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Moldawien

Moldawien

Moldawien

Moldawien ist ein fruchtbares Land. Es liegt östlich des großen Bogens der Karpaten und umfasst eine Fläche von 34 000 Quadratkilometern. Moldawien ist ein Land der Ebenen, tiefen Täler, Schluchten und bewaldeten Hänge. In diesen ganz unterschiedlichen Landschaften sind viele Tiere zu Hause wie Füchse, Wölfe, Hasen, Dachse, Rehe, Hermeline, Iltisse oder Wildschweine.

Der fette schwarze Boden und das meist milde Klima sorgen dafür, dass es Früchte, Getreide, Gemüse und andere landwirtschaftliche Erzeugnisse in Hülle und Fülle gibt. Eine ausreichende Be- und Entwässerung ist durch 2 200 natürliche Quellen und 3 000 Flüsse und Wasserläufe gewährleistet, die alle südwärts ins Schwarze Meer fließen. Der schnell fließende Dnjestr, der Hauptfluss, ist fast in der gesamten Republik schiffbar. Moldawien grenzt im Norden, Osten und Süden an die Ukraine und der Dnjestr bildet größtenteils die Grenze oder fließt parallel dazu. Der Pruth, ein Nebenfluss der Donau, ist im Westen der Grenzfluss zwischen Moldawien und Rumänien.

Moldawiens stürmische Geschichte

Das Land zwischen Dnjestr und Pruth — jahrhundertelang als Bessarabien und Moldau bekannt — war Teil eines wichtigen Landwegs nach Europa. Im ersten Jahrtausend v. u. Z. gehörte die Region zu Skythien. Später wurde sie teilweise vom Römischen Reich beherrscht. Zu der stürmischen Geschichte Moldawiens gehören auch die Völkerwanderungen, bei denen unter anderem Goten, Hunnen und Awaren das Land durchzogen. Im 13. und 14. Jahrhundert unterstand es der Goldenen Horde und im 16. Jahrhundert dem Osmanischen Reich. Die Türken traten im Vertrag von Bukarest 1812 die Herrschaft über Bessarabien und über halb Moldau an Russland ab; von nun an war die gesamte Region unter dem Namen Bessarabien bekannt.

Im Jahr 1918 schloss sich Bessarabien Rumänien an. 1940 fiel es vorübergehend an Russland, später wieder an Rumänien. 1944 wurde es schließlich von Russland zurückerobert. Zur Zeit der Sowjetunion war das Gebiet unter dem Namen Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik (Moldauische SSR) bekannt. Als der Sowjetkommunismus zusammenbrach, löste die Moldauische SSR die Verbindung zu Moskau und am 27. August 1991 wurde Moldawien eine unabhängige Republik. * Moldawiens Hauptstadt ist Chişinău, das frühere Kischinjow.

In den 60er Jahren wuchs die Bevölkerungszahl in Moldawien rasant an. Das legte sich in den 70er Jahren wieder und heute hat sich die Zahl bei rund 4,3 Millionen eingependelt. Viele Moldawier sind im Weinanbau beschäftigt, dem führenden Gewerbezweig. Drei Prozent des weltweit erzeugten Weines stammen aus Moldawien. Besonders in Russland und Osteuropa trinkt man sehr gern moldawischen Wein. (Siehe den Kasten auf Seite 71.) Moldawien ist aber um einen ganz hervorragenden Weinberg bereichert worden, einen Weinberg, der die beste Frucht überhaupt hervorbringt — den lieblichen Lobpreis Jehovas.

„Ein Weingarten schäumenden Weines!“

Durch den Propheten Jesaja ließ Jehova das geistige Israel als einen „Weingarten schäumenden Weines“ beschreiben. Wie vorhergesagt, hat dieser symbolische Weingarten ‘die Oberfläche des ertragfähigen Landes mit Ertrag gefüllt’, das heißt mit nahrhafter geistiger Speise (Jes. 27:2-6). Infolgedessen haben sich den Geistgesalbten Millionen „andere Schafe“ angeschlossen (Joh. 10:16).

Jehovas Volk in Moldawien freut sich überaus, zu der Erfüllung dieser wunderbaren Prophezeiung beizutragen. Dank des geistigen Fruchtertrags, den Jehovas Organisation ständig hervorbringt, kommt heute in Moldawien auf 229 Einwohner ein Verkündiger. Es gibt sogar ein Dorf, in dem jeder Vierte ein Zeuge Jehovas ist!

Wie wir aber noch sehen werden, ist dieses Wachstum nicht ohne feurige Prüfungen zustande gekommen. Fast siebzig Jahre lang war Gottes Volk verboten, wurde eingesperrt und verfolgt — erst unter der rumänischen Monarchie, dann unter dem Faschismus und dann unter dem Kommunismus. Trotzdem hat Jehova in Moldawien, wie auch sonst überall, seine Prophezeiungen über seinen geistigen „Weingarten schäumenden Weines“ wahr werden lassen. Durch Jesaja ließ er sagen: „Ich, Jehova, behüte ihn. Jeden Augenblick werde ich ihn tränken. Damit niemand seine Aufmerksamkeit gegen ihn wendet, werde ich ihn sogar Nacht und Tag behüten“ (Jes. 27:2, 3). Unsere Brüder in Moldawien sind echte Vorbilder des Mutes und des Glaubens! Wen könnte das, was sie erlebt haben, wohl ungerührt lassen? Bestimmt sind wir nach dem Lesen dieses Berichts noch entschlossener, weiter kostbare Frucht zum Lobpreis Jehovas zu tragen — ganz gleich, welche Steine der Widersacher Satan uns auch in den Weg legen mag.

Charles Taze Russell besichtigt das Feld

Ein buchstäblicher Weinstock trägt nicht gleich Frucht. Zunächst erscheinen winzig kleine Triebe, die erst später zu fruchttragenden Zweigen heranwachsen. Bei dem geistigen Wachstum in Moldawien war es ganz genauso. Nun interessiert uns, wie Jehova aus dem zarten Schössling einen robusten Weinstock machte, der heute in Moldawien viel Frucht trägt (1. Kor. 3:6). Wir drehen dazu die Zeit zurück bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Damals besuchte der Bibelforscher Charles Taze Russell das Land auf einer Europareise.

In der Septemberausgabe von Zion’s Watch Tower and Herald of Christ’s Presence von 1891 schrieb C. T. Russell, dass er einen jüdischen Rechtsanwalt zu Hause besucht hatte, der Christ war und Joseph Rabinowitsch hieß. Er erzählte: „Eines der interessantesten Erlebnisse bis jetzt war der Besuch bei Bruder Joseph Rabinowitsch im russischen Kischinjow [heute Chişinău, Moldawien]. Wir wurden von ihm und seiner ganzen Familie, die alle an den Herrn Jesus glauben, aufs Herzlichste willkommen geheißen. Wir merkten, dass er sich sehr gut mit den Lehren des TAGESANBRUCHS [die Bücherserie Millennium-Tages Anbruch] auskannte und diesen zutiefst zugeneigt war.“ Die beiden Männer waren in ihren biblischen Gesprächen in vielen Punkten der biblischen Lehre einer Meinung, was auch dadurch angedeutet wird, dass Bruder Russell seinen moldawischen Freund als „Bruder Rabinowitsch“ bezeichnete.

Bruder Rabinowitsch und seine Angehörigen waren mit Elan dabei, Juden zu helfen, Christus und die messianische Hoffnung anzunehmen — damals lebten allein in Chişinău über 50 000 Juden. Wie Bruder Russell schilderte, war an Bruder Rabinowitschs Haus und Büro ein neues, hochelegantes Anbetungshaus angeschlossen, das Platz für rund 125 Personen bot. Bruder Rabinowitsch besaß auch eine neue, handbetriebene Druckpresse, mit der er Flugblätter herstellte, deren Inhalt vor allem auf jüdisches Denken zugeschnitten war. Ungefähr sechs Jahre später, nämlich 1897, schrieb er Bruder Russell Folgendes: „Mein lieber Bruder Russell! Nun, wo sich das Jahr dem Ende zuneigt, muss ich dir einfach danken für den geistigen Genuss, den du mir bereitest durch deine geschätzte Zeitschrift ZION’S WATCH TOWER, welche ich regelmäßig erhalte. Für mich ist sie wie ein Handelsschiff, das geistige Speise von weit her heranbringt.“ Doch trotz der Liebe und des Eifers dieses jüdischen Mannes sollten erst noch dreißig Jahre vergehen, bis der Königreichssame in Moldawien Fuß fasste und die ersten Früchte eintrug (Mat. 13:1-8, 18-23).

Der Erste Weltkrieg — für viele eine große Ernüchterung

Die dramatischen politischen Umwälzungen in Europa während des Ersten Weltkriegs schufen einen fruchtbaren Boden für den Königreichssamen in Moldawien. Als der Große Krieg — wie man ihn damals nannte — zu Ende ging, löste Moldawien seine Verbindungen zu Russland, wo nun die Kommunisten an der Macht waren, und vereinigte sich mit Rumänien. Viele moldawische Soldaten, die die Schrecken des Kriegs erlebt hatten, kamen völlig ernüchtert nach Hause. Die meisten waren von klein auf eng mit der orthodoxen Kirche verbunden gewesen, fingen nun aber an, deren Lehren infrage zu stellen.

Ion Andronic, der 1919 in sein Heimatdorf Corjeuţi zurückkehrte, war so ein Mensch. Geweckt worden war sein Interesse an der Bibel durch Gespräche, die er als Kriegsgefangener mit Adventisten und Baptisten gehabt hatte. Aus dem Gefangenenlager brachte er eine Bibel mit nach Hause und er sprach mit seiner Familie und seinen Nachbarn über die Botschaft. Dadurch weckte er auch ihr Interesse.

Ilie Groza war einer dieser Nachbarn. Die Kriegszeit hatte er in den Vereinigten Staaten verbracht und war dann mit einem Neuen Testament heimgekommen, das er während seiner Reisen erworben hatte. Die benachbarten Familien Andronic und Groza kannten sich gut und fingen an, zusammen Gottes Wort zu lesen und darüber zu sprechen. Sie erwarben auch Literatur der Bibelforscher, wie man Jehovas Zeugen damals nannte.

Ilie Grozas Tochter Ioana erinnert sich: „Ich war wohl erst so sechs Jahre alt, als unsere Familie zum ersten Mal Publikationen bekam, die von den Bibelforschern stammten. Ich weiß nicht mehr genau, von wem wir die Literatur hatten, aber ich weiß noch, wie sich meine Eltern und meine älteren Geschwister sehr lebhaft über die deutlichen biblischen Erklärungen dieser Schriften unterhielten.“

Später hat sich Ion Andronic Jehova dann doch nicht hingegeben. Aber seine Angehörigen taten es und auch die meisten der Familie Groza. Ioana weiß zu berichten: „Zuerst waren die Zusammenkünfte eine reine Familiensache. Meine Eltern hatten vier Töchter und die Andronics hatten Töchter und Söhne. Da dauerte es denn auch nicht lange, und Vasile Andronic und meine Schwester Feodolina verliebten sich ineinander und heirateten.

Schon bald stießen auch Tudor und Daria Groza, entfernte Verwandte von uns, zu unserer Bibelstudiengruppe. Tudor forschte mit besonders großer Begeisterung in der Bibel. Er fuhr sogar zum Zweigbüro nach Cluj-Napoca in Rumänien, um sich Literatur zu holen und Antworten auf seine vielen biblischen Fragen zu bekommen. In späteren Jahren zeigte sich, dass er eine große geistige Stütze für unsere kleine Versammlung war.

Die Familie Iacuboi, auch aus unserer Gegend, nahm ebenfalls an den biblischen Gesprächsrunden in unserem Haus teil. Der Vater, Petru Iacuboi, hatte zuvor einem Mann Gastfreundschaft gewährt, der Bibeln vertrieb. Dieser Besucher hatte sein Interesse an der Bibel geweckt. Petru beschäftigte sich eine Zeit lang mit den Lehren der Baptisten, kam dann aber zu dem Schluss, dass die Wahrheit woanders zu finden sein müsse. Das war genau die Zeit, als er sich unserer Bibelstudiengruppe anschloss.

Das Neugelernte begeisterte uns so sehr, dass wir allen unseren Freunden und Verwandten, von denen viele in unserem Dorf und in Nachbardörfern wohnten, von der guten Botschaft vom Königreich erzählten.“

Aus einem Bericht in der Wachtturm-Ausgabe vom 15. Dezember 1921 geht hervor, wie schnell sich die Königreichsbotschaft in Moldawien verbreitete: „Von Bessarabien [wie Moldawien damals hieß] schreibt ein Bruder, welcher bis vor kurzem Adventistenprediger war: ‚Über 200 haben an diesem Ort, außer vielen benachbarten Orten ringsumher, die Wahrheit aufgenommen.‘ “

Anfang der 20er Jahre lernte Ilarion Bugaian, ein überzeugter Anhänger der orthodoxen Kirche, in dem Dorf Şirăuţi die Wahrheit kennen. Er diente Jehova treu bis zu seinem Tod. Ein Bibelforscher namens Moise Ciobanu kehrte aus Deutschland in die Stadt Bălţi zurück. Er hatte die Wahrheit im Ersten Weltkrieg kennen gelernt, während er in deutscher Gefangenschaft war. Schon bald gab es eine kleine Gruppe, aus der später die erste Versammlung in Bălţi wurde.

Zeugen aus Rumänien helfen aus

Zur Unterstützung der Neuen, die sich mit unseren Brüdern verbunden hatten, schickte der rumänische Zweig in den 20er Jahren befähigte Brüder nach Moldawien. Zu diesen frühen Evangeliumsverkündigern, die mithalfen, das Feld zu bebauen, gehörte Vasile Ciucaş aus Siebenbürgen. Er sprach Rumänisch und Ungarisch. Immer wenn Vasile die junge Versammlung in Corjeuţi besuchte, wohnte er bei Ilie Groza und seiner Familie. Ioana denkt nur zu gern an diese Zeit und sagt: „Ich war damals wohl so acht, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es war, wenn Bruder Ciucaş zu Besuch kam. Er war so ein lieber Bruder und wusste stets hochinteressante Geschichten zu erzählen. Da wollte keiner ins Bett! Meine Schwester und ich haben uns immer gestritten, wer neben ihm sitzen durfte.“

Die rumänischen Zeugen verbreiteten die gute Botschaft gemeinsam mit eifrigen einheimischen Verkündigern in den nahe gelegenen Dörfern. In Tabani zum Beispiel, das elf Kilometer von Corjeuţi entfernt liegt, erzählte Cazimir Cislinschii anderen von all dem Guten, das er aus der Bibel erfahren hatte. Cazimir hatte die Königreichsbotschaft gehört, als er in Rumänien in der Armee war. Einer der Ersten, die in Tabani auf Cazimirs Predigen positiv reagierten, war Dumitru Gorobeţ. Er war mit Feuereifer dabei. Dank dem Einsatz von Brüdern wie Dumitru gibt es heute in Tabani 475 Zeugen Jehovas, und das bei nur 3 270 Einwohnern.

Anfang der 20er Jahre bahnte sich die Königreichsbotschaft auch ihren Weg nach Caracuşeni, einem Dorf, das drei, vier Kilometer weit weg von Corjeuţi liegt. Zu den ersten Dorfbewohnern, die die Wahrheit annahmen, gehörte Vladimir Lungu. Er ließ sich 1927 taufen. Vladimir wurde wegen seines christlichen Glaubens schwer verfolgt. 2002 starb er in Treue. Im Lauf seines Lebens bekam er aus unmittelbarer Nähe mit, wie in seinem Dorf viele Menschen die Wahrheit annahmen, sodass dort heute jeder Vierte ein Zeuge Jehovas ist (Caracuşeni hat 4 200 Einwohner).

Alexandru Mikitkov, ein weiterer treuer Bruder, hörte 1929 zum ersten Mal von der Wahrheit, als er die rumänische Stadt Iaşi besuchte. Sein Sohn Ivan erzählt: „Als Vater in unser Heimatdorf zurückkam, fing er sofort an, die gute Botschaft zu predigen. Schon bald fanden bei uns daheim Zusammenkünfte statt.

Vater blieb auch mit dem Zweigbüro in Rumänien in Kontakt und von Zeit zu Zeit besuchten uns reife Brüder aus Rumänien. Im Jahr 1931 starb traurigerweise mein kleines Schwesterchen. Unser Besuch aus Rumänien, Bruder Vănica, kümmerte sich um die Trauerfeier. Da unsere Familie sehr bekannt war, kamen viele aus dem Dorf zur Beerdigung. Bruder Vănica gab ein hervorragendes Zeugnis und widerlegte dadurch das Gerücht, das die Geistlichkeit in Umlauf gebracht hatte, die Bibelforscher würden keine würdigen Beerdigungen abhalten. Doch vor allem wurde durch seine Ansprache, in der er die Hoffnung auf eine Auferstehung klar darlegte, in die Herzen einiger Anwesender der vortreffliche Same gepflanzt. Es dauerte gar nicht lange, bis sie sich ebenfalls entschieden auf die Seite der biblischen Wahrheit stellten.

Die geistige Stärkung durch Bruder Vănica wirkte sich auch nachhaltig auf unsere Familie aus. Mein älterer Bruder Dumitru zum Beispiel beschloss Kolporteur [Vollzeitprediger] zu werden. Da er unbedingt so vielen Menschen wie möglich helfen wollte, ging er schon bald von zu Hause fort und predigte in noch unberührten Gebieten Moldawiens. Unsere Familie unterstützte seine Entscheidung voll und ganz. Aber ich muss zugeben, dass ich meinen großen Bruder schmerzlich vermisste. Andererseits waren wir natürlich immer überglücklich, wenn er zu Besuch nach Hause kam und nur so übersprudelte von aufregenden Erlebnissen, die er im Gebiet gehabt hatte.“

Widerstand der Geistlichkeit wächst

Von Anfang an hatten sich orthodoxe Geistliche dem Predigen der guten Botschaft entgegengestellt. Richtig böse wurden sie jedoch, als sich ehemalige Mitglieder ihrer Kirche, die die Wahrheit kennen gelernt hatten, nicht mehr bekreuzigten und ihre kleinen Kinder nicht mehr taufen ließen.

Als Ioana Groza ungefähr zehn war, setzte der orthodoxe Dorfgeistliche sie unter Druck, in ihrem Glauben Zugeständnisse zu machen. Sie erinnert sich: „Mein Vater hatte uns Kindern erklärt, dass es unbiblisch ist, das Kreuzzeichen zu machen. Aber der Geistliche in der Schule bestand darauf, dass wir uns bekreuzigten. Ich hatte Angst vor ihm, aber ich wollte auch meinen Vater nicht verärgern. Also versteckte ich mich in einer Scheune, anstatt zur Schule zu gehen. Ein paar Tage später erfuhr mein Vater, dass ich nicht in der Schule gewesen war. Aber er schimpfte nicht mit mir, sondern fragte nett, warum ich denn nicht hingegangen sei. Als ich ihm von meiner Angst vor dem Geistlichen erzählte, nahm mich Vater an die Hand und marschierte mit mir schnurstracks zu ihm nach Hause.

Sehr entschieden sagte mein Vater zu dem Geistlichen: ‚Wären Sie der Ernährer meiner Tochter, dann wären Sie befugt, sie religiös anzuleiten. Da Sie aber genau das nicht sind, werden Sie sich nicht einmischen, wenn ich meinem Kind etwas beibringe.‘ Für den Rest meiner Schulzeit hatte ich dann erfreulicherweise Ruhe vor dem Geistlichen.“

Die einflussreichsten Männer einer Gemeinde waren in der Regel die Geistlichen. Wie die religiösen Führer zur Zeit Jesu nutzten sie diesen Einfluss, um den guten Ruf der Diener Jehovas zu schädigen, sodass ihre Schäfchen die Brüder entweder abwiesen oder Angst hatten, überhaupt mit ihnen zu reden. Mit Vorliebe nutzten die Geistlichen politische Feindseligkeiten aus. Damals waren die Leute zum Beispiel misstrauisch und fürchteten die Bolschewisten, die hinter der Grenze zur Sowjetunion „lauerten“. Orthodoxe Geistliche spielten das aus und unterstellten den Bibelforschern, sie würden sich aus politischen Motiven weigern, das Kreuzzeichen zu machen, da sie in Wirklichkeit Kommunisten seien.

Doch die Intrigen der Geistlichen gingen noch weiter. Sie missbrauchten ihre Macht sogar dazu, Regierungsbeamte zum Widerstand gegen Gottes Volk aufzuwiegeln, wie einst die Pharisäer und Schriftgelehrten zur Zeit Jesu (Joh. 18:28-30; 19:4-6, 12-16).

Von 1918 bis 1940 stand Moldawien unter der Herrschaft Rumäniens, das damals eine Monarchie war. Die rumänische Regierung setzte einen Kultusminister ein, der für religiöse Angelegenheiten zuständig war. Dieser Mann beugte sich religiöser Orthodoxie und arbeitete gegen das Werk der Bibelforscher. Er setzte alles daran, sie und ihre biblischen Schriften verbieten zu lassen. Die Anklage lautete — wie man sich vielleicht schon denken kann —, die Brüder würden mit den Bolschewisten gemeinsame Sache machen.

Diese offizielle Verachtung von Jehovas Volk führte zu einer Regierungsanweisung des Oberinspektors von Moldawien an einen bestimmten Polizeichef. Sie ist datiert vom 25. April 1925 und lautet: „Gemäß der polizeilichen Sicherheitsweisung Nr. 17274/925 dürfen wir Sie darüber in Kenntnis setzen, dass das Ministerium für innere Angelegenheiten entschieden hat, die Propaganda der ‚internationalen Bibelforscher‘ zu untersagen und dieser Einhalt zu gebieten. Und wir möchten, dass Sie die dafür notwendigen Schritte unternehmen.“

Was dieser Widerstand von offizieller Seite für unsere Brüder bedeutete, spiegelt sich in einem Bericht wider, den der rumänische Zweig am 17. Oktober 1927 an die Weltzentrale sandte. Kurz gesagt ging es in dem Bericht darum, dass die Versammlungszusammenkünfte überall aufgelöst und verboten und „Hunderte von Brüdern vor Militär- und Zivilgerichte gebracht“ worden waren. Außerdem hieß es in dem Bericht: „Im Sommer konnten nur vereinzelt Zusammenkünfte abgehalten werden, da die Versammlungen von der Geheimpolizei und der Polizei streng überwacht wurden und noch werden, und dies besonders in den Dörfern, wo die meisten Versammlungen sind. Die Zusammenkünfte wurden vorwiegend gut versteckt im Wald durchgeführt.

Von März an wurden auch die reisenden Aufseher in ihrer Tätigkeit beschnitten. In dem Monat erließ der Innenminister strikte, geheime Anweisungen, die Kolporteure zu suchen und diese ‚Propagandisten‘ allesamt einzusperren. Innerhalb kurzer Zeit waren fast alle Kolporteure im Gefängnis. Wenngleich weder wir noch die Brüder Furcht haben, da dem Werk in diesem Land von Anfang an Widerstand entgegengesetzt worden ist, versuchen sie diesmal jedoch derart ausgeklügelt, uns systematisch aufzureiben, dass wir uns kaum noch rühren können.“

Ende der 20er Jahre gab es nach wie vor mutige Menschen, Einzelpersonen und auch ganze Familien, die sich von der orthodoxen Kirche lösten und fest für die biblische Wahrheit Stellung bezogen. Das wird durch einen Brief deutlich, den ein Dorfgeistlicher im Jahr 1928 an seinen Oberen schrieb. Der Brief enthielt 43 Namen von Erwachsenen und Kindern der Gemeinde des Geistlichen in Şirăuţi. In dem Brief stand: „Anbei dürfen wir Ihnen eine Liste übergeben mit Namen von Anhängern der Sekte der ‚Bibelforscher‘. Ihnen ist trotz aller Bemühungen kein Erfolg beschieden und sie haben auch kein Gebetshaus. Stattdessen versammeln sie sich in Wohnungen.“

In Wirklichkeit wurde gerade durch diese Liste die Behauptung des Geistlichen, den Bibelforschern sei „kein Erfolg beschieden“, Lügen gestraft, denn die meisten der 43 erwähnten Personen hatten vorher zur orthodoxen Kirche gehört. Eins der erwähnten Kinder war Agripina Barbuţă. Heute ist sie in den Achtzigern und sie ist im Dienst Jehovas nach wie vor aktiv.

Als es schwierig wurde, öffentlich zu predigen, konzentrierten sich die Brüder darauf, informell Zeugnis zu geben, besonders den Verwandten. Damals war es ja üblich, viel Zeit mit seinen Verwandten zu verbringen. Die Brüder machten sich diesen Brauch zunutze, um von der guten Botschaft zu erzählen. Familienangehörigen kann man schließlich nicht gesetzlich verbieten, miteinander zu sprechen.

Bemühungen, das Predigtwerk zu legalisieren

Nachdem das Predigtwerk 1925 verboten worden war, sandten die Brüder aus dem rumänischen Zweigbüro in Cluj-Napoca einen fünfzigseitigen, maschinegeschriebenen Bericht an das Kultusministerium. Außer einer kurzen Erklärung unserer Lehren und Glaubensansichten enthielt das Schreiben einen offiziellen Antrag, das Verbot aufzuheben. Infolgedessen erhielt einer der Brüder im September 1927 dreimal eine Privataudienz beim Minister. Die letzte verließ er mit dem guten Gefühl, dass das Gesetz zugunsten der Religionsfreiheit geändert würde. Leider wurde der Antrag der Brüder dann doch abgelehnt. Man schmiedete weiterhin „Unheil durch Verordnung“, ja die Lage verschlimmerte sich sogar noch für Jehovas Volk (Ps. 94:20; Dan. 6:5-9). Wie ein offizielles Dokument vom 29. Mai 1932 besagte, war „jegliche Aktivität“ der Internationalen Bibelforscher „völlig untersagt“.

Doch dieser Angriff gegen Gottes Volk in Rumänien und Moldawien war durchaus keine geeinte, koordinierte Kampagne. Bis zu einem gewissen Grad trafen Lokalbehörden eigene Entscheidungen in Sachen Bibelforscher. Die Brüder wandten sich daher an die Beamten vor Ort, damit sie die gute Botschaft zumindest in ihrem lokalen Umfeld verteidigen und gesetzlich befestigen konnten (Phil. 1:7).

An manchen Orten trugen diese Anstrengungen Früchte, so zum Beispiel in Bukarest (Rumänien). Nachdem das Zweigbüro von Cluj-Napoca nach Bukarest verlegt worden war, erlangte man dort 1933 nach zähem Kampf schließlich die rechtliche Anerkennung für die Bibel- und Traktat-Gesellschaft der Zeugen Jehovas.

Interessanterweise waren einige hochrangige Richter mit den Einschränkungen, die Gottes Volk auferlegt worden waren, nicht einverstanden. Am 8. Mai 1935 entschied zum Beispiel das Berufungsgericht in Cluj-Napoca mutig, dass das Verbot der Zeugen Jehovas verfassungswidrig war. Man ging sogar noch weiter und sagte: „Die beschlagnahmten [von Jehovas Zeugen herausgegebenen] Broschüren fördern die Liebe zueinander und den Glauben an Gott und Christus. Daher ist die Behauptung, diese Broschüren hätten subversiven Charakter, nicht zutreffend. Sie stellen keine Gefahr für die Staatssicherheit dar.“

Die Stimme der Vernunft verhallt im Nichts

Doch im Großen und Ganzen änderte sich nicht viel an der Einstellung gegenüber unseren Brüdern. So schrieb beispielsweise der Chef des Sicherheitsbüros in Soroca (Moldawien) am 28. März 1934 an seinen Vorgesetzten, den Polizeiinspektor in Chişinău. Er beklagte, dass 1927 in einem Dorf in der Nähe von Soroca dieser Sekte zwar nur zwei Familien angehörten, diese aber weitere 33 Familien bekehrt hätten. Er schrieb, die Zeugen würden die Kirche und deren religiöse Traditionen und Gebräuche ablehnen und ihre eigenen Gottesdienste abhalten, anstatt die Dienste eines Geistlichen in Anspruch zu nehmen. Er schloss den Brief damit, dass die Zeugen weiterhin neue Anhänger werben, was eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung und für die Staatssicherheit darstelle.

Am 6. Mai 1937 baten die Brüder den Friedensrichter in genau diesem Bezirk schriftlich darum, Jehovas Zeugen von der Liste der illegalen Sekten zu streichen. Wie man das von offizieller Seite sah, wurde in einem Brief deutlich, den der oberste Verwaltungsbeamte des Bezirks von Soroca an den obersten Friedensrichter des gleichen Bezirks schrieb. Der Brief ist datiert vom 15. Juni 1937 und lautet: „Die Tätigkeit [der Zeugen Jehovas] ist durch das ... Kultusministerium verboten worden. Daher können wir ihrem Wunsch, von der Liste der [illegalen] Sekten gestrichen zu werden, nicht entsprechen, zumal sie sich nach wie vor für die Interessen der Sekte einsetzen.“

Diese feindselige Haltung wurde am 12. Juli 1939 durch das offizielle Mitteilungsblatt der Regierung Monitorul Oficial bestätigt, in dem es hieß, Jehovas Zeugen sowie irgendwelche legale Körperschaften, deren sie sich bedienen, seien „komplett verboten“. Wie bereits erwähnt, unterstand Moldawien damals Rumänien, das von der Monarchie und dem orthodoxen Glauben geprägt war. Leider gingen viele Regierungsbeamte in ihrem religiösen Fanatismus so weit, dass sie das Volk Jehovas schlimmer behandelten, als das Gesetz es vorschrieb.

Beamte werden brutal

Der lodernde Widerstand gegen das Predigtwerk wurde oftmals noch durch den religiösen Hass strenggläubiger orthodoxer Beamter geschürt. Das, was Dumitru Gorobeţ und Cazimir Cislinschii erlebten, zeigt dies deutlich. Dumitru und Cazimir hatten die biblische Wahrheit in Tabani kennen gelernt. Die beiden hatten hervorragende Eigenschaften und waren sehr eifrig im Dienst, sodass sie schnell bekannt waren und von ihren Brüdern gleich ins Herz geschlossen wurden. 1936 wurden sie verhaftet und zur Polizeistation in der Stadt Khotin gebracht (heute in der Ukraine).

Die Polizisten schlugen Dumitru und Cazimir grausam. Dann wollten sie sie dazu zwingen, das Kreuzzeichen zu machen. Aber die beiden Männer blieben fest, und das, obwohl sie weiter geschlagen wurden. Schließlich gab man es auf. Dumitru und Cazimir durften sogar wieder heim. Doch das war noch nicht das Ende der Prüfungen für diese beiden treuen Brüder. Sowohl unter der faschistischen als auch unter der kommunistischen Regierung ertrugen sie um der guten Botschaft willen viele weitere Härten. Dumitru starb Anfang 1976 in Tomsk (Russland). Cazimir starb im November 1990 in Moldawien.

In den 30er Jahren hatte der rumänische Zweig die Aufsicht über das Werk in Moldawien. Martin Magyarosi, der sich 1922 hatte taufen lassen, war damals der Zweigdiener. Er und sein Schwiegersohn Pamfil Albu waren liebevoll um die moldawischen Brüder besorgt, besonders angesichts der Prüfungen, die sie durchmachten. Um die Brüder zu ermuntern und zu stärken, besuchten sie viele Versammlungen im Norden Moldawiens. Es zeigte sich, dass diese Besuche wirklich gerade richtig kamen. Wieso? Weil Europa schon bald zum Dreh- und Angelpunkt des Zweiten Weltkriegs werden sollte. Und Moldawien — von vielen Ländern begehrt — wurde zum Spielball seiner stärkeren, feindlichen Nachbarn.

Europa durch den Zweiten Weltkrieg verwüstet

Am 23. August 1939 unterzeichneten die Sowjetunion und die nationalsozialistische Regierung Deutschlands einen Nichtangriffspakt. Eine Woche später, am 1. September 1939, marschierten deutsche Truppen in Polen ein und lösten damit den Zweiten Weltkrieg aus. Am 26. Juni 1940 forderte der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow die rumänische Regierung ultimativ auf, das Gebiet, das damals als Bessarabien bekannt war, bedingungslos an die Sowjetunion abzutreten. Rumänien kam dieser Forderung nach und zwei Tage später marschierten sowjetische Truppen in Moldawien ein. Im August 1940 wurde die Moldauische SSR ausgerufen, mit Chişinău als Hauptstadt.

Die Sowjets hatten allerdings nur kurze Zeit ihre Hand auf Moldawien liegen. Am 22. Juni 1941 verletzte Deutschland den Nichtangriffspakt von 1939 und marschierte in Russland ein. Diese Wende ausnutzend schlug sich Rumänien auf Deutschlands Seite und versuchte alles, um die Moldauische SSR den Sowjets wieder zu entreißen.

Der Plan ging auf und bis zum 26. Juli 1941 hatte die rumänische Armee die Russen bis zum Dnjestr zurückgedrängt. So wurde Moldawien nach gut einem Jahr sowjetischer Herrschaft wieder Rumänien einverleibt. Doch diesmal war es ein anderes Rumänien, eins, das seit September 1940 unter dem Militärdiktator Marschall Ion Antonescu stark nationalistisch geprägt wurde. Unter seinem Regime war niemand geduldet, der politisch neutral bleiben wollte, weil er loyal Gottes Königreich unterstützte.

Der faschistische Feuerofen

Antonescus faschistische Regierung versuchte schon bald in Zusammenarbeit mit Hitler und den Achsenmächten, Jehovas Zeugen in die Knie zu zwingen. Da ist zum Beispiel Bruder Anton Pântea. Er wurde 1919 geboren und lernte die Wahrheit als Teenager kennen. Voll Elan ging er von Haus zu Haus. Mehrere Male wollte man ihn zusammenschlagen. Mutig machte er jedoch sein Recht als rumänischer Staatsbürger geltend, über seinen Glauben zu sprechen. Dadurch gelang es ihm eine Zeit lang, Misshandlungen zu entgehen. Schließlich war es dann aber doch soweit. Faschistische Polizisten schleppten ihn zur Polizeiwache und schlugen ihn dort die ganze Nacht über. Dann ließen sie ihn überraschend frei. Heute ist Bruder Pântea 84 Jahre alt und noch immer entschlossen, Jehova treu zu bleiben.

Ein weiterer Bewahrer der Lauterkeit, Parfin Palamarciuc, lernte die biblische Wahrheit in Moldawien in den 20er Jahren kennen. Auch er wurde ein eifriger Verkündiger der guten Botschaft. Er war oft wochenlang von zu Hause fort, um in Städten und Dörfern zu predigen, von Cernăuţi bis Lwow in der Ukraine. Da sich Parfin weigerte zu den Waffen zu greifen, verhafteten ihn die Faschisten 1942 und stellten ihn vor das Kriegsgericht in Cernăuţi.

Sein Sohn Nicolae erzählt von den damaligen Ereignissen: „Das Kriegsgericht hatte insgesamt hundert Brüder zum Tode verurteilt. Das Urteil sollte umgehend vollstreckt werden. Die Offiziere versammelten alle Brüder und suchten die ersten zehn heraus, die erschossen werden sollten. Zunächst mussten diese Brüder jedoch ihr eigenes Grab schaufeln, während die anderen neunzig zusahen. Die Offiziere gaben den Brüdern dann noch eine letzte Chance, ihrem Glauben abzuschwören und der Armee beizutreten. Zwei Brüder machten dieses Zugeständnis, die anderen acht wurden erschossen. Dann stellten sie die nächsten zehn auf. Bevor diese erschossen wurden, mussten sie jedoch erst noch die Toten begraben.

Während die Brüder die Gräber zuschaufelten, erschien ein hoher Offizier. Er fragte, wie viele Zeugen Jehovas ihre Meinung geändert hätten. Als er hörte, dass es nur zwei waren, sagte er, wenn achtzig sterben müssten, damit man zwanzig in die Armee bekäme, dann wäre es einträglicher, die übrigen 92 in Arbeitslager zu schicken. Daraufhin wurden die Todesstrafen in 25 Jahre Zwangsarbeit umgewandelt. Doch kaum drei Jahre später wurden die Zeugen von den vorrückenden sowjetischen Truppen aus den rumänischen Arbeitslagern befreit. Mein Vater überlebte diese und viele weitere Torturen. Er blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1984 Jehova treu ergeben.“

Mit der orthodoxen Kirche nicht konform zu gehen — ein Verbrechen!

Vasile Gherman war jung verheiratet. Seine Frau hatte gerade ein Mädchen geboren, als die Faschisten ihn im Dezember 1942 verhafteten. Vasile wurde zweier „Verbrechen“ angeklagt: der Wehrdienstverweigerung und des Versäumnisses, seine Tochter orthodox taufen zu lassen. Er erzählt, was damals geschah: „Im Februar 1943 sollte mein Fall gemeinsam mit dem von 69 anderen treuen Brüdern vor ein Kriegsgericht in Cernăuţi kommen. Vor der eigentlichen Urteilsverkündung zwang man uns, der Hinrichtung von sechs Kriminellen zuzusehen. Daher waren wir sicher, dass wir die Nächsten auf der Liste waren, die die Todesstrafe erhalten würden.

Wir sprachen gemeinsam darüber und nahmen uns fest vor, im Glauben stark zu bleiben und alles daranzusetzen, das gesamte Gerichtsverfahren hindurch freudig zu bleiben. Mit Jehovas Hilfe gelang uns das auch. Als wir dann wie erwartet allesamt zum Tode verurteilt wurden, hatten wir wirklich das Gefühl, um der Gerechtigkeit willen zu leiden. Niemand von uns war entmutigt — sehr zum Verdruss unserer Feinde. Dann passierte etwas, womit niemand gerechnet hatte. Statt dass wir erschossen wurden, wandelte man das Urteil in 25 Jahre Zwangsarbeit im rumänischen Lager Aiud um. Aber auch dieses Urteil wurde nicht vollständig vollzogen, denn schon achtzehn Monate später, im August 1944, befreiten die vorrückenden sowjetischen Truppen das Lager.“

Im Jahr 1942 wurden ungefähr 800 Männer aus dem moldawischen Dorf Şirăuţi von den Faschisten zum Wehrdienst in Antonescus Armee eingezogen. Darunter waren auch einige Zeugen Jehovas, wie zum Beispiel Nicolae Anischevici. Er erzählt: „Zunächst ordneten die Polizisten an, dass wir an einer religiösen Zeremonie teilnahmen. Das lehnten wir ab. Auch weigerten wir uns zu den Waffen zu greifen. Daraufhin beschuldigten uns die Polizisten, Kommunisten zu sein, und nahmen uns fest. Bevor wir ins Gefängnis kamen, erhielten wir allerdings noch die Gelegenheit, vor versammelter Mannschaft den Grund für unsere neutrale Haltung zu erklären.

Am nächsten Tag wurden wir nach Briceni verlegt, dem Justizzentrum des Bezirks. Wir mussten uns ausziehen und man durchsuchte uns gründlich. Ein hochrangiger Militärgeistlicher befragte uns dann. Er behandelte uns freundlich und zeigte für unsere Gewissensentscheidung Verständnis. Auf sein Wort hin bekamen wir etwas zu essen. Außerdem hielt er schriftlich fest, dass unsere Weigerung, Waffen zu tragen, in unserem Glauben an Jesus begründet lag.

Von Briceni wurden wir zur Polizeistation nach Lipcani gebracht. Dort schlugen uns Polizisten erbarmungslos, bis es schon dunkel wurde. Dann steckten sie uns mit zwei weiteren Brüdern und — man staune — mit einer Frau in eine Zelle. Wie wir später merkten, war sie eine Spionin. Mehrere Tage wurden wir täglich geschlagen, bis ich schließlich nach Cernăuţi vor das Kriegsgericht gebracht wurde. Dort bekam ich einen Anwalt, was mir eine große Hilfe war. Doch ging es mir durch die Misshandlungen der Militärbehörden dermaßen schlecht, dass man dachte, ich würde sterben. Letztlich beschloss man, mich unverurteilt nach Hause zu schicken.“

Mutige Glaubensschwestern bewahren die Lauterkeit

Auch Schwestern bekamen den lodernden Zorn der Faschisten zu spüren. Eine von ihnen war Maria Gherman (nicht verwandt mit Vasile Gherman, aber aus der gleichen Versammlung). Maria wurde 1943 verhaftet und auf die Polizeiwache in Balasineşti gebracht. Sie erzählt: „Ich kam in Polizeigewahrsam, weil ich nicht in die orthodoxe Kirche gehen wollte. Erst brachten sie mich nach Lipcani in Moldawien und dann nach Cernăuţi in der Ukraine, wo ich verurteilt wurde.

Der Richter fragte mich, warum ich mich geweigert hatte, in die Kirche zu gehen. Ich sagte, dass ich einzig und allein Jehova anbete. Für dieses so genannte Verbrechen wurde ich zusammen mit zwanzig anderen Schwestern zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Einige von uns steckte man in eine winzige Zelle, die dann mit dreißig weiteren Zelleninsassen geteilt werden musste. Tagsüber wurde ich allerdings zu reichen Leuten geschickt, um im Haushalt zu helfen. Ich muss sagen: Diese Leute behandelten mich besser als die Gefängnisbeamten — zumindest bekam ich von ihnen etwas zu essen!

Mit der Zeit konnten wir Kontakt zu den Brüdern herstellen, die in einem anderen Gefängnistrakt untergebracht waren. Das war ein wahrer Segen, denn wir konnten ihnen helfen, an geistige Speise und auch an Lebensmittel heranzukommen.“

Wie viele andere moldawische Zeugen harrten diese Treuen unter dem Zorn der Faschisten aus. Doch das war nicht alles. Sie mussten sich danach einem weiteren stürmischen Angriff auf ihren Glauben stellen. Dieser kam vonseiten der nächsten Besatzungsmacht, dem kommunistischen Russland.

Die sowjetische Taktik — Deportation

Im Jahr 1944, als sich das Blatt gegen Deutschland gewendet hatte, wurde das Regime Antonescu von Kreisen der rumänischen Regierung unter der Führung von König Mihai I. gestürzt. Rumänien schwenkte daraufhin von den Achsenmächten zu Russland um. Im selben Jahr erlangten die vorrückenden sowjetischen Truppen wieder die Kontrolle über die Region und Moldawien wurde erneut als Moldauische SSR in die Sowjetunion integriert.

Zunächst ließen die moldawischen Kommunisten Jehovas Zeugen in Ruhe. Aber diese Atempause war nur von kurzer Dauer. Und so gab es um die christliche Neutralität, die sich unter anderem darin zeigte, dass die Zeugen nicht wählen gingen, schon bald erneut eine heftige Kontroverse. Für Neutralität war im sowjetischen System kein Platz. Die Regierung wollte dieses Problem dadurch lösen, dass sie Jehovas Zeugen und andere „unerwünschte Personen“ deportieren ließ. Damit begann man 1949.

In einem offiziellen Schreiben wurde „die Entscheidung vom Politbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei“ mitgeteilt, die alle betraf, die aus der Moldauischen SSR deportiert werden sollten. Zu diesen gehörten „ehemalige Grundbesitzer, einflussreiche Händler, aktive Helfershelfer der deutschen Besatzer, Personen, die mit den deutschen und rumänischen Polizeibeamten zusammengearbeitet haben, Mitglieder profaschistischer Parteien und Organisationen, Weißgardisten, Anhänger illegaler Sekten sowie die Familienangehörigen der genannten Elemente“. Sie alle wurden „auf unbestimmte Zeit“ nach Sibirien verbannt.

Eine zweite Deportationswelle begann 1951, doch diesmal zielte sie ausschließlich auf Jehovas Zeugen ab. Stalin ordnete diese Deportation, Operation „Nord“ genannt, höchstpersönlich an. Über 720 Familien von Zeugen Jehovas — rund 2 600 Menschen — wurden von Moldawien nach Tomsk verbannt, das rund 4 500 Kilometer entfernt im Westen Sibiriens liegt.

Die offizielle Weisung sah vor, dass den Menschen genügend Zeit eingeräumt werden müsse, um persönliches Eigentum in Ruhe zusammenzupacken, bevor sie zu den wartenden Zügen gebracht würden. Außerdem sollten die Eisenbahnwaggons „zur Beförderung von Menschen entsprechend hergerichtet sein“. Die Realität sah jedoch ganz anders aus.

Mitten in der Nacht wurden die Zeugen aus dem Schlaf gerissen. Bis zu acht Soldaten und Beamte erschienen jeweils bei einer Familie. Sie zeigten den Deportationsbefehl und dann blieben nur ein paar Stunden, um ein paar Habseligkeiten zusammenzupacken, bevor die Zeugen zu den wartenden Zügen gebracht wurden.

Die Eisenbahnwaggons waren in Wirklichkeit primitive Güterwagen. Bis zu vierzig Personen jedes Alters wurden in einem Güterwagen zusammengepfercht, und das für eine Fahrt, die zwei Wochen dauerte. Es gab weder Sitze noch irgendeinen Schutz gegen die Kälte. Die Toilette war einfach nur in einer Ecke ein Loch im Boden. Vor der Deportation sollten die Beamten vor Ort eigentlich das persönliche Eigentum jedes Einzelnen registrieren. Aber nur zu oft wurden dabei lediglich die Sachen aufgelistet, die wenig Wert hatten; wertvolle Gegenstände „verschwanden“ einfach.

Trotz all dieser Ungerechtigkeiten und unmenschlichen Härten ließen sich die Brüder aber niemals ihre christliche Freude nehmen. Wenn an Eisenbahnknotenpunkten die Güterzüge zusammenliefen, erklangen aus den einzelnen Güterwagen Königreichslieder. Die Brüder konnten sich also gegenseitig hören und wussten damit, dass sie nicht allein waren. Hunderte ihrer Glaubensbrüder wurden zur gleichen Zeit wie sie deportiert. Mit eigenen Augen und Ohren mitzuerleben wie auch die anderen selbst unter diesen schwierigen Umständen nicht die Freude verloren, das gab den Brüdern innere Kraft und es stärkte sie in ihrer Entschlossenheit, Jehova treu zu bleiben — komme, was da wolle (Jak. 1:2).

Ein nachahmenswerter Glaube

Auch Ivan Mikitkov ging nach Sibirien in die Verbannung. Er wurde gemeinsam mit anderen Zeugen Jehovas 1951 festgenommen und nach Tomsk deportiert. In der sibirischen Taiga wurde Ivan zum Holzfällen abkommandiert. Er musste zwar nicht in ein Arbeitslager, konnte sich aber dennoch nicht frei bewegen. Die Geheimpolizei beobachtete ihn auf Schritt und Tritt. Trotzdem gaben er und seine Glaubensbrüder Zeugnis, wann immer es nur ging.

Ivan erzählt: „In dieser neuen, schwierigen Umgebung teilten wir uns in Versammlungen auf. Wir stellten sogar unsere eigene Literatur her. Im Lauf der Zeit nahmen manche, denen wir gepredigt hatten, die Wahrheit an und ließen sich taufen. Doch schließlich erfuhren die Behörden davon und steckten einige von uns deshalb in ein Arbeitslager.

Pavel Dandara, Mina Goraş, Vasile Şarban und ich wurden zu zwölf Jahren Zwangsarbeit unter strenger Aufsicht verurteilt. Von diesen drakonischen Strafen erhoffte man sich, die Übrigen einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen. Doch ihre Rechnung ging nicht auf. Wohin man die Brüder auch brachte, sie predigten überall weiter. Nachdem ich die gesamte Strafe verbüßt hatte, wurde ich 1966 entlassen. Ich ging zurück nach Tomsk und blieb dort drei Jahre.

Im Jahr 1969 zog ich dann in das Donez-Steinkohlenbecken. Dort lernte ich Maria kennen, eine treue, fleißige Schwester, und wir heirateten. Dann wurde ich 1983 erneut festgenommen. Diesmal verurteilte man mich zu einer zweifachen Strafe — fünf Jahre Gefängnis plus fünf Jahre Verbannung. Damit fertig zu werden war verständlicherweise viel schwieriger für mich als bei meiner ersten Verurteilung, denn nun ließ ich Frau und Kind zurück. Und auch sie mussten viel durchmachen. Glücklicherweise brauchte ich nicht die gesamte Strafe verbüßen. Nachdem Michail Gorbatschow Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion geworden war, ließ man mich 1987 frei. Ich durfte zunächst in die Ukraine zurück und später auch nach Moldawien.

Als ich nach Bălţi zurückkehrte, der zweitgrößten Stadt Moldawiens, gab es dort drei Versammlungen mit 370 Verkündigern. Heute sind es über 1 700 Verkündiger in sechzehn Versammlungen!“

„Willst du wie Vasile enden?“

Lagerverwalter und Agenten des KGB (Geheimdienst der Sowjetunion) schmiedeten manchen sadistischen Plan, um die Brüder zu demoralisieren. Constantin Ivanovici Şobe erzählt, was seinem Großvater Constantin Şobe widerfuhr: „1952 verbüßte er seine Strafe in einem der Arbeitslager im Gebiet Tschita, östlich vom Baikalsee in Sibirien. Die Lagerverantwortlichen drohten, ihn und andere Zeugen Jehovas zu erschießen, falls sie ihrem Glauben nicht abschworen.

Die Brüder weigerten sich, Zugeständnisse zu machen, und wurden deshalb außerhalb des Lagers zusammengebracht, und zwar in der Nähe eines Waldrands. Es dämmerte schon, als die Beamten Großvaters besten Freund Vasile ein kleines Stück mit in den Wald nahmen. Sie verkündeten, dass er erschossen wird. Danach herrschte banges Warten. Plötzlich zerrissen Schüsse die Stille des Abends.

Die Wachen kamen zurück und eskortierten den Nächsten in den Wald — meinen Großvater. Nachdem sie eine kurze Strecke gelaufen waren, hielten sie bei einer Lichtung an. Mehrere Gräber waren ausgehoben und eins schon wieder zugeschaufelt. Der Kommandant zeigte genau auf dieses Grab und sagte zu meinem Großvater: ‚Willst du wie Vasile enden? Oder willst du als freier Mann zu deiner Familie zurück? Du hast die Wahl; ich gebe dir zwei Minuten.‘ Mein Großvater brauchte keine zwei Minuten, sondern erwiderte sofort: ‚Vasile, den Sie erschossen haben, kenne ich schon viele Jahre. Nach der Auferstehung werde ich mit ihm in der neuen Welt wieder vereint sein. Ich bin mir ganz sicher, dass ich in der neuen Welt leben werde, und zwar gemeinsam mit Vasile. Aber werden Sie da sein?‘

Mit dieser Antwort hatte der Offizier nicht gerechnet. Er brachte Großvater und die anderen zurück ins Lager. Wie sich herausstellte, musste mein Großvater nicht bis zur Auferstehung warten, um Vasile wiederzusehen. Es war alles nur fingiert gewesen — eine grausame Idee, mit der man unsere Brüder zermürben wollte.“

Mit kommunistischer Propaganda ins eigene Fleisch geschnitten

Um Hass und Misstrauen gegenüber Jehovas Zeugen zu schüren, stellten die Kommunisten Bücher, Broschüren und Filme her, in denen Gottes Volk verleumdet wurde. Zum Beispiel gab es eine Broschüre namens Doppelter Boden. Der Titel spielte auf die geheimen Fächer für Literatur an, die die Brüder in den Boden von Koffern und Taschen eingebaut hatten. Nicolai Voloşanovschi weiß noch genau, wie der Lagerkommandant ihn mithilfe dieser Broschüre vor den Mithäftlingen beschämen wollte.

Nicolai erzählt: „Der Lagerkommandant versammelte alle Häftlinge in einer der Baracken. Dann zitierte er Passagen aus Doppelter Boden, die Verleumdungen über mich persönlich enthielten. Als er fertig war, bat ich darum, ein paar Fragen stellen zu dürfen. Der Kommandant erlaubte mir das. Er meinte wohl, es sei d i e Chance für ihn, mich so richtig lächerlich zu machen.

Ich fragte den Lagerkommandanten, ob er sich noch daran erinnern könne, wie er mich das erste Mal befragt hatte, als ich neu im Arbeitslager angekommen war. Ja, das konnte er. Dann wollte ich wissen, ob er sich auch noch erinnern könne, welche Fragen er mir über mein Geburtsland und meine Staatsbürgerschaft gestellt hatte, als er meine Einweisungspapiere ausfüllte. Und wieder erinnerte er sich, ja er sagte den versammelten Häftlingen sogar genau, was ich geantwortet hatte. Dann bat ich ihn zu erzählen, was er danach ins Formular eingetragen hatte. Er räumte ein, er habe etwas ganz anderes eingetragen, als ich angegeben hatte. Darauf wandte ich mich an die Runde und sagte: ‚Seht ihr, genauso ist diese Broschüre zustande gekommen.‘ Die Häftlinge klatschten Beifall und der Kommandant verließ wütend den Ort des Geschehens.“

Der gemeine Versuch, die Brüder gegeneinander auszuspielen

In den 60er Jahren setzten frustrierte sowjetische Regierungsbeamte auf neue Methoden, um die Einheit von Jehovas Zeugen zu zerstören. In dem Buch The Sword and the Shield (1999 herausgegeben) werden einige der ehemaligen geheimen KGB-Dokumente aus Regierungsarchiven angeführt. Es heißt dort: „Im März 1959 wurde auf einer Konferenz von leitenden KGB-Beamten im Kampf gegen Jehovisten [Jehovas Zeugen] beschlossen, die richtige Strategie sei, die Repressionen aufrechtzuerhalten und an unterhöhlende Maßnahmen zu koppeln. Der KGB nahm sich vor, die Sektierer auseinander zu dividieren, zu demoralisieren und schlecht zu machen sowie die einflussreichsten ihrer Führer mithilfe von konstruierten Beschuldigungen hinter Gitter zu bringen.“

Zu den „unterhöhlenden Maßnahmen“ gehörte auch ein geschlossenes Vorgehen, um Misstrauen unter den Brüdern in der gesamten Sowjetunion zu säen. Der KGB setzte die böswilligen Gerüchte in Umlauf, eine ganze Reihe der Brüder in Schlüsselstellungen hätten begonnen, mit dem Staatssicherheitsdienst zusammenzuarbeiten. Die Lügen des KGB waren dermaßen geschickt getarnt, dass sich mit der Zeit viele Zeugen Jehovas fragten, wem sie eigentlich trauen konnten.

Ein weiterer übler Trick des KGB bestand darin, Spezialagenten als „aktive“ Zeugen Jehovas einzuschleusen, die sich bemühten, in der Organisation verantwortliche Stellungen zu übernehmen. Diese Spione hielten den KGB natürlich hervorragend über alles auf dem Laufenden. Außerdem versuchte der KGB, einige treue Zeugen mit großen Geldsummen zu bestechen.

Leider gelang es durch diese hinterhältigen Methoden teilweise, die Einheit der Brüder zu untergraben. Auch in Moldawien entstand dadurch eine Atmosphäre des Misstrauens. Einige Brüder sagten sich von der Organisation los und gründeten eine Splittergruppe, die als Opposition bekannt wurde.

Vorher war für die Brüder in der Sowjetunion stets klar gewesen, dass der Mitteilungskanal Jehovas seine Organisation mitsamt der geistigen Speise und den von ihr ernannten verantwortlichen Brüdern ist. Nun war man sich gar nicht mehr so sicher. Wie ließ sich die Lage wieder entwirren? Überraschenderweise gelang das den Brüdern mit der Hilfe der sowjetischen Regierung. Ja, genau die Leute, die die Brüder in diese Situation hineinmanövriert hatten, halfen ihnen da auch wieder heraus. Wie kam das?

Sie hatten den Geist Gottes nicht einkalkuliert

Anfang der 60er Jahre wurden viele „führende Brüder“ aus der gesamten Sowjetunion in ein Lager in der Republik Mordwinien gesteckt, rund 150 Kilometer von der westrussischen Stadt Saransk entfernt. Vorher waren diese Brüder meilenweit voneinander entfernt gewesen, was die Kommunikation oft behindert und Missverständnisse gefördert hatte. Doch jetzt waren sie alle zusammen: die Brüder, die zur so genannten Opposition gehörten, und die Brüder, die nicht dazugehörten. Nun standen sie sich also von Angesicht zu Angesicht gegenüber und konnten herausfinden, was wahr und was frei erfunden war. Was hatte die Behörden denn überhaupt auf die Idee gebracht, alle diese Brüder zusammenzubringen? Man hatte wohl gedacht, die Brüder würden aneinander geraten und man könne so den Stachel der Zwietracht noch tiefer in die Organisation hineintreiben. Das hatte man sich zwar raffiniert ausgedacht, aber man hatte dabei die Wirksamkeit des Geistes Jehovas nicht einkalkuliert (1. Kor. 14:33).

Einer der Brüder im Lager in Mordwinien war Gheorghe Gorobeţ. Er erzählt: „Kurz nachdem ich im Gefängnis angekommen war, kam ein Bruder dazu, der zur Opposition gehörte. Als er sah, dass sich die verantwortlichen Brüder noch immer in Haft befanden, war er verblüfft. Ihm war nämlich gesagt worden, wir wären alle frei wie der Wind und würden ein vom KGB finanziertes Leben im Luxus führen!“

Bruder Gorobeţ erzählt weiter: „Während meines ersten Gefängnisjahres waren mit mir mehr als 700 Personen aus religiösen Gründen eingesperrt, die meisten von ihnen Zeugen Jehovas. Wir arbeiteten alle zusammen in einer Fabrik und hatten Zeit, mit denen zu reden, die sich der Splittergruppe angeschlossen hatten. Daraufhin ließ sich in den Jahren 1960 und 1961 vieles klären. Schließlich schrieb das für die Sowjetunion zuständige Landeskomitee 1962 direkt aus dem Arbeitslager einen Brief, der an alle Versammlungen in der Sowjetunion ging. Dadurch konnte mit der Zeit viel von dem, was durch die Lügenkampagne des KGB angerichtet worden war, wieder gutgemacht werden.“

Den echten Mitteilungskanal identifizieren

Bruder Gorobeţ wurde im Juni 1964 aus dem Arbeitslager entlassen und kehrte sofort nach Moldawien zurück. Als er in Tabani ankam, merkte er, dass für viele der Zeugen dort die Frage noch nicht völlig geklärt war, wen Jehova denn nun gebraucht, um sein Volk mit Speise zu versorgen und es zu leiten. Eine Reihe von Brüdern las darum ausschließlich in der Bibel.

Es wurde daher ein Komitee aus drei reifen Brüdern ernannt, das die Sache klarstellen sollte. Als Erstes besuchten sie die Versammlungen im Norden Moldawiens, wo die meisten Zeugen Jehovas lebten. Die ungebrochene Treue, die diese und andere Aufseher trotz starker Verfolgung gezeigt hatten, überzeugte viele davon, dass Jehova noch immer dieselbe Organisation gebrauchte, durch die sie die Wahrheit überhaupt kennen gelernt hatten.

Wie dem KGB Ende der 60er Jahre klar wurde, konnten weder Verfolgung noch andere Taktiken das Predigtwerk aufhalten. Seine Reaktion wird in dem Buch The Sword and the Shield wie folgt beschrieben: „Die [KGB-]Zentrale war durch Berichte beunruhigt, dass selbst in Arbeitslagern ‚die Jehova-Führer ihrem feindlichen Glauben nicht abschworen und ihr Jehova-Werk selbst unter den Härten des Lagerlebens fortsetzten‘. Eine Konferenz von KGB-Beamten, die an der Operation gegen Jehovas Zeugen mitarbeiteten, wurde im November 1967 in ... [Chişinău] abgehalten, um über neue Maßnahmen ‚zur Abwehr des Feindeswerkes der Sektierer‘ und der ‚ideologischen Subversion‘ zu beraten.“

Schikane durch ehemalige Brüder

Leider gab es den einen oder anderen Zeugen Jehovas, der auf diese „neuen Maßnahmen“ hereinfiel und dem KGB direkt in die Hände spielte. Manche dieser Brüder waren der Habsucht oder der Menschenfurcht erlegen; bei anderen handelte es sich um ehemalige Brüder, die einen Hass auf die Zeugen hatten. Die Regierung bediente sich dieser Leute, um die Lauterkeit der treuen Brüder zu brechen. Brüder, die unter den schweren Bedingungen in Gefängnissen und Arbeitslagern ausgeharrt haben, sagen im Nachhinein, dass das Schlimmste, womit sie je konfrontiert wurden, die Schikanen der ehemaligen Brüder gewesen sind, von denen einige direkt abtrünnig geworden waren.

Viele Abtrünnige kamen aus den Reihen der bereits erwähnten Opposition. Zunächst hatten zu dieser Gruppe ja auch Brüder gehört, die einfach durcheinander waren wegen der falschen Behauptungen des KGB. Von denen, die sich Ende der 60er Jahre immer noch zur Opposition gehörig fühlten, zeigten einige allerdings die böse Einstellung des übel gesinnten Sklaven. Sie missachteten Jesu Warnung und begannen ihre „Mitsklaven zu schlagen“ (Mat. 24:48, 49).

Doch der gemeine Versuch, die Brüder gegeneinander auszuspielen, schlug trotz des anhaltenden Drucks des KGB und seiner Untergebenen fehl. Anfang der 60er Jahre, als treue Brüder damit begannen, das Werk in Moldawien wieder zu vereinen, gehörten dort die meisten noch der Opposition an. Bis 1972 waren jedoch die allermeisten wieder dazu übergegangen, loyal mit Jehovas Organisation zusammenzuarbeiten.

Ein Verfolger mit Sinn für gute Lektüre

Treue Brüder, die während der kommunistischen Zeit in Moldawien bleiben konnten, predigten nach besten Kräften weiter. Informell gaben sie Familienangehörigen, Freunden, Mitschülern und Arbeitskollegen Zeugnis. Dabei gingen sie aber vorsichtig vor, denn viele Parteifunktionäre in Moldawien waren regelrechte Fanatiker der kommunistischen Ideologie. Doch nicht alle Kommunisten verachteten Jehovas Zeugen.

Simeon Voloşanovschi erinnert sich: „Bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmte die Polizei viel von unserer Literatur und der verantwortliche Beamte listete diese säuberlich auf. Später kam er mit seiner Liste wieder und bat mich, die Angaben zu bestätigen. Beim Überprüfen fiel mir dann auf, dass e i n Wachtturm nicht aufgeführt war, nämlich die Ausgabe über die Familie und wie man sein Familienleben schöner gestalten kann. Ich hakte nach und ziemlich kleinlaut meinte der Beamte: ‚Ach so, ja, d i e habe ich mit nach Hause genommen und wir haben sie im Familienkreis gelesen.‘ Als ich fragte, ob ihm das gefallen habe, was er gelesen hatte, antwortete er: ‚Na und ob! Wir waren ganz begeistert.‘ “

Widerstand lässt nach — Wachstum hält an

In den 70er Jahren gab die kommunistische Regierung die Politik auf, Jehovas Volk einzusperren und in die Verbannung zu schicken. Es kam aber schon noch vor, dass Einzelne verhaftet und vor Gericht gestellt wurden, weil sie Zeugnis gegeben oder christliche Zusammenkünfte besucht hatten. Allerdings fielen die Strafen milder aus.

Im Jahr 1972 wurde in Moldawien wie überall die Ältestenschaft eingeführt. Gheorghe Gorobeţ erzählt von dieser Zeit: „Die Bruderschaft nahm diese Neuerung sehr gut auf. Man sah darin einen zusätzlichen Beweis dafür, dass Jehovas Geist wirksam war. Außerdem trugen die vielen neu ernannten Männer wesentlich dazu bei, dass die Brüder an Reife zunahmen und immer mehr Versammlungen hinzukamen.“

Bis dahin hatten die Brüder natürlich auch schon einiges an Erfahrung in puncto Predigtdienstorganisation und Drucken von biblischen Publikationen im Untergrund sammeln können. Als die Unterdrückung durch die Kommunisten begann, wurde die Literatur an zwei Orten in Moldawien vorbereitet, und in den Jahrzehnten der heftigen Verfolgung arbeitete man dort nur nachts. Wer dabei mithalf, musste ein Doppelleben führen — tagsüber galt es, einer ganz normalen Beschäftigung nachzugehen wie alle anderen auch, und nachts wurde dann bis in die frühen Morgenstunden Literatur für die Versammlungen hergestellt.

Doch das änderte sich, als der Widerstand nachließ und die Überwachung nicht mehr so streng war. Nun konnten die Brüder ihre Untergrund-Druckereien effizienter nutzen und noch mehr freiwillige Helfer dafür heranziehen. Dadurch steigerte sich natürlich die Produktion.

Auch drucktechnisch verbesserte sich die Lage für die Brüder. Zum Beispiel verwendeten sie spezielle Druckvorlagen, die man mit der Schreibmaschine anfertigen konnte. Auch bauten sie die Druckmaschinen so um, dass das Papier gleichzeitig auf beiden Seiten bedruckt werden konnte. Durch all diese Verbesserungen wurde die Produktion weiter tüchtig angekurbelt. Die Tage der handgeschriebenen Abschriften von Bibelstudienhilfsmitteln gehörten damit wohl endgültig der Vergangenheit an!

Nun, wo die Brüder mehr Literatur zur Verfügung hatten, konnten sie natürlich auch die Bibel intensiver studieren. Dadurch und durch eine verbesserte Kommunikation war es außerdem möglich, letzte Unklarheiten zu beseitigen, die noch aus der Zeit der Verwirrung unter den Brüdern stammten. Doch all diese Fortschritte waren nur ein kleiner Vorgeschmack auf bessere Zeiten, die Jehovas Volk in Moldawien noch bevorstanden.

Wahre Anbetung erlebt großen Aufschwung

Obwohl der Sowjetkommunismus auf dem Gipfel seiner Macht ein politischer und militärischer „Goliath“ war, ist es ihm doch nicht gelungen, die wahre Anbetung zu zertreten. Durch das Deportationsprogramm trugen die Sowjets sogar unabsichtlich dazu bei, die gute Botschaft bis in einige der ‘entferntesten Teile der Erde zu tragen’ (Apg. 1:8). Jehova hatte ja durch Jesaja verheißen: „Welche Waffe es auch immer sei, die gegen dich gebildet sein wird, sie wird keinen Erfolg haben ... Das ist der Erbbesitz der Knechte Jehovas, und ihre Gerechtigkeit ist von mir aus“ (Jes. 54:17). Diese Worte haben sich wirklich bewahrheitet!

Im Jahr 1985 gab es einen Regierungswechsel, der das Leben der Zeugen Jehovas in der Sowjetunion sehr erleichterte. Die Geheimpolizei ließ sie nicht mehr überwachen und es stand auch keine Strafe mehr auf den Besuch religiöser Zusammenkünfte. Die Brüder in Moldawien kamen zwar weiter nur im kleinen Kreis von höchstens zehn zusammen, aber wenn es besondere Anlässe wie Hochzeiten oder Beerdigungen gab, wurden auch schon mal kleine Kreiskongresse veranstaltet.

Einen riesigen Aufschwung erhielt das Predigtwerk dann, als im Sommer 1989 in Polen drei internationale Kongresse stattfanden. Es besuchten nämlich auch Hunderte von moldawischen Delegierten die Kongresse in Chorzów (in der Nähe von Kattowitz), Posen und Warschau. Was für ein Erlebnis! Diese treuen Brüder, die es immer gewohnt gewesen waren, sich nur heimlich in kleinen Gruppen zu treffen, waren zutiefst bewegt, mit einer großen internationalen Schar freudiger Zeugen zusammen zu sein und vereint Jehova anzubeten.

Im Jahr 1991 erlebten die Brüder in Moldawien eine weitere besondere Freude. Zum ersten Mal in der Geschichte des Werkes in diesem Land konnten sie in aller Öffentlichkeit Kreiskongresse abhalten. 1992 kam dann schon der nächste Meilenstein: der internationale Kongress in St. Petersburg. Diesen Kongress in Russland besuchten noch viel mehr moldawische Delegierte als die drei Kongresse in Polen 1989. Jehova hatte die Schleusen des Himmels tatsächlich weit geöffnet und seine loyalen, dankbaren Diener durften eine Segnung nach der anderen erleben.

Schulung für reisende Aufseher

Die größere Freiheit machte es auch möglich, dass das Landeskomitee der Sowjetunion in engerem Kontakt zu den reisenden Aufsehern stehen konnte. Im Dezember 1989 wurden diese reifen Männer, damals sechzig an der Zahl, nach Lwow (Ukraine) zur Schulung eingeladen. Alle, die dabei waren, hatten eins gemeinsam: Sie hatten unter Verfolgung ausgeharrt, zum Teil in Gefängnissen und Arbeitslagern. Deshalb verbrachten diese Brüder nun eine ganz besonders schöne, erbauliche Zeit miteinander. Viele von ihnen verband sogar schon vorher in den schwierigen Zeiten eine tiefe Freundschaft.

Vier der reisenden Aufseher in jener Klasse kamen aus Moldawien. Als sie nach Hause zurückkehrten, gaben sie all die guten Anregungen, die sie in Lwow erhalten hatten, an die Versammlungen weiter, besonders in puncto Predigtdienst. Beispielsweise rieten sie den Brüdern eindringlich, beim Predigen des Wortes Gottes nach wie vor mit Umsicht vorzugehen, auch wenn sie nun mehr Freiheit genossen (Mat. 10:16). Wieso war denn immer noch Vorsicht angebracht? Weil das Werk im Prinzip immer noch verboten war.

Königreichssäle dringend benötigt

Schon als das Predigtwerk in Moldawien Fuß fasste, war man sich bewusst, wie wichtig es ist, eigene Räumlichkeiten für die Zusammenkünfte zu haben. In einem Dorf, nämlich in Corjeuţi, bauten Bibelforscher sogar schon 1922 einen Saal, den sie aus eigener Tasche finanzierten. Er wurde „Versammlungshaus“ genannt und erfüllte jahrelang seinen Zweck.

Als sich dann Ende der 80er Jahre der Widerstand von offizieller Seite legte, gab es in vielen Städten und Dörfern Versammlungen mit mehreren Hundert Verkündigern. Diese kamen im kleinen Kreis in Wohnungen zusammen. War mit dem nachlassenden Widerstand auch die Zeit reif, Königreichssäle zu bauen? Um das herauszufinden, wandten sich die Brüder an diverse Dorfvorsteher.

Einige Beamte waren ausgesprochen kooperativ. So zum Beispiel in Feteşti, einem Dorf im Norden mit 3 150 Einwohnern. Im Januar 1990 sprachen die Brüder dort mit dem Bürgermeister und er sagte ihnen, dass sie in seinem Dorf das Werk als frei von Einschränkungen betrachten könnten. Die Brüder, vorsichtig wie sie waren, konnten das kaum glauben. Um sicherzugehen, baten sie ihn um Erlaubnis, das Haus eines Bruders so umzubauen, dass die Versammlung es als kleinen Königreichssaal benutzen könnte — und zwar für 185 Verkündiger!

Der Bürgermeister war damit einverstanden und die Brüder machten sich an die Arbeit. Allerdings hatten sie schon bald ein echtes Problem. Eine bestimmte Wand, die sie eigentlich abreißen wollten, war eine tragende Wand. Damit fand der Bau natürlich ein abruptes Ende. Was nun? Die Brüder beschlossen, noch einmal zum Bürgermeister zu gehen, und ihm das Problem zu schildern. Als dieser ihnen die Genehmigung für den Bau eines nagelneuen Königreichssaals gab, kannte die Begeisterung keine Grenzen! Die ganze Versammlung stürzte sich jetzt geradezu in die Arbeit. In nur 27 Tagen war der Saal fertig!

Um alle in dem neuen Königreichssaal unterzubringen, musste die Versammlung Feteşti geteilt werden. Viele von den neuen Verkündigern waren allerdings noch gar nicht getauft. Was lag da näher, als einfach eine Taufe mit in das Programm zur Bestimmungsübergabe einzubauen? Genau das machten die Brüder dann auch. Nach der Taufansprache gingen alle gemeinsam zu einem nahen Fluss, wo sich achtzig Personen zum Zeichen ihrer Hingabe an Jehova taufen ließen.

Natürlich gab es noch viele weitere Versammlungen, die auch dringend einen Königreichssaal benötigten. Die Brüder hatten schon Bilder von Königreichssälen in unseren Veröffentlichungen gesehen, und so manche Versammlung fand, dass man etwas in der Art auch bauen könnte. Die Brüder legten also ihre Ersparnisse zusammen und entfalteten dann unglaublich viel Initiative. Das waren keine Einzelfälle. In den Jahren 1990 bis 1995 errichteten die Brüder mehr als dreißig Königreichssäle — allesamt in Eigenregie gebaut und finanziert.

Einige der Königreichssäle wurden auch für Kreiskongresse genutzt. Allerdings waren diese Kongresse so gut besucht, dass viele keinen Platz bekamen und von draußen dem Programm zuhören mussten. Daher überlegte man, ob man einen Kongresssaal bauen solle. Und wieder schoben die Brüder die Sache nicht auf die lange Bank. 1992 bauten sie in nur drei Monaten den ersten Kongresssaal in Corjeuţi — einen Saal mit 800 Sitzplätzen. Schon im nächsten Jahr bauten Jehovas Zeugen, erneut in völliger Eigenregie, einen Kongresssaal mit 1 500 Plätzen in Feteşti.

Die Zeit für das Bauen hätte nicht besser gewählt werden können, denn Mitte der 90er Jahre kam es, bedingt durch politische Veränderungen und eine wirtschaftliche Talfahrt, zu einem schnellen Verfall der moldawischen Währung. Das Geld, mit dem man noch Anfang der 90er Jahre einen kompletten Königreichssaal bauen konnte, hätte ein paar Jahre später nicht einmal mehr für die Stühle gereicht!

Königreichssaalbauten im Süden des Landes

Im Gegensatz zum Norden Moldawiens gab es im Süden viel weniger Königreichssäle. Als das Werk in den 90er Jahren großen Aufschwung nahm, wurde es für viele neu gegründete Versammlungen im Süden wirklich problematisch, passende Räumlichkeiten für die Zusammenkünfte zu finden. Man war zwar schon auf Schulen ausgewichen, aber auch das Mieten solcher Räume wurde immer schwieriger.

Und wieder einmal kam Jehova den Brüdern durch seine Organisation zu Hilfe. Gerade zur rechten Zeit richtete die leitende Körperschaft einen Königreichssaalfonds ein. Er war für den Bau von Königreichssälen in Ländern wie Moldawien gedacht, wo die finanziellen Mittel der Versammlungen sehr begrenzt sind.

Die Brüder haben guten Gebrauch von diesen Mitteln gemacht. Die moldawische Hauptstadt Chişinău ist ein hervorragendes Beispiel dafür. 1999 gab es dort noch keinen einzigen Königreichssaal. Bis zum Juli 2002 standen schon zehn Säle. 30 von 37 Versammlungen hatten damit einen eigenen Königreichssaal; drei weitere Säle waren noch im Bau.

Endlich gesetzlich anerkannt!

Am 27. August 1991 wurde Moldawien eine unabhängige Republik. Das Verbot von Jehovas Zeugen stammte ja aus der Zeit des Sowjetregimes und war daher nicht länger rechtskräftig. Allerdings waren die Zeugen — zu der Zeit über 4 000 an der Zahl — noch nicht als religiöse Organisation eingetragen.

Das Büro in Moldawien erhielt von der leitenden Körperschaft Anleitung für das weitere Vorgehen. Umgehend wandte man sich dann an die zuständigen Regierungsstellen und beantragte die gesetzliche Anerkennung von Jehovas Zeugen. Die neue Verwaltung war dem Antrag gegenüber wohlgesinnt. Es dauerte zwar etwas, bis die nötigen Formalitäten erledigt waren, aber am 27. Juli 1994 ging das offizielle Dokument der gesetzlichen Einschreibung im Büro ein.

Das war ein denkwürdiger Tag für Jehovas Zeugen in Moldawien! Nachdem sie rund sechzig Jahre lang ausgeharrt hatten — unter Verbot, Haft und Verfolgung —, konnten sie Jehova nun frei anbeten und die gute Botschaft in aller Öffentlichkeit predigen. Sie konnten von nun an sogar eigene Bezirkskongresse abhalten. Und tatsächlich, im August 1994 — also in dem Monat nach ihrer Anerkennung — versammelten sich die Brüder in dem größten Stadion von Chişinău zum allerersten Bezirkskongress, der je in Moldawien stattfand. Es herrschte helle Begeisterung!

Das Bethel wird vergrößert

Bis zum Jahr 1995 war die Zahl der Königreichsverkündiger auf über 10 000 gestiegen. Es gab zwar ein kleines Büro in Chişinău, das sich um bestimmte Bereiche des Werkes in Moldawien kümmerte. Aber die Aufsicht über das Werk hatte das russische Zweigbüro, das immerhin rund 2 000 Kilometer entfernt lag. Der rumänische Zweig hingegen war nur 500 Kilometer entfernt und die meisten Moldawier sprachen sowieso Rumänisch. Rumänisch wurde sogar zur offiziellen Amtssprache erklärt. Nachdem die leitende Körperschaft all diese Faktoren abgewogen hatte, empfahl sie, der rumänische Zweig solle das Werk in Moldawien beaufsichtigen.

Inzwischen waren die Kapazitäten des Büros in Chişinău durch das ständige Wachstum fast schon überstrapaziert, denn das Büro war nichts anderes als eine kleine Wohnung. Es war eindeutig an der Zeit, eine Bethelfamilie zu gründen. Zu den ersten Bethelmitarbeitern gehörten Ion und Iulia Rusu. Bruder Rusu war von 1991 bis 1994 stellvertretender Kreisaufseher gewesen. Dann war da noch Gheorghe Gorobeţ, er war Bezirksaufseher gewesen, bevor er diese neue Aufgabe erhielt. Er wohnte außerhalb und pendelte täglich zum Bethel. Günther und Rosaria Matzura, die die 67. Klasse der Gileadschule besucht hatten, kamen am 1. Mai 1996 dazu. Vorher waren sie einige Jahre in Rumänien tätig gewesen.

Es gab immer mehr Verkündiger und eigentlich hätte man damit auch immer mehr Bethelmitarbeiter benötigt. Aber wohin mit ihnen? 1998 war das moldawische Bethelheim schon auf fünf Stadtwohnungen verteilt! So machte man sich auf die Suche nach einem passenden Grundstück, um darauf einen Bethelkomplex zu errichten. Die Behörden in Chişinău waren sehr entgegenkommend und boten den Brüdern ein 3 000 Quadratmeter großes Grundstück an — mitten im Herzen der Stadt. Dieses Angebot nahm man dankbar an. Vorausschauend wurde auch noch ein angrenzