen. Aber was konnten sie tun? Anstatt sie wegzuschicken, erlaubten die Brüder ihnen, die vervielfältigten Wachtturm-Seiten zusammenzuheften. Wie gern waren die Kinder doch mit den jungen Brüdern zusammen! Sie ermunterten die Kinder, Bibeltexte und Königreichslieder auswendig zu lernen.

Um die Vertraulichkeit zu wahren, erklärten mein Mann und ich den Kindern, dass wir in schwierigen Zeiten lebten und diese Tätigkeit für Jehova verrichtet würde. Daher sei es überaus wichtig, sich loyal zu verhalten. Sie durften mit niemandem darüber reden — mit keinem Verwandten und noch nicht einmal mit Glaubensbrüdern oder -schwestern. Wie dankbar waren wir, dass die Kinder gewissenhaft und gehorsam waren.“

Eine der ersten Wohnungen, wo Literatur vervielfältigt wurde, war die von Aura Lila Martínez. Ihre Enkelkinder halfen beim Zusammentragen der Seiten mit sowie beim Heften und Verpacken. Auch sie gewannen die in ihrer Wohnung tätigen Brüder sehr lieb. Niemals sprachen sie mit anderen über die Arbeit. Eunice erinnert sich: „Wir gingen mit den Kindern der Familien Bendaña und Eugarrios zur Schule und spielten fast täglich mit ihnen, doch wir hatten keine Ahnung, dass in den Wohnungen der anderen Familien ebenfalls vervielfältigt wurde. Erst Jahre später erfuhren wir davon. ‚Was, bei euch auch?‘, fragten wir einander verblüfft. Da wuchsen wir nun als gute Freunde zusammen auf und keiner von uns hatte dem anderen gegenüber auch nur eine Silbe erwähnt. Offenbar war das Jehovas Weg, sein Werk zu schützen.“

Die Erfahrungen aus jenen Tagen wirkten sich positiv auf diese Kinder aus. Emerson Martínez, heute ein Dienstamtgehilfe und Sondervollzeitdiener, sagt: „Die Brüder, die mit dem Vervielfältigen betraut waren, dienten mir als Leitbild. Obwohl sie erst 18 oder 19 Jahre alt waren, lehrten sie mich christliche Verantwortlichkeiten richtig einzuschätzen, ungeachtet wie gering sie auch sein mochten. Außerdem lernte ich, von welchem Wert es ist, bei der Arbeit gründlich zu sein. Hätte ich beim Zusammenstellen der Seiten nur eine einzige vergessen, wäre jemandem Information verloren gegangen. Das machte mir bewusst, wie wichtig es ist, für Jehova und für meine Brüder mein Bestes zu geben.“

Elda María, die Tochter von Edmundo und Elda Sánchez, half mit, die von ihrer Mutter beschriebenen Matrizen für den Wachtturm und für andere Publikationen weiterzuleiten. Sie brachte sie mit dem Fahrrad zu Bruder Ponce, der fünf Häuserblocks entfernt wohnte. Zuvor wickelte Schwester Sánchez die Matrizen vorsichtig ein und legte sie in einen kleinen Korb. „Schon von klein auf“, so sagt Elda María, „haben meine Eltern mir beigebracht, gehorsam zu sein. Als dann das Werk eingeschränkt wurde, war ich daran gewöhnt, Anweisungen genau zu befolgen.“

War sich Elda bewusst, welchen Gefahren ihr Vater und die anderen Brüder, die die Herstellung der Literatur beaufsichtigten, ausgesetzt waren? Elda berichtet: „Bevor mein Vater aus dem Haus ging, sagte er immer, ich dürfe keine Angst haben und nicht traurig sein, falls er verhaftet würde. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass Mutter und ich oft für ihn gebetet haben, wenn er spät nach Hause kam. Vor unserem Haus parkten häufig Leute von der Staatssicherheit, die uns beobachteten. Wenn Mutter zur Tür gehen musste, sammelte ich schnell all ihr Arbeitsmaterial ein und versteckte es. Ich bin meinen Eltern für ihr Beispiel und die Schulung sehr dankbar, denn das hilft mir, gegenüber Jehova und den Brüdern loyal zu sein.“

Weil in der Jugend eine solide Grundlage gelegt wurde, sind viele der jungen Leute von damals heute im Vollzeitdienst und nicht wenige dienen in den Versammlungen in verantwortlichen Stellungen. Ihr Fortschritt ist ein Beweis für den reichen Segen Jehovas, der auf seinem Volk ruht, denn kein Einziger musste in der schwierigen Zeit jemals auf die geistige Speise verzichten. Tatsächlich ging es mit der Verkündigung der guten Botschaft vom Königreich ständig voran. Sogar unter den Tausenden, die zur Zeit der sandinistischen Bewegung eingesperrt waren, wurde „vortrefflicher Boden“ gefunden (Mar. 4:8, 20). Wie kam es dazu?

Im Gefängnis den Samen vom Königreich gesät

Nach der sandinistischen Revolution befanden sich Tausende von Angehörigen der besiegten Nationalgarde sowie politische Dissidenten in Gewahrsam, bevor sie in der Zeit von Ende 1979 bis 1981 vor Sondergerichte gestellt wurden. Die meisten ehemaligen Nationalgardisten erhielten Strafen von bis zu 30 Jahren im Cárcel Modelo, einer großen Strafanstalt in Tipitapa, ungefähr 11 Kilometer nordöstlich von Managua. Wie wir noch sehen werden, wurden viele aufrichtige Menschen, die unter harten Bedingungen in solchen überfüllten Gefängnissen ausharren mussten, in geistiger Hinsicht frei.

Gegen Ende 1979 erhielt ein Ältester in Managua einen Brief von einem Mitchristen, der inhaftiert war — jedoch nicht im Cárcel Modelo. Bevor er die Wahrheit kennen lernte, hatte er unter dem Somoza-Regime beim Militär gedient. In seinem Brief bat der Bruder um Literatur, die er Mitgefangenen geben wollte. Den beiden Ältesten, die dem Bruder die Literatur brachten, wurde nicht gestattet, ihn zu sehen. Doch das entmutigte ihn nicht — er gab seinen Mitgefangenen weiter Zeugnis und studierte sogar mit einigen die Bibel.

Einer dieser Interessierten, Anastasio Ramón Mendoza, machte rasch Fortschritte im Glauben. „Was ich lernte, gefiel mir so sehr“, berichtet er, „dass ich den Bruder begleitete, wenn er anderen Häftlingen predigte. Einige waren ablehnend; andere hörten zu. Schon bald kamen 12 von uns während der Pause im Gefängnishof zum Bibelstudium zusammen.“ Nach einem Jahr ließ sich einer aus dieser Gruppe taufen.

Anfang 1981 wurde die kleine Gruppe Neuinteressierter mit anderen Insassen ins Cárcel Modelo verlegt, wo sie weiterhin mit anderen über die gute Botschaft sprachen. Gleichzeitig wurde unter den Gefangenen heimlich biblische Literatur ausgetauscht, die bei einigen ebenfalls auf „vortrefflichen Boden“ fiel.

Nehmen wir José de la Cruz López mit seiner Familie, die alle keine Zeugen Jehovas waren. Sechs Monate nachdem José ins Gefängnis gekommen war, erhielt seine Frau von Zeugen Jehovas auf der Straße das Buch Mein Buch mit biblischen Geschichten. Sie hatte nur einen Wunsch: Dieses Buch musste ihr Mann unbedingt erhalten. „Als ich in dem Geschichten-Buch zu lesen begann“, erzählt José, „dachte ich, es sei eine Publikation einer evangelikalen Gruppe. Über Jehovas Zeugen wusste ich absolut nichts. Das Buch beeindruckte mich derart, dass ich es mehrmals las und dann anfing, mit meinen 16 Zellengenossen darüber zu sprechen. Allen gefiel es. Es war wie ein Schluck erfrischendes Wasser. Mitgefangene in anderen Zellen wollten das Buch ebenfalls ausleihen, und so machte es die Runde durch den gesamten Trakt. Schließlich hatte es lauter Eselsohren und war so abgegriffen wie ein Packen alte Spielkarten.“

Etliche von Josés Mithäftlingen waren Mitglieder evangelikaler Gruppen; es waren sogar Pastoren darunter. José fing an, mit ihnen in der Bibel zu lesen. Als er sie nach der Bedeutung von 1. Mose 3:15 fragte und zur Antwort bekam, dass es sich dabei um ein Geheimnis handle, war er sehr enttäuscht. Eines Tages sprach ihn ein anderer Gefangener an, der selbst die Bibel studierte, und sagte: „Die Antwort steht in dem Buch von Jehovas Zeugen. Wenn du möchtest, können wir es zusammen studieren.“ José nahm das Angebot an, und mithilfe des Geschichten-Buches lernte er die Bedeutung von 1. Mose 3:15 kennen. Danach pflegte er Gemeinschaft mit Insassen, die mit Jehovas Zeugen verbunden waren.

Was José unter anderem zu dieser besonderen Gruppe im Cárcel Modelo hinzog, war ihr einwandfreies Verhalten. „Ich sah Leute, von denen ich wusste, dass sie einen sehr schlechten Lebenswandel geführt hatten. Aber aufgrund des Bibelstudiums mit Jehovas Zeugen war ein erfreulicher Wandel vor sich gegangen“, erzählt José. Unterdessen erhielt seine Frau weitere Literatur von Jehovas Zeugen, die sie ihrem Mann gab, sodass er gute Fortschritte machte. Seine Studiengruppe wies ihm sogar einen Teil im Gefängnistrakt zu, in dem er von Zelle zu Zelle predigen durfte. So war es ihm möglich, das wenige an Schriften Interessierten zu leihen und sie zu den Zusammenkünften einzuladen, die während der Pausen im Gefängnistrakt stattfanden.

Geistiger Beistand für die Häftlinge

Die Versammlung Managua-Ost kümmerte sich um die geistigen Bedürfnisse der wachsenden Zahl der Häftlinge im Cárcel Modelo, die die Literatur lasen und auf Fortschritt bedacht waren. Aus diesem Grund stellte die Versammlung ein Programm auf, das festlegte, welche Brüder und welche Schwestern heimlich Literatur zu den Häftlingen bringen sollten. Alle 30 bis 60 Tage waren Besuche gestattet, doch ein Gefangener durfte nur den Besuch empfangen, um den er zuvor gebeten hatte. Nicht jeder Interessierte konnte also einen persönlichen Besuch von einem einheimischen Zeugen erhalten. Das war jedoch kein großes Problem, denn die Häftlinge trafen sich hinterher sofort und tauschten die Schriften untereinander aus.

Die Ältesten der Versammlung Managua-Ost organisierten und leiteten die Aktivitäten der anwachsenden Gruppe im Cárcel Modelo. Sie hielten die Verbindung ständig aufrecht, besonders zu den Insassen, die in theokratischer Hinsicht führend vorangingen. Die Ältesten erklärten ihnen, wie wöchentliche Zusammenkünfte abgehalten werden, wie die Predigttätigkeit ordnungsgemäß durchgeführt wird und wie über alles berichtet wird. Diese Häftlinge gaben die Informationen dann an alle anderen weiter. Eine gute theokratische Ordnung wurde nötig, denn zu diesem Zeitpunkt waren die Neuinteressierten eine große Gruppe geworden.

Das Cárcel Modelo bestand ursprünglich aus vier Trakten, die jeweils 2 000 Häftlinge aufnehmen konnten. Julio Núñez, einer der Ältesten, die mit den Besuchen betraut worden waren, erklärt: „Weil die Trakte voneinander unabhängig waren, wurden die wöchentlichen Zusammenkünfte in den jeweiligen Aufenthaltsräumen abgehalten. Insgesamt waren 80 Personen anwesend.“

Taufe in einer Tonne

Die Neuen machten Fortschritte und einige äußerten den Wunsch, sich taufen zu lassen. Älteste stellten bei ihren Besuchen im Gefängnis fest, wer zur Taufe zugelassen werden konnte. Sie halfen den Häftlingen, die in geistiger Hinsicht die Führung innehatten, die Taufe für einen Tag zu planen, der mit einem Kongressdatum zusammenfiel. Gewöhnlich wurde die Taufansprache am Abend zuvor in einer Zelle gehalten, und am nächsten Morgen, wenn die Häftlinge zum Waschen gingen, wurden die Taufanwärter untergetaucht.

José de la Cruz López ließ sich im November 1982 im Gefängnis taufen. Er erzählt: „Ich wurde in einer Mülltonne getauft. Zuerst wurde die Tonne gründlich mit einem Reinigungsmittel geschrubbt, dann legten wir sie mit einem Leintuch aus und füllten Wasser ein. Gerade als wir uns zur Taufe eingefunden hatten, erschienen bewaffnete Gefängniswärter. ‚Wer hat diese Taufe genehmigt?‘, fragten sie. Der verantwortliche Bruder erklärte, man benötige keine Genehmigung für etwas, was Gott gebietet. Die Wärter fügten sich, wollten aber die Taufe beobachten. Während sie zuschauten, wurden mir die beiden Fragen für Taufanwärter gestellt, und dann wurde ich in der Tonne untergetaucht.“ Mindestens 34 Häftlinge wurden auf diese Weise getauft.

Manche Insassen machten schnell Fortschritte. Einer von ihnen war Omar Antonio Espinoza, der zu 30 Jahren Haft verurteilt worden war, aber nur 10 Jahre im Cárcel Modelo verbüßen musste. Die Häftlinge wurden regelmäßig verlegt. In seinem zweiten Jahr hatte Omar einen Zeugen Jehovas als Zellengefährten. Omar bemerkte, dass dieser regelmäßig von anderen Häftlingen besucht wurde und dass er mit ihnen über die Bibel sprach. Beeindruckt von dem, was er sah und hörte, bat Omar ebenfalls um ein Bibelstudium.

Omar betrachtete die Bibel anhand des Buches Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt, und zwar jeden Tag ein Kapitel. Nach elf Tagen wollte er ein Verkündiger werden. Als er mit den 22 Kapiteln fertig war, bat er darum, getauft zu werden. Doch die Brüder rieten ihm, sich die Sache noch etwas durch den Kopf gehen zu lassen. Sie empfahlen ihm auch, eine zweite Veröffentlichung zu studieren, nämlich das Buch Du kannst für immer im Paradies auf Erden leben. Diese Publikation hatte man kurz zuvor im Gefängnis erhalten. In etwas mehr als einem Monat war er auch damit fertig. Er hatte sich sogar das Rauchen abgewöhnt und andere Änderungen vorgenommen. Keine Frage, die biblische Wahrheit veränderte sein Leben. Diese Veränderungen überzeugten die Brüder davon, dass sein Wunsch von Herzen kam, und so wurde Omar am 2. Januar 1983 in einer Tonne getauft.

Zeichensprache im Gefängnis

Damit die Informationen der Ältesten, die die Gefängnisse besuchten, weitergeleitet oder Daten wie Predigtdienstberichte gesammelt werden konnten, mussten sich die inhaftierten Verkündiger zwischen den einzelnen Gefängnistrakten irgendwie verständigen. Bruder Mendoza, der sich 1982 im Gefängnis taufen ließ, berichtet, wie sie dabei vorgingen.

„Einige von uns lernten eine Art Zeichensprache, die unter den Häftlingen entstanden war. Wenn es Zeit für das Gedächtnismahl war, schätzten wir ab, wann Sonnenuntergang war, und gaben uns Zeichen, damit alle zur gleichen Zeit im Gebet vereint waren. So machten wir es jedes Jahr. Die Zeichensprache half uns auch bei unserem Wachtturm-Studium. Falls in einem Trakt den Brüdern der Artikel für die betreffende Woche fehlte, übermittelten wir den Text per Zeichensprache. Am anderen Ende ‚las‘ der Empfänger die Zeichen einem Freund laut vor und dieser schrieb dann den Text auf.“ Aber wie kam die geistige Speise überhaupt ins Gefängnis?

Geistige Speise für die Häftlinge

Älteste, ihre Familienangehörigen sowie andere Verkündiger der Versammlung Managua-Ost besuchten die Häftlinge im Cárcel Modelo regelmäßig. Fast zehn Jahre lang wurden diese sowohl mit buchstäblicher als auch mit geistiger Speise versorgt, was den Wachtturm und Unseren Königreichsdienst einschloss. Die geistige Speise musste natürlich versteckt werden.

Ein Ältester steckte Zeitschriften in den Hohlraum seiner großen Holzkrücken. „Auch Kinder leisteten gute Dienste, denn sie wurden nur selten durchsucht“, berichtet Julio Núñez. Es gelang den Besuchern sogar, die Symbole für das Gedächtnismahl ins Gefängnis zu schmuggeln.

Jeder Gefängnistrakt hatte seine speziellen Besuchstage. Befugte Besucher durften dann gewöhnlich den ganzen Tag mit dem Häftling in einem großen Hof verbringen. Auf diese Weise konnte die kleine Gruppe von Häftlingen, die Zeugen waren, mit ihren Glaubensbrüdern und -schwestern aus Managua Gemeinschaft pflegen und geistige Speise entgegennehmen. Wenn die Häftlinge dann später zu ihrem Trakt zurückkehrten, ließen sie andere an dem teilhaben, was sie erhalten hatten.

Selbst Königreichslieder wurden nicht vergessen. „In unserem Trakt“, so erzählt Bruder López, „hatte nur einer Kontakt zu den Brüdern, die die Besuche machten. Somit fiel es ihm zu, jedes Mal die Melodie eines neuen Liedes zu lernen und uns sie dann beizubringen. Da wir nur ein Liederbuch hatten, übten wir alle vor der Zusammenkunft.“ Bruder Mendoza war einer der wenigen Häftlinge, die von Zeugen besucht werden durften. „Carlos Ayala besuchte mich mit seiner Familie“, erzählt Bruder Mendoza. „Die beiden Töchter von Bruder Ayala brachten mir mindestens neun Königreichslieder bei, die ich dann meinen Gefährten vorsang.“ Zu denen, die die Lieder aus zweiter Hand gelernt hatten, gehört Bruder López. Er erinnert sich noch: „Als ich später die Zusammenkünfte draußen besuchte, war ich begeistert und zugegebenermaßen auch etwas überrascht, als ich feststellte, dass wir tatsächlich dieselben Melodien gelernt hatten.“

Im Gefängnis glaubensstark bleiben

Unter welchen Bedingungen mussten die Brüder und Interessierten im Gefängnis ausharren? Wie haben sie ihren Glauben stark erhalten? Bruder Mendoza berichtet: „Die Verpflegung war rationiert. Alle Insassen wurden gelegentlich geschlagen. Manchmal feuerten Wärter Schüsse ab, während wir mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lagen. Das taten sie, um uns psychisch fertig zu machen. Wenn es zwischen einigen Häftlingen und Gefängniswärtern zu Konflikten kam, wurden wir alle bestraft, indem wir unbekleidet in den Hof geschickt wurden, wo die Sonne auf uns niederbrannte. Wir Zeugen nutzten diese Gelegenheiten, um uns gegenseitig zu erbauen und zu trösten. Wir riefen uns Bibeltexte in den Sinn und besprachen Gedanken, die wir durch unser Bibelstudium kennen gelernt hatten. Dadurch blieben wir vereint und geistig stark.“

Viele Zeugen und Interessierte nutzten die viele freie Zeit und lasen die Bibel vier- oder fünfmal durch. Es war durchaus nichts Ungewöhnliches für sie, all die biblischen Veröffentlichungen, die zur Verfügung standen, mehrmals gründlich zu studieren. Mit besonderer Wertschätzung erinnert sich Bruder Mendoza an die Jahrbücher: „Die Erfahrungen aus den verschiedenen Ländern und die Landkarten — alles haben wir gründlich studiert. Jedes Jahr haben wir das Wachstum der Länder betrachtet und dabei die Zahlen der Versammlungen, der Neugetauften und der Anwesenden beim Gedächtnismahl mit den Zahlen des Vorjahrs verglichen. Das bereitete uns große Freude.“

Dies alles führte dazu, dass neue Verkündiger sich nicht nur schnell eine gute Bibelkenntnis aneigneten, sondern auch die theokratische Organisation kennen lernten. Außerdem wurden sie eifrige Prediger und Lehrer. Im Februar 1986 gab es beispielsweise im Cárcel Modelo 43 Verkündiger, die 80 Bibelstudien leiteten. Im Durchschnitt waren bei den wöchentlichen Zusammenkünften 83 Personen anwesend.

Alle diese Insassen waren in geistiger Hinsicht befreit worden, und schon bald sollten sie sich buchstäblicher Freiheit erfreuen, denn die Regierung hatte für alle politischen Häftlinge eine Amnestie erlassen. Infolgedessen wurden am 17. März 1989 die letzten 30 Verkündiger aus dem Cárcel Modelo entlassen. Die Versammlung Managua-Ost sorgte unverzüglich dafür, dass Älteste des jeweiligen Gebiets, in das die gerade entlassenen Verkündiger gezogen waren, Kontakt mit ihnen aufnahmen. Diese Ältesten hießen ihre neuen Glaubensbrüder willkommen, von denen viele später selbst zu Ältesten, Dienstamtgehilfen oder Pionieren ernannt wurden.

Einschränkungen bringen das Predigtwerk nicht zum Stillstand

Trotz Schwierigkeiten und Gefahren nahm die Zahl der Verkündiger in den Jahren der Einschränkung rasch zu. In einigen Gegenden wurden Versammlungen gegründet, die fast ausschließlich aus Neugetauften bestanden. Ein Beispiel ist die Versammlung La Reforma. Das Sonderpionierehepaar Antonio und Adela Alemán fuhr täglich in die ländlichen Gebiete zwischen Masaya und Granada zum Predigen. Eine Ortschaft hieß La Reforma. Dort studierten die Alemáns Anfang 1979 mit einem jungen Mann namens Rosalío López die Bibel. Seine Frau war kurz zuvor gestorben. Rosalío sprach schon bald mit seinen Verwandten, bei denen er wohnte, über das Gelernte — zuerst mit seiner Schwiegermutter und dann nacheinander mit seinen Schwägern und Schwägerinnen. Es dauerte nicht lange, bis 22 Familienangehörige zu Fuß zu den Zusammenkünften nach Masaya gingen, das etwa sechs Kilometer entfernt war.

Eines Tages sagten Rosalíos Verwandte zu ihm: „In den Zusammenkünften haben wir gehört, dass Jehovas Zeugen von Haus zu Haus predigen, aber wir tun das gar nicht.“

„In Ordnung“, sagte Rosalío, „wir werden Samstag predigen gehen.“ Gesagt, getan. Zusammen mit Rosalío, der das Wort ergriff, gingen alle 22 zu ein und derselben Tür. Als Antonio das nächste Mal zum Bibelstudium bei Rosalío erschien, verkündete dieser freudestrahlend, sie seien in der vergangenen Woche alle im Predigtdienst gewesen. Wenngleich sich Antonio über den Eifer seiner Schüler freute, forderte er die jungen Paare auf, doch zuerst ihr Leben mit den biblischen Anforderungen in Übereinstimmung zu bringen.

Im Dezember 1979 ließen sich Rosalío und ein Bruder von Rosalíos verstorbener Frau, Húber López, als Erste aus dieser Gruppe taufen. Rasch aufeinander folgend ließen sich auch die anderen taufen. Schon drei Jahre später konnte die Versammlung La Reforma gegründet werden. Am Anfang waren es 30 Verkündiger — alle aus derselben Familie. Einige Zeit später wurden Húber, sein Bruder Ramón und Rosalío zu Ältesten ernannt. 1986 dienten 54 Verkündiger in der Versammlung als Pioniere. (Siehe Kasten auf Seite 99—102.)

Als Folge der eifrigen Predigttätigkeit der Verkündiger der Versammlung La Reforma wurden mit der Zeit in dieser Region sechs weitere Versammlungen gegründet. Vergessen darf man nicht, dass die Brüder während dieser Zeit immer noch von den Behörden überwacht wurden, die von ihrem Eifer nicht gerade erbaut waren. „Wir wurden ständig von den Soldaten schikaniert“, berichtet Húber López, „aber das hielt uns nicht vom Predigen ab.“ Tatsächlich gedieh das Predigtwerk in dieser schwierigen Zeit. Wie kam das? Viele Brüder verloren ihre Arbeit und nahmen den allgemeinen Pionierdienst oder den Hilfspionierdienst auf.

Jehova segnete ihre Bemühungen. 1982 gab es in Nicaragua 4 477 Verkündiger der guten Botschaft, doch 1990 — nach acht Jahren der Einschränkung und Verfolgung — war die Zahl auf 7 894 angestiegen. Das war ein Wachstum von 76 Prozent!

Einschränkungen aufgehoben

Unter der Aufsicht einer internationalen Kommission fanden im Februar 1990 in Nicaragua Wahlen statt, die einen Regierungswechsel zur Folge hatten. Kurz danach wurden die Einschränkungen Jehovas Zeugen betreffend aufgehoben, die Verteidigungskomitees aufgelöst und die Wehrpflicht wurde abgeschafft. Die Brüder waren zwar noch vorsichtig, doch sie brauchten die neugierigen Blicke der Nachbarn nicht mehr zu fürchten. Im September desselben Jahres wurde Ian Hunter, der im guatemaltekischen Zweigkomitee gedient hatte, der neue Koordinator im Landeskomitee von Nicaragua.

In den vorangegangenen acht Jahren hatte das Landeskomitee das Werk in Nicaragua ohne ein Büro und entsprechende Ausrüstung geleitet. Bruder Hunter war daher froh, dass er seine Schreibmaschine aus Guatemala mitgebracht hatte. Julio Bendaña, ein Bruder vor Ort, stellte den viel beschäftigten Brüdern einen Großteil seiner eigenen Büroausrüstung zur Verfügung.

Am Stadtrand von Managua erwarb man ein Haus, das sich als Zweigbüro eignete. Für eine Reihe von Brüdern war das Bethelleben etwas Neues. Sie waren es gewohnt, im Geheimen an verschiedenen Orten und zu ungewöhnlichen Zeiten zu arbeiten. Doch sie waren bereit, umzulernen und sich anzupassen. Die meisten dieser jungen Männer von damals dienen Jehova immer noch treu; einige sind in anderen Zweigen des Vollzeitdienstes tätig.

Damit die Arbeit im Zweigbüro bewältigt werden konnte, kamen Brüder aus anderen Ländern zu Hilfe. Die Missionare Kenneth und Sharan Brian, die nach Honduras geschickt worden waren, kehrten Ende 1990 nach Nicaragua zurück. Im Januar 1991 kamen Juan und Rebecca Reyes aus Costa Rica. Sie hatten die erste Klasse der Außenstelle der Gileadschule in Mexiko besucht. Dann folgte Arnaldo Chávez, ebenfalls ein Absolvent der ersten Klasse in Mexiko, mit seiner Frau María. Zwei Jahre später trafen Lothar und Carmen Mihank aus Panama ein, wo Lothar im Zweigkomitee gedient hatte. Die meisten wurden dem neuen Zweigbüro zugeteilt, und sie halfen mit, das Werk organisatorisch zu festigen. Heute besteht die Bethelfamilie in Nicaragua aus 37 Mitgliedern unterschiedlicher Herkunft.

Im Februar 1991 ersetzte ein Zweigkomitee das Landeskomitee, und am 1. Mai 1991 wurde das nicaraguanische Zweigbüro offiziell wiedereröffnet. Die Grundlage für künftiges Wachstum war gelegt worden. Und welch ein gewaltiges Ausmaß es annehmen sollte! Von 1990 bis 1995 ließen sich 4 026 neue Jünger taufen — das entspricht einer 51-prozentigen Zunahme. Dieses Wachstum brachte es mit sich, dass man dringend geeignete Versammlungsstätten brauchte. Der Leser erinnert sich sicher, dass 1982 insgesamt 35 Königreichssäle vom Pöbel beschlagnahmt worden waren.

Eigentum zurückgefordert

Als die Königreichssäle damals unrechtmäßig besetzt worden waren, nahmen die Brüder das nicht tatenlos hin. Sie erhoben bei der Regierung sofort Einspruch und beriefen sich auf die nicaraguanische Verfassung. Obwohl sie dabei allen rechtlichen Erfordernissen entsprachen, stießen ihre Bitten auf taube Ohren. 1985 schrieben die Brüder sogar an den Präsidenten von Nicaragua und baten um gesetzliche Anerkennung und Rückgabe des Eigentums. Außerdem bemühten sie sich mehrmals um ein Gespräch mit dem Innenminister. Doch all diese Bemühungen verliefen im Sande.

Als dann im April 1990 die neue Regierung die Geschäfte übernahm, richteten sich die Brüder unverzüglich mit einer Petition an den neuen Innenminister und ersuchten ihn, Jehovas Zeugen wieder gesetzlich zu registrieren. Überglücklich dankten sie Jehova, als ihnen die Bitte schon nach vier Monaten gewährt wurde. Seither ist der Watch Tower Bible and Tract Society vom nicaraguanischen Staat der Status einer internationalen Missionsgesellschaft zuerkannt worden. Sie kann daher ungehindert wirken und genießt die übliche Steuerbefreiung, wie sie gemeinnützigen Organisationen zugestanden wird. Die Königreichssäle zurückzuerhalten war jedoch alles andere als einfach, denn einige waren den Anhängern des früheren Regimes „übergeben“ worden.

Die Brüder wurden bei dem neu gegründeten nationalen Komitee vorstellig, das sich mit der Überprüfung beschlagnahmter Besitztümer befasste, und baten um die Rückgabe aller Säle. Das erwies sich als ein kompliziertes und frustrierendes Unterfangen, was zum Teil daran lag, dass von anderen Organisationen und Einzelpersonen eine Menge ähnlicher Anträge vorlag. Nach einem Jahr intensiver Bemühungen erhielten sie im Januar 1991 einen Saal zurück. Die Brüder wandten sich auch direkt an die Bewohner der Königreichssäle, um eine Einigung herbeizuführen. Aber die meisten dieser Bewohner fühlten sich im Recht und betrachteten das Ganze als eine „Wiedergutmachung“, die ihnen nach der Revolution zustand.

Das Zweiggebäude wurde etwas später in jenem Jahr zurückgegeben; zuerst mussten die Brüder jedoch für die dort wohnende Familie eine Wohnung kaufen. In den folgenden Jahren bekamen die Brüder nach und nach von den 35 Sälen 30 zurück, und als Entschädigung für die restlichen erhielten sie Schuldverschreibungen vom Staat.

Mit Naturkatastrophen fertig werden

Außer Erdbeben, die zuvor in diesem Bericht erwähnt wurden, haben in Nicaragua auch Vulkanausbrüche und Orkane zahlreiche Menschenleben gefordert und schwere Schäden verursacht. Seit 1914 ist der aktivste Vulkan, der Cerro Negro, 12-mal ausgebrochen und hat riesige Anbaugebiete mit Asche bedeckt. Elfriede Urban, die während der Eruptionen in den Jahren 1968 und 1971 in León als Missionarin tätig war, beschreibt, was geschah: „Zwei Wochen lang regnete es schwarzen Sand und Asche auf die Stadt. Die Dächer mussten freigeschaufelt werden, damit sie nicht einbrachen. Es bestand berechtigter Grund zur Sorge, denn das alte León war Jahrhunderte zuvor von einem Aschenregen begraben worden. Feiner Sand wurde vom Wind überallhin getragen. Er war in unseren Schuhen, in unserer Kleidung, in den Betten, in der Nahrung und sogar zwischen den Seiten der Bücher. Trotz allem gingen die Brüder weiter in die Zusammenkünfte und beteiligten sich am Predigtdienst.“

Im Oktober 1998 verursachte der Wirbelsturm Mitch in ganz Mittelamerika sintflutartige Regenfälle. Experten nannten ihn „den mörderischsten Hurrikan, der die westliche Hemisphäre in den letzten 200 Jahren heimgesucht hat“. „Mitch forderte in Nicaragua zwischen 3 000 und 4 000 Menschenleben und es entstand beträchtlicher Sachschaden“, heißt es in der Encarta Encyclopedia. Durch den „starken Regen bildete sich im Krater des Vulkans Casitas ein See, der einen Erdrutsch auslöste. Der Schlamm bedeckte eine Fläche von 80 Quadratkilometern und begrub mehrere Dörfer unter sich.“ Nach jüngsten Schätzungen kamen dabei über 2 000 Menschen ums Leben.

Wie in anderen betroffenen Ländern haben Jehovas Zeugen auch in Nicaragua massive Hilfsmaßnahmen in die Wege geleitet. In einigen Städten bildeten die Zeugen Radfahrerteams, die in Gebiete fuhren, die von anderen Fahrzeugen nicht erreicht werden konnten, um die Brüder dort ausfindig zu machen und ihnen Nahrung und andere Hilfsgüter zu bringen. Oft waren sie die ersten Rettungshelfer, die mit Hilfsgütern eintrafen — sehr zur Freude ihrer obdachlos gewordenen Glaubensbrüder. Zeugen in Costa Rica und Panama sandten umgehend 72 Tonnen Nahrung und Kleidung. Nachdem für das Notwendigste gesorgt worden war, reparierten die Rettungshelfer noch monatelang Königreichssäle und bauten für die Brüder neue Häuser.

Das „andere“ Nicaragua

Im Jahr 1987 teilte die Regierung das östliche Staatsgebiet Nicaraguas (früher Zelaya genannt) in zwei autonome Bereiche auf, nämlich in die Nordatlantikregion und die Südatlantikregion. Obwohl diese Regionen etwa 45 Prozent der Landfläche Nicaraguas ausmachen, leben dort nur etwa 10 Prozent der Bevölkerung.

Verstreut über dieses ganze Gebiet, das sich von den zerklüfteten Hängen des östlichen Hochlands bis hin zu den Lagunen und Sümpfen der Mosquitoküste erstreckt, liegen Gold- und Silberminen. Mittendrin liegt eine abwechslungsreiche Landschaft mit tropischen Regenwäldern, Kiefernsavannen, Palmen und zahllosen Flüssen und Bächen, die sich ihren Weg durch die Landschaft bis zum Karibischen Meer bahnen. Im Verlauf der Zeit sind Dörfer sowie kleinere und größere Städte entstanden, die von Mestizen, Misquito-Indianern und anderen Ethnien bevölkert werden.

Für die Mehrheit der Misquito, Sumo, Rama und Kreolen, die diese Regionen bewohnen, ist die Hauptstadt Managua wie eine andere Welt. Es gibt tatsächlich noch keine befestigte Straße, die den Osten mit dem Westen verbindet. Obwohl in den Atlantikregionen Spanisch gesprochen wird, sprechen recht viele Bewohner Misquito, Kreolisch oder irgendeine andere einheimische Sprache. Die meisten bekennen sich zu einer protestantischen Kirche — im Allgemeinen zur Herrnhuter Brüdergemeine. Im Gegensatz dazu ist die Bevölkerung der Pazifikregion überwiegend katholisch. Zwischen Ost und West besteht also auf fast allen Gebieten ein großer Kontrast: geographisch, linguistisch, historisch, kulturell und religiös. Wie würden die Menschen in diesem „anderen“ Nicaragua wohl auf die gute Botschaft reagieren?

Die Königreichsbotschaft erreicht abgelegene Gebiete

Bereits 1946 verbreiteten Missionare der Zeugen Jehovas auf ihren Erkundungsreisen in die östlichen Regionen Literatur. In den 1950er Jahren besuchte der Kreisaufseher Sydney Porter mit seiner Frau Phyllis die kleinen Küstenstädte Bluefields und Puerto Cabezas, die Islas del Maíz (Maisinseln) und die Bergbaustädte Rosita, Bonanza und Siuna. „Auf einer Fahrt zu diesen Städten“, so berichtet Sydney, „verbreitete jeder von uns über 1 000 Zeitschriften und 100 Bücher. Die Menschen lasen sehr gern.“ In vielen dieser Städte entstanden schon bald Verkündigergruppen, aus denen von den 1970er Jahren an nach und nach Versammlungen wurden.

Andere Gegenden in den Atlantikregionen wurden jahrelang nicht bearbeitet. Abgeschiedenheit, fehlende Verbindungsstraßen und heftiger tropischer Regen, der über acht Monate anhält, erwiesen sich für die Predigttätigkeit als die größten Hindernisse. Doch sie waren nicht unüberwindlich, wie dies eifrige, unerschrockene Pioniere unter Beweis stellten. Dass es dort jetzt sieben Versammlungen und neun Verkündigergruppen mit etwa 400 Königreichsverkündigern gibt, ist größtenteils auf ihre Entschlossenheit und ihren fleißigen Einsatz zurückzuführen.

Welche Schwierigkeiten die Zeugen in diesen Regionen auf sich nehmen, lässt sich am besten durch das Beispiel eines 22-jährigen Bruders veranschaulichen. Dreimal wöchentlich legt er einen etwa achtstündigen Weg durch die Berge zurück, um die Zusammenkünfte der nächstliegenden Versammlung in der Bergbaustadt Rosita zu besuchen. Er dient dort als Dienstamtgehilfe und allgemeiner Pionier. Da er in seiner Familie der einzige Zeuge ist, predigt er gewöhnlich allein in dieser gebirgigen Landschaft. Häufig muss man zwei Stunden gehen, um das nächste Haus zu erreichen. Falls es in einem Haus spät wird und der Weg nach Hause nicht mehr zu schaffen ist, übernachtet er dort und setzt die Predigttätigkeit am nächsten Tag fort. Vor kurzem starb der Vater dieses jungen Bruders, und als ältester Sohn ist er nun für die Familie verantwortlich. Dennoch ist es ihm möglich, den Pionierdienst fortzusetzen. Inzwischen ist einer seiner leiblichen Brüder ein ungetaufter Verkündiger geworden und begleitet ihn im Dienst.

Seit 1994 organisiert das Zweigbüro jährlich Predigtfeldzüge in dieses riesige Gebiet. Sonderpioniere auf Zeit, ausgewählt aus den Reihen eifriger allgemeiner Pioniere, arbeiten in den abgelegenen Städten und Dörfern der Atlantikregionen, und zwar in der Trockenzeit, die vier Monate andauert. Diese unerschrockenen Pioniere nehmen es mit extremer Hitze, rauem Gelände, Schlangen, wilden Tieren und verunreinigtem Wasser auf sowie mit dem Risiko, sich eine ansteckende Krankheit zuzuziehen. Sie wollen ein gründliches Zeugnis geben, Bibelstudien mit Interessierten einrichten und christliche Zusammenkünfte durchführen, einschließlich des Gedächtnismahls. Die dabei erzielten Ergebnisse helfen den Brüdern im Zweigbüro zu entscheiden, wo Sonderpioniere eingesetzt werden sollten. Im Verlauf der Jahre haben diese Anstrengungen dazu geführt, dass weit im Nordosten in den Orten Waspam und San Carlos entlang des Rio Coco Versammlungen gegründet wurden und weitere Verkündigergruppen entstanden.

Obwohl die Atlantikregionen einen starken Zustrom Spanisch sprechender Mestizen erlebt haben, bleiben die einheimischen Misquito dort die stärkste Volksgruppe. Es gibt einige biblische Veröffentlichungen in Misquito, und etliche Pioniere haben die Sprache gelernt. Demzufolge haben viele dieser gastfreundlichen Menschen, die die Bibel sehr schätzen, günstig auf die Königreichsbotschaft reagiert.

In dem Misquitodorf Kwiwitingni unweit des Rio Likus gibt es beispielsweise 46 Häuser, von denen zur Zeit des Predigtfeldzugs im Jahr 2001 sechs unbewohnt waren. In jenem Jahr führten Sonderpioniere auf Zeit dort 40 Bibelstudien durch — in jedem Haus eines. Schon nach einem Monat brachten drei Studierende den Wunsch zum Ausdruck, getauft zu werden. Einer war Gehilfe des Pastors der Herrnhuter Brüdergemeine am Ort. Zwei Paare wollten Verkündiger werden, waren aber nicht gesetzlich getraut. Die Pioniere machten sie daher freundlich auf die biblischen Erfordernisse hinsichtlich Ehe und Taufe aufmerksam. Man stelle sich die Freude der Pioniere vor, als ihnen kurz vor ihrer Abreise die beiden Paare freudestrahlend ihre Heiratsurkunden präsentierten.

Seit diesem erfolgreichen Predigtfeldzug gehen Verkündiger aus Waspam regelmäßig die 19 Kilometer nach Kwiwitingni, um den Neuinteressierten zu helfen, Fortschritte zu machen, und sie im Predigtdienst zu schulen.

Sonderpioniere auf Zeit, die in verschiedenen Misquitodörfern entlang des Rio Coco predigten, stießen einmal auf eine große Gruppe Amerikaner, die dort Sozialarbeit verrichteten. Die Pioniere konnten einige Zeitschriften in Englisch bei ihnen zurücklassen. In dem Dorf Francia Sirpi am Rio Wawa waren Angehörige einer Baptistenkirche mit dem Bau einer kleinen Schule beschäftigt. Der Bauleiter sagte zu einem der Pioniere: „Ich bewundere die Tätigkeit der Zeugen Jehovas. Sie belehren die Menschen über die Bibel. Ich wünschte, auch meine Kirche würde so etwas fördern.“

Erfahrene Brüder benötigt

In den Jahren der Einschränkung besuchten etwa 60 Prozent der Zeugen in Nicaragua Zusammenkünfte, die die Größe von Großfamilien hatten. Die Brüder besaßen nur wenige Veröffentlichungen für den Predigtdienst. Kongresse wurden auf Versammlungsebene durchgeführt und das Programm war gekürzt. Einige befähigte Brüder, die auch Familienoberhäupter waren, wurden vertretungsweise als reisende Aufseher eingesetzt, was aber nur zeitweilig möglich war. Außerdem waren etliche Familien, die die Wahrheit schon lange kannten, in den stürmischen Jahren weggezogen. Als das Werk wieder gesetzlich eingetragen worden war, benötigte man dringend erfahrene Älteste und Pioniere.

Tatsächlich sehnten sich die Ältesten danach, in organisatorischen Verfahrensweisen geschult zu werden, wohingegen die Verkündiger lernen mussten, wie man im Predigtdienst Literatur anbietet. Deshalb schickte die leitende Körperschaft Brüder nach Nicaragua, die in El Salvador, Mexiko oder Puerto Rico die Schule zur dienstamtlichen Weiterbildung besucht hatten. Einer von ihnen, Bruder Pedro Henríquez, ein Absolvent der ersten Klasse in El Salvador, nahm 1993 in Nicaragua den Kreisdienst auf. Aus Mexiko kamen elf erfahrene Kreisaufseher, um in diesem neuzeitlichen „Mazedonien“ mitzuhelfen (Apg. 16:9).

In den vergangenen neun Jahren wurden 58 Gileadabsolventen nach Nicaragua gesandt, die in sechs Missionarheimen im Land untergebracht sind. Ihre Reife trägt zu einer wohltuenden Atmosphäre in den Versammlungen bei, und sie konnten schon vielen Jugendlichen helfen, den Vollzeitdienst als erstrebenswertes Ziel ins Auge zu fassen.

Wer in den 1960er oder 1970er Jahren nach Nicaragua kam, um dort zu helfen, wo ein größerer Bedarf an Verkündigern besteht, bezeichnete Nicaragua als ein Paradies für Prediger. Das trifft auch heute noch zu. Ein Bruder in der Dienstabteilung des Zweigbüros bemerkt dazu: „Nicaragua ist immer noch ein Land, in dem die Verkündiger und Pioniere entscheiden müssen, wie viele Bibelstudien sie leiten können, denn das Interesse ist nach wie vor beachtlich.“ Verständlicherweise haben daher viele, die gern dort dienen möchten, wo ein größerer Bedarf besteht, die Kosten berechnet und sich über das Land erkundigt. Bis April 2002 waren sage und schreibe 289 Pioniere aus 19 Ländern nach Nicaragua gekommen. Wie dankbar doch die einheimischen Zeugen für all diese Erntearbeiter sind! (Mat. 9:37, 38).

Ein begeisternder Kongress

Im Jahr 1978 hatte der letzte Landeskongress stattgefunden, bevor das Werk eingeschränkt wurde. Man stelle sich daher die Begeisterung der Brüder vor, als sie nun zu einem Bezirkskongress in Managua eingeladen wurden, der im Dezember 1999 stattfinden sollte! Jedes Familienmitglied wurde ermuntert, sofort mit dem Sparen zu beginnen, damit genügend Geld für die Reise und sonstige Unkosten zur Verfügung wäre und keiner zu Hause bleiben müsste. Um die Mittel aufzubringen, waren einige recht erfinderisch. Ein Beispiel: Da in Nicaragua Schweinefleisch sehr beliebt ist, haben sich einige „lebende Sparschweinchen“ zugelegt. Sie haben Ferkel gekauft, sie großgezogen und dann die Schweine verkauft. Das Ergebnis weiser Planung und Entschlossenheit war daran zu sehen, dass 28 356 Zeugen und Interessierte aus allen Teilen des Landes anreisten und in das nationale Baseball-Stadion von Managua strömten, wo der Bezirkskongress „Gottes prophetisches Wort“ am 24. Dezember begann.

Welch eine Freude erfasste die Delegierten am Samstag, als 784 Personen untergetaucht wurden — die größte Taufe in der Geschichte des Werkes in Nicaragua! Missionare, die früher dort gedient hatten, waren gekommen und erzählten den Anwesenden ermunternde Erfahrungen. Darüber hinaus übte der Kongress eine machtvolle, einigende Wirkung auf alle anwesenden Sprach- und Stammesgruppen aus. Sie waren jetzt entschlossener denn je, Fortschritte zu machen und die „reine Sprache“ der biblischen Wahrheit zu beherrschen, um Jehova „Schulter an Schulter zu dienen“ (Zeph. 3:9).

Unser Recht, ohne Blut behandelt zu werden, verteidigt

Nicaragua verfügt über drei Krankenhaus-Verbindungskomitees, deren Tätigkeit vom Krankenhausinformationsdienst (KID) im Zweigbüro koordiniert wird. Diese Komitees stehen zum einen Zeugen Jehovas in der Blutfrage bei und bemühen sich zum anderen, medizinisches Fachpersonal und Medizinstudenten über die vielen von Jehovas Zeugen akzeptierten Alternativen zu Bluttransfusionen zu informieren.

Aus diesem Grund haben Vertreter des KID vor Ärzten und Medizinstudenten Vorträge gehalten und audiovisuelles Material vorgeführt, was von einigen sehr lobend kommentiert wurde. Tatsächlich hat eine wachsende Anzahl Chirurgen und Anästhesisten ihre Bereitschaft erkennen lassen, sich kooperativ zu verhalten und unseren biblischen Standpunkt hinsichtlich Bluttransfusionen zu respektieren.

Entschlossen, voranzudrängen

Die theokratische Geschichte Nicaraguas beweist auf überwältigende Weise, dass weder Naturkatastrophen noch von Menschen verursachtes Leid die gute Botschaft aufhalten können. Jehova hat wirklich bewirkt, dass „der Kleine selbst ... zu einem Tausend“ wurde (Jes. 60:22). Der erste Predigtdienstbericht, der im Jahr 1943 abgegeben wurde, berichtete über die Tätigkeit von drei Verkündigern. Vierzig Jahre später betrug die Höchstzahl 4 477. Bis 1990, dem Jahr, in dem die Missionare zurückkehren durften, war die Verkündigerzahl auf 7 894 geklettert. Der Segen Jehovas hielt in den 90er Jahren an, denn die Zahl der Königreichsverkündiger verdoppelte sich fast.

Dieses rasche Wachstum hat natürlich dazu geführt, dass dringend mehr Königreichssäle benötigt werden. Daher hat das Zweigbüro ein umfangreiches Bauprogramm in die Wege geleitet, das vorsieht, 120 zusätzliche Königreichssäle und ein neues Zweigbüro in Ticuantepe, etwa 11 Kilometer südlich von Managua, zu erstellen. Das Zweigbüro soll im April 2003 fertig sein.

In jüngster Zeit hat Nicaragua einen beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Dieser ist besonders in Managua auf den Gebieten Arbeit, Bildung und Unterhaltung zu beobachten. Man hat den Eindruck, in der Stadt werde ständig gebaut. Die Metropole ist stolz auf ihre modernen Restaurants, Tankstellen und Einkaufszentren, in denen alles zu haben ist, was die westliche Konsumgesellschaft zu bieten hat.

Dieses Umfeld birgt viele Versuchungen und stellt Christen vor neue Herausforderungen. Ein langjähriger Ältester bemerkt: „Über Nacht kann sich vieles ändern. Es ist so, als würde man einem Kind, das niemals etwas anderes als Reis und Bohnen gegessen hat, einen Teller voller Süßigkeiten hinstellen und dann sagen: ‚Nun, sieh dich vor!‘ Wir wissen wohl, wie es ist, Jehova in entbehrungsreichen Zeiten zu dienen, doch jetzt geht der Feind hinterhältig vor. Damit umzugehen ist noch schwieriger.“

Dennoch führen Eigenschaften wie Loyalität, Eifer und Mut, die Jehovas Diener in den Jahren der Einschränkung bekundet haben, weiterhin zu ausgezeichneten Ergebnissen. Viele Kinder von damals sind heute Älteste, Pioniere und Bethelmitarbeiter. In Nicaragua gibt es jetzt 17 Kreise mit 295 Versammlungen und 31 Gruppen in abgelegenen Gebieten. Die letzte Verkündigerhöchstzahl von August 2002 betrug 16 676. Beim Gedächtnismahl waren sogar 66 751 Personen anwesend.

Deshalb beten wir darum, dass noch viele Menschen in diesem Land voller Gegensätze Jehova kennen lernen, bevor sein „Jahr des Wohlwollens“ zu Ende geht (Jes. 61:2). Ja, möge unser himmlischer Vater auch weiterhin die Grenzen unseres geistigen Paradieses ausdehnen, bis die gesamte Erde ‘mit der Erkenntnis Jehovas erfüllt sein wird, wie die Wasser das ganze Meer bedecken’ (Jes. 11:9).

[Kasten auf Seite 72]

Nicaragua — ein Überblick

Das Land: Nicaragua ist der größte Staat in Mittelamerika. Das zentrale Bergland gliedert das Land in zwei Teile. Im Westen liegt die Region der Binnengewässer. Im Osten ist es nicht so ertragreich, dort dominieren tropischer Regenwald und Savannen. Einige der 40 Vulkane in Nicaragua sind noch aktiv.

Die Menschen: Die meisten sind Spanisch sprechende Mestizen — Nachkommen von Weißen und Indianern. Minderheiten der Monimbó und Subtiaba (Indianer) leben an der Westküste, während die Ostküste von Misquito, Sumo, Rama sowie von Kreolen und Afro-Kariben bevölkert wird. Der Katholizismus ist vorherrschend.

Die Sprache: Spanisch ist die offizielle Landessprache. Daneben werden einheimische Sprachen gesprochen.

Der Lebensunterhalt: Die Landwirtschaft ist der bedeutendste Wirtschaftszweig Nicaraguas.

Die Nahrung: Hauptnahrungsmittel sind Reis, Mais, Bohnen, Sorghum, Kochbananen, Maniok und verschiedene Früchte. Zu den Exportgütern gehören Kaffee, Zucker, Bananen, Meeresfrüchte und Rindfleisch.

Das Klima: In Nicaragua herrscht tropisches Klima. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt je nach Landesregion zwischen 190 und 380 cm. Die Durchschnittstemperatur an den Küsten liegt bei 26 °C. In höheren Lagen ist es etwas kühler.

[Kasten/Bild auf Seite 99-102]

Eine Konfrontation mit der Geheimpolizei

Húber und Telma López

Kurzporträt: Eltern von drei erwachsenen Kindern. Húber dient als Ältester in einer Ortsversammlung.

Unter der Revolutionsregierung wurden Älteste und Dienstamtgehilfen häufig verhaftet und von der Staatssicherheit festgehalten. Die Verhöre konnten einen Tag oder mehrere Wochen dauern. Wegen ihrer biblisch begründeten Neutralität wurden Jehovas Zeugen beschuldigt, Menschen zur Rebellion gegen den Staat aufzuwiegeln, formal angeklagt wurden sie jedoch nie. Die Vernehmer wollten wissen, wer die „Unterweiser“ und „Führer“ seien.

Einer der vielen Brüder, die dies durchmachten, war Húber López, heute Ältester und Vater von drei erwachsenen Kindern. Im Dezember 1985 wurde Bruder López in seinem Haus in La Reforma, einer ländlichen Gemeinde etwa 40 Kilometer südöstlich von Managua, verhaftet. Seine Frau Telma erzählt von den nervenaufreibenden Ereignissen jenes Tages:

„Um 16 Uhr hielten zwei Jeeps vor unserem Haus. In dem einen saßen Agenten der Staatssicherheit und der andere war voller Soldaten, die das Haus umstellten. Nachdem ich den Beamten gesagt hatte, dass mein Mann nicht zu Hause sei, forderten sie mich und die Kinder auf, nach draußen zu gehen, denn sie würden das Haus durchsuchen. Elmer, unser ältester Sohn, der damals 10 Jahre alt war, blieb allerdings drinnen. Er sah zu, wie sie einen Schrank voller Bücher — weltliche und theokratische — ausräumten. Zwischen diesen Büchern hatte mein Mann Versammlungsunterlagen versteckt. Als die Eindringlinge die Bücher zum Jeep hinausbringen wollten, rief Elmer aus: ‚Wollen Sie meine Schulbücher auch mitnehmen?‘ ‚Na gut, dann hol sie dir‘, entgegnete ein Soldat etwas ungehalten. So konnte unser Sohn seine Bücher und die Versammlungsunterlagen retten.

Als wir beim Abendessen waren, kamen die Soldaten noch einmal. Die Gewehre auf uns gerichtet, nahmen sie meinen Mann vor den Augen der weinenden Kinder mit. Warum sie ihn mitnahmen und wohin sie ihn bringen würden, erfuhren wir nicht.“

Was sich dann ereignete, beschreibt Bruder López wie folgt: „Ich wurde in ein Gefängnis nach Masaya gebracht und landete in einer Zelle mit allen Arten von Kriminellen. Sofort gab ich mich als ein Zeuge Jehovas zu erkennen und unterhielt mich mehrere Stunden mit den Männern. Um Mitternacht kam jemand mit vorgehaltener Waffe in die Zelle und forderte mich auf, sie zu verlassen und in einen Jeep zu steigen, der draußen im Dunkeln wartete. Mir wurde befohlen, den Kopf zu senken. Als ich einstieg, sah ich noch vier andere mit gebeugtem Kopf und erkannte, dass es Dienstamtgehilfen und Älteste aus der Gegend von Masaya waren, die man am selben Abend festgenommen hatte.

In jener Nacht drohte man zweimal, uns umzubringen; zuerst auf einer Kaffeeplantage und dann in einem Stadtgebiet, wo wir uns vor einer Hauswand aufstellen mussten. In beiden Situationen erwarteten die Soldaten offenbar eine Reaktion, aber keiner von uns sagte ein Wort. Schließlich brachten sie uns nach Jinotepe ins Gefängnis, wo wir in separaten Zellen drei Tage verbrachten.

Man ließ uns jeweils nur wenige Stunden am Stück schlafen. Unsere Zellen wurden verdunkelt, sodass wir nicht wussten, ob es Tag oder Nacht war. Wir wurden wiederholt zum Verhör gerufen und über unsere Predigttätigkeit und die Zusammenkünfte befragt. Außerdem wollten sie die Namen unserer ‚Führer‘ wissen. Ein Vernehmer drohte sogar, meine Eltern zu verhaften, um von ihnen die Informationen zu erzwingen. Tatsächlich hörte ich die Stimmen meiner Eltern, meiner Frau und anderer Familienangehöriger, während ich in meiner Zelle war. Das war natürlich eine Tonbandaufnahme, die mich glauben machen sollte, meine Familienangehörigen seien zum Verhör geladen worden.

Am vierten Tag, es war Donnerstag, erfuhr ich von meiner Entlassung. Doch zuerst sollte ich ein Schriftstück unterschreiben und geloben, nicht mehr über meinen Glauben zu sprechen. Man sagte mir, meine Glaubensbrüder hätten bereits unterschrieben, was natürlich nicht stimmte. ‚Falls Sie nicht unterschreiben‘, sagten meine Vernehmer, ‚bringen wir Sie zurück, und Sie können hier verschmachten.‘

‚Dann entlassen Sie mich bitte nicht; lassen Sie mich hier‘, entgegnete ich.

‚Warum sagen Sie das?‘

‚Weil ich ein Zeuge Jehovas bin, und das bedeutet, dass ich über meinen Glauben spreche.‘

Zu meiner Überraschung wurden wir fünf noch am selben Tag entlassen. Ja, Jehova hatte unsere Gebete erhört und uns gestärkt, sodass wir ruhig blieben und unsere Brüder nicht verrieten. Nach diesem Vorfall wurden wir jedoch ständig überwacht.“

[Kasten/Bild auf Seite 105, 106]

Zwangsweise in Kampfzonen geschickt

Giovanni Gaitán

Taufe: 1987

Kurzporträt: Er wurde nur wenige Wochen vor seiner Taufe verhaftet und gezwungen, sich 28 Monate den BLIs anzuschließen. Er hat über 8 Jahre als Pionier gedient.

Einige junge Brüder wurden gezwungen, sich den irregulären Kampftruppen (spanisch: BLI) anzuschließen, die in der unwegsamen Bergregion kämpften.

Einer dieser jungen Männer war Giovanni Gaitán. Während er noch ein ungetaufter Verkündiger war, verbrachte Giovanni 28 Monate bei den BLIs. Nur wenige Wochen bevor er sich taufen lassen wollte, wurde er festgenommen. Giovanni berichtet: „Meine Prüfungen begannen nach dem ersten Kampfeinsatz. Ein Offizier befahl mir, die blutbefleckte Uniform eines toten Soldaten zu waschen. Ich weigerte mich, weil ich fürchtete, es könne der erste von mehreren Schritten sein, die mich schließlich meine christliche Neutralität kosten könnten. Der wutentbrannte Offizier versetzte mir eine kräftige Ohrfeige. Er zog seine Pistole, presste sie an meinen Kopf und drückte ab. Aber der Schuss ging nicht los. Daher schlug er mir mit der Pistole ins Gesicht und drohte, mich umzubringen, falls ich mich erneut widersetzen würde.

In den nächsten 18 Monaten machte mir dieser Mann das Leben sehr schwer. Mehrere Male band er meine Hände einen ganzen Tag lang zusammen, sodass ich nicht essen konnte. In diesem Zustand wurde ich häufig gezwungen, in der unwegsamen Bergregion vor der Truppe herzumarschieren, Gewehr und Granaten auf den Rücken geschnallt — als leichte Zielscheibe für den Feind. Er schlug mich und drohte, mich umzubringen, besonders wenn die Kämpfe tobten, Soldaten um mich herum starben und ich mich weigerte, ihre Gewehre aufzuheben. Trotzdem empfand ich keinen Hass. Ich hatte auch keine Angst, denn Jehova gab mir Mut.

Eines Morgens im März 1985 wurde ich mit einigen Glaubensbrüdern aus den Bergen in eine Gegend gebracht, wo wir unsere Familien treffen sollten. Es war unweit von Mulukukú — etwa 300 Kilometer nordöstlich von Managua. Während wir aßen und uns unterhielten, sah ich den besagten Offizier allein dasitzen. Ich brachte ihm einen Teller mit Essen. Als er damit fertig war, rief er mich zu sich. Ich war auf das Schlimmste gefasst; aber wie überrascht war ich, als er sich für die Art und Weise, wie er mich behandelt hatte, entschuldigte. Er fragte mich sogar nach meinen Glaubensansichten. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Kurz darauf starb er bei einem Unfall mit einem Militärlastwagen.“

[Kasten/Bilder auf Seite 116-118]

Landeskomiteemitglieder halten Rückblick

Während der Zeit der Einschränkung stand das Werk in Nicaragua unter der Aufsicht von Costa Rica. Für die Leitung im Land selbst wurde ein Landeskomitee ernannt. Zwei Brüder, Alfonso Joya und Agustín Sequeira, die in diesem Komitee dienten, berichten über diese Zeit der Erprobung.

Alfonso Joya: „Während ich als Ältester in Managua diente, wurde ich 1985 ins Landeskomitee berufen. Beruflich leitete ich die größte Filiale einer bekannten Bank. Mit meiner Erfahrung als Bankier konnte ich in einer Zeit, wo die nicaraguanische Währung rapide an Wert verlor und die Wirtschaft am Boden lag, dazu beitragen, dass die finanziellen Mittel der Organisation Jehovas bestmöglich genutzt wurden. Selbst für ein gewöhnliches Paar Schuhe, das etwa 250 Córdobas gekostet hatte, musste man schon bald zwei Millionen Córdobas bezahlen.

In dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit fehlte es im Land oft an Benzin, sodass die Brüder Probleme hatten, die Literatur zu entlegenen Versammlungen zu bringen. Doch Jehova stand uns insofern bei, als er mir ermöglichte, den Brüdern das nötige Benzin zu beschaffen.

Meine Familie wusste nicht, dass ich zum Landeskomitee gehörte. Damals war ich 35 Jahre alt und hatte den Status eines Militärreservisten. Viermal versuchte das Militär mich einzuziehen; in einem Fall sogar in meinem eigenen Haus. Daran erinnere ich mich noch sehr gut, denn meine Frau und unsere drei kleinen Kinder standen neben mir, als man das Gewehr auf mich richtete. Bemerkenswerterweise behielt ich die ganze Zeit über meine Stellung in der Bank.“

Agustín Sequeira: „Als die Missionare 1982 ausgewiesen wurden, war ich Sonderpionier in einer Kleinstadt in Boaco. Später wurde mir das Vorrecht zuteil, im Landeskomitee mitzuwirken. Die Brüder in meiner Versammlung hatten keine Ahnung von dieser Ernennung. Ich stand meistens um 4 Uhr morgens auf, erledigte meine Büroarbeit und ging dann mit den Brüdern der Versammlung in den Predigtdienst.

Die Mitglieder des Landeskomitees verwendeten bei der Erledigung ihrer Aufgaben Decknamen, und wir kamen überein, nicht über Einzelheiten unserer Arbeit zu sprechen. Das diente im Fall einer Festnahme zum Schutz. Wir hatten kein Büro, sondern waren in verschiedenen Wohnungen tätig. Da eine Aktentasche vielleicht verdächtig ausgesehen hätte, steckte ich die schriftlichen Unterlagen manchmal in einen Beutel, legte obendrauf ein paar Gemüsezwiebeln und ließ das Grünzeug herausschauen. Einige Male konnte ich nur knapp entkommen, festgenommen wurde ich jedoch nie.

Mitglieder des Zweigkomitees in Costa Rica besuchten uns öfter, um uns zu ermuntern und uns Hinweise zu geben. Ein wirklich unvergessliches und erbauendes Erlebnis war die Bestimmungsübergabe des Zweigbüros in Costa Rica. Das war im Januar 1987. Bei diesem Anlass hatten ein anderes Mitglied vom Landeskomitee und ich die schöne Gelegenheit, zwei Brüder von der leitenden Körperschaft kennen zu lernen.“

Kurz vor Drucklegung dieses Berichts ist Bruder Sequeira friedlich eingeschlafen. Er ist 86 Jahre alt geworden und hat über 22 Jahre im Vollzeitdienst verbracht. Er gehörte zur Bethelfamilie in Nicaragua und diente im Zweigkomitee.

[Kasten/Bilder auf Seite 122, 123]

Im Gefängnis wahre Freiheit gefunden

Zwischen 1979 und 1989 war das Cárcel Modelo mit militärischen und politischen Gefangenen gefüllt, die mit dem früheren Regime in Verbindung standen. Die Königreichsbotschaft durchdrang die Gefängnismauern, erfüllte Herz und Sinn aufrichtiger Menschen und ließ in ihnen eine christliche Persönlichkeit heranreifen (Kol. 3:5-10). Es folgen nun ein paar Äußerungen ehemaliger Häftlinge.

José de la Cruz López: „Im Gefängnis war ich verbittert, hoffnungslos und hatte keine Zukunftsperspektive. Dann lernte ich Mithäftlinge kennen, die Zeugen Jehovas geworden waren. Zwei Dinge beeindruckten mich: ihre biblischen Erklärungen und ihr tadelloses Verhalten. Letztendlich wurden meine geistigen Bedürfnisse befriedigt und ich hatte eine Hoffnung. Ich dachte, wenn ich schon bereit war, mein Leben für eine menschliche Regierung zu opfern, die keine echte Hoffnung bieten konnte, wie viel mehr sollte ich dann gegenüber demjenigen Loyalität bekunden, der seinen eigenen Sohn für mich gegeben hat! Nach meiner Entlassung lernten meine Frau, meine Töchter und drei andere Familienangehörige ebenfalls die Wahrheit kennen. Niemals werde ich Jehova all das Gute vergelten können, was er für mich getan hat!“

Bruder López dient als Ältester in Managua.

Omar Antonio Espinoza: „Als ich 18 Jahre alt war, wurde ich zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach 10 Jahren wurde ich amnestiert. Ich bedaure zwar, dass ich meine Freiheit damals verlor, doch es war im Gefängnis, wo ich Jehova und wahre Freiheit kennen lernte. Früher führte ich ein ausschweifendes Leben, aber dann machte ich eine komplette Kehrtwendung. Ich bin Jehova dankbar für einen Becher, der wohl gefüllt ist mit geistigen Segnungen. Ich bin genauso entschlossen wie Josua, der einmal sagte: ‚Ich aber und meine Hausgenossen, wir werden Jehova dienen‘ (Jos. 24:15).“

Bruder Espinoza dient als Ältester in Rivas.

Anastasio Ramón Mendoza: „Schon nach wenigen Monaten Haft fing ich an, für mich allein die Bibel zu lesen. Danach begann ich, mit einem Mithäftling, der ein Zeuge Jehovas war, die Bibel zu studieren. Es dauerte nicht lange, und ich war davon überzeugt, die Wahrheit gefunden zu haben. Doch die Taufe schob ich hinaus, denn in mir brodelte Hass gegen diejenigen, die mich gefangen hielten. Ich wusste, dass Jehova diese Geisteshaltung nicht gutheißen konnte.

Daher betete ich voller Inbrunst sowohl um Vergebung als auch um Hilfe, meine schlechte Einstellung zu überwinden. Jehova erhörte mein Flehen und lehrte mich geduldig, nicht die Personen, sondern ihre abträgliche Geisteshaltung und ihre verwerfliche Handlungsweise zu hassen. 1982 ließ ich mich taufen. Seit meiner Entlassung im Jahr 1989 habe ich die Bibel mit mehreren ehemaligen Soldaten studiert sowie mit anderen, die in einer ähnlichen Lage waren wie ich. Einige sind jetzt meine Glaubensbrüder.“

Bruder Mendoza dient in Managua als Dienstamtgehilfe.

[Kasten/Bild auf Seite 141-145]

Die Gebete eines Pastors wurden erhört

Teodosio Gurdián

Taufe: 1986

Kurzporträt: Bruder Gurdián dient derzeit als Ältester in der Versammlung Wamblán.

Als die Kämpfe zwischen den Sandinisten und den Contras 1986 am heftigsten tobten, machten sich zwei Verkündiger aus der kleinen Versammlung in San Juan del Río Coco auf den Weg in das 100 Kilometer nördlich gelegene Wamblán. Die Kleinstadt liegt im zentralen Hochland, einer öden Gebirgslandschaft nahe der honduranischen Grenze. Wegen der Kämpfe war die kleine Gruppe Zeugen, die dort ansässig war, zwei Jahre zuvor aus Wamblán weggezogen. Die beiden Brüder suchten nach einem Mann mit Namen Teodosio Gurdián. Wieso, berichtet Teodosio selbst.

„Ich war Pastor einer protestantischen Kirche in Wamblán. Unsere Kirche stand unter der Leitung der Nationalen Vereinigung nicaraguanischer Pastoren (spanisch: ANPEN), einer Organisation von Pastoren aller protestantischen Religionsgemeinschaften in Managua. Kurz nachdem die Sandinisten die Macht übernommen hatten, unterzeichnete die ANPEN ein Abkommen, das die Beteiligung von Pastoren und Gemeindemitgliedern in den sandinistischen Verteidigungskomitees und anderen Organisationen vorsah — die Armee eingeschlossen. Das beunruhigte mich. Ich fragte mich: ‚Wie kann ein Diener Gottes Waffen tragen?‘

Dann erhielt ich von einer Familie das Buch Frieden und Sicherheit — Wie wirklich zu finden?; es waren Zeugen Jehovas, die damals in Wamblán wohnten. Ich las darin bis spät in die Nacht. Außerdem fing ich an, die Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! regelmäßig zu lesen. Das war wenigstens echte geistige Speise. Ich gebrauchte den Aufschluss sogar in meinen Predigten. Als man dies den Kirchenobersten mitteilte, wurde ich in das Zentralbüro nach Managua beordert.

In der Meinung, ich sei irregeführt worden, weil es mir als Pastor noch an Kenntnissen fehle, boten mir die Verantwortlichen ein achtmonatiges Studium mit Stipendium in Managua an. Was ich aus den Veröffentlichungen der Zeugen Jehovas gelernt hatte, war biblisch gut fundiert. Daher hatte ich einige Fragen an die Kirchenvertreter: ‚Warum predigen wir nicht von Haus zu Haus wie die ersten Christen? Warum zahlen wir den Zehnten, wenn doch die Apostel es nicht verlangten?‘ Meine Fragen wurden nicht zufriedenstellend beantwortet, und schon bald war ich in den Augen dieser Leute ein Zeuge Jehovas.

Nach dieser Erfahrung löste ich meine Verbindung zur Kirche und machte mich in Managua auf die Suche nach Jehovas Zeugen. Aber man schrieb das Jahr 1984 und die Zeugen versammelten sich im Untergrund. Nachdem ich zwei Wochen vergeblich gesucht hatte, kehrte ich nach Wamblán zurück und kümmerte mich um den Lebensunterhalt meiner Familie, indem ich ein kleines Feld mit Mais und Bohnen bebaute.

Bevor die Zeugen aus Wamblán weggezogen waren, hatten sie viel Literatur verbreitet. Wann immer ich bei meinen Besuchen in den Wohnungen der Menschen auf diese Literatur stieß, fragte ich: ‚Lesen Sie das Buch? Kann ich es Ihnen abkaufen?‘ Die meisten gaben mir die Bücher, und so kam ich schließlich in den Besitz einer kleinen theokratischen Bibliothek.

Obwohl ich mich nicht öffentlich als ein Zeuge Jehovas zu erkennen gab, war ich als solcher in Wamblán bekannt. Deshalb dauerte es nicht lange, bis Beamte der Staatssicherheit mich über meine Tätigkeit befragten. Sie teilten mir mit, ich könne in nahe gelegenen Dörfern predigen, vorausgesetzt ich teilte ihnen die Namen derjenigen mit, die die Contras unterstützten. ‚Wenn ich das täte‘, entgegnete ich, ‚würde ich meinen Gott verleugnen, und das kann ich nicht. Jehova verlangt ausschließliche Ergebenheit.‘

Bei einer anderen Gelegenheit forderte mich ein Offizier auf, ein Dokument zu unterschreiben, durch das ich den Sandinisten meine Unterstützung zusagen würde. Ich lehnte ab. Daraufhin zog er eine Pistole und sagte drohend: ,Wissen Sie nicht, dass wir Parasiten, die der Revolution nicht dienen, beseitigen können?‘ Statt mich zu erschießen, gab er mir Bedenkzeit. An jenem Abend verabschiedete ich mich von meiner Frau. ‚Wenn ich dieses Papier unterschreibe, sterbe ich ohnehin‘, sagte ich zu ihr. ‚Unterschreibe ich nicht und sterbe, kann mich Jehova zur Auferstehung bringen. Kümmere dich um die Kinder und vertraue auf Jehova. Er wird uns beistehen.‘ Am nächsten Morgen sagte ich zu dem Offizier: ‚Hier bin ich; was Sie tun, bleibt Ihnen überlassen. Ich werde jedenfalls nicht unterschreiben.‘ Er nickte und beglückwünschte mich. ‚Ich wusste, Sie würden so antworten. Ich kenne Jehovas Zeugen.‘ Dann ließ er mich gehen.

Danach predigte ich wesentlich freier, fuhr in viele abgelegene Dörfer und lud Interessierte ein, zusammenzukommen. Ein betagtes Ehepaar war unter den Ersten, die günstig reagierten; später folgten weitere Familien. Es dauerte nicht lange, bis sich regelmäßig 30 Personen versammelten. Ich benutzte ältere Wachtturm-Ausgaben und bot den Stoff in Form eines Vortrags dar, weil wir jeweils nur ein Exemplar besaßen. Ich studierte sogar mit einigen Soldaten die Bibel. Einer wurde später ein Zeuge Jehovas.

Im Jahr 1985 erzählte mir ein Soldat, der auf der Durchreise war, von einer Versammlung in Jinotega, etwa 110 Kilometer südlich von Wamblán. Ich bat einen Neuinteressierten aus Wamblán, mich dorthin zu begleiten. Nachdem wir uns auf dem Marktplatz in Jinotega nach Jehovas Zeugen erkundigt hatten, fanden wir schließlich die Wohnung einer Familie. Die Frau öffnete die Tür. Wir stellten uns als Zeugen Jehovas vor, und sie fragte, ob wir zum Gedächtnismahl gekommen seien. ‚Was ist das Gedächtnismahl?‘, fragten wir. Daraufhin rief sie ihren Mann. Als er unsere Aufrichtigkeit bemerkte, bat er uns herein. Bedauerlicherweise war das Gedächtnismahl am Abend zuvor gewesen, doch wir blieben drei Tage bei ihnen und besuchten unser erstes Versammlungsbuchstudium.

Wieder in Wamblán, setzte ich die Predigttätigkeit fort und hielt Zusammenkünfte ab. 1986, einen Tag vor dem Gedächtnismahl, trafen die beiden Brüder ein, die eingangs erwähnt wurden. Unsere kleine Gruppe Neuinteressierter informierte schnell die Interessierten in den umliegenden Dörfern, und so waren bei unserem ersten Gedächtnismahl 85 Personen anwesend.

Im Oktober desselben Jahres ließ ich mich zusammen mit dem betagten Ehepaar taufen, mit dem ich mein erstes Bibelstudium durchgeführt hatte. Sie waren damals in den Achtzigern. Zur Versammlung Wamblán gehören heute 74 Verkündiger und 3 allgemeine Pioniere. Ich habe das Vorrecht, dort als ein Ältester zu dienen. 2001 fand das Gedächtnismahl nicht nur in Wamblán, sondern auch in drei anderen Dörfern statt, sodass insgesamt 452 Personen anwesend waren.“

[Übersicht auf Seite 80, 81]

NICARAGUA — EINIGE WICHTIGE ETAPPEN

1925

1934: Eine Pionierin, die im Land zu Besuch ist, lässt Literatur zurück.

1937: Beginn des Somoza-Regimes.

1945: Die ersten Gileadabsolventen treffen ein.

1946: N. H. Knorr und F. W. Franz besuchen Managua. Ein Zweigbüro wird eröffnet.

1950

1952: Auf Veranlassung der katholischen Geistlichkeit erfolgte ein Verbot.

1953: Das Oberste Gericht hebt das Verbot auf.

1972: Ein Erdbeben verwüstet Managua.

1974: Der Bau eines neuen Zweigbüros und eines Missionarheims wird fertig gestellt.

1975

1979: Die Sandinisten erringen den Sieg über das Somoza-Regime. An die 50 000 Menschen kommen in der Revolution ums Leben.

1981: Jehovas Zeugen verlieren die rechtliche Anerkennung.

1990: Jehovas Zeugen erlangen erneut die rechtliche Anerkennung.

1994: Ernennung von 100 Sonderpionieren auf Zeit. Weitere Ernennungen folgen.

1998: Der Wirbelsturm Mitch bricht über Mittelamerika herein und fordert in Nicaragua 4 000 Opfer.

2000

2002: In Nicaragua sind 16 676 Verkündiger tätig.

[Übersicht]

(Siehe gedruckte Ausgabe)

Gesamtzahl der Verkündiger

Gesamtzahl der Pioniere

20 000

15 000

10 000

5 000

1950 1975 2000

[Karten auf Seite 73]

(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

HONDURAS

NICARAGUA

Matagalpa

León

MANAGUA

Masaya

Jinotepe

Granada

Nicaraguasee

Insel Ometepe

Landenge von Rivas

Rio San Juan

Bluefields

COSTA RICA

[Ganzseitiges Bild auf Seite 66]

[Bild auf Seite 70]

Oben: Francis (links) und William Wallace und ihre Schwester Jane

[Bild auf Seite 70]

Unten (hintere Reihe, von oben nach unten): Wilbert Geiselman, Harold Duncan und Francis Wallace; (vordere Reihe, von oben nach unten): Blanche Casey, Eugene Call, Ann Geiselman, Jane Wallace und Evelyn Duncan

[Bilder auf Seite 71]

Oben: Adelina und Arnoldo Castro,

rechts: Dora und Evaristo Sánchez

[Bild auf Seite 76]

Doris Niehoff

[Bild auf Seite 76]

Sydney und Phyllis Porter

[Bild auf Seite 79]

Agustín Sequeira war der erste Verkündiger in Matagalpa

[Bild auf Seite 82]

María Elsa

[Bild auf Seite 82]

Gilberto Solís und seine Frau María Cecilia

[Bilder auf Seite 87]

Ein Erdbeben verwüstete 1972 Managua

[Bild auf Seite 90]

Andrew und Miriam Reed

[Bild auf Seite 90]

Ruby und Kevin Block

[Bild auf Seite 92]

Eine Farm diente als Versammlungsstätte für den Bezirkskongress „Loyale Unterstützer des Königreiches“

[Bilder auf Seite 95]

Missionare, die 1982 ausgewiesen wurden

[Bild auf Seite 109]

Brüder, die während des Verbots mit dem „Hahn“, der „Henne“ und dem „Hähnchen“ Literatur vervielfältigten

[Bild auf Seite 110]

Mutig stellt Elda Sánchez Matrizen her

[Bild auf Seite 115]

Diese Schwestern hielten Wache und versorgten die Brüder, die Literatur herstellten, mit Mahlzeiten

[Bild auf Seite 126]

Vordere Reihe: Einige Brüder, die die Wahrheit im Gefängnis kennen lernten (von links nach rechts): J. López, A. Mendoza und O. Espinoza; hintere Reihe: Carlos Ayala und Julio Núñez, Älteste, die die Brüder im Gefängnis besuchten, um sie im Glauben zu stärken

[Bild auf Seite 133]

Dieses Haus diente als Zweigbüro, nachdem die Einschränkungen aufgehoben worden waren

[Bilder auf Seite 134]

Nach dem Wirbelsturm Mitch brachten freiwillige Helfer auf Fahrrädern Hilfsgüter zu den Betroffenen. Andere halfen beim Wiederaufbau von Königreichssälen und Häusern.

[Bild auf Seite 139]

In Banacruz, ein Ort in den Atlantikregionen, wird die gute Botschaft trotz schwieriger Bedingungen gepredigt

[Bild auf Seite 147]

Im Jahr 1999 wurde der Bezirkskongress „Gottes prophetisches Wort“ von 28 356 Personen besucht. Es war der erste Landeskongress seit 1978.

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Delegierte wurden Zeuge der größten Taufe in der Geschichte Nicaraguas — 784 Personen wurden untergetaucht

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Das Zweigkomitee zu Beginn des Jahres 2002 (von links nach rechts): Ian Hunter, Agustín Sequeira, Luis Antonio González und Lothar Mihank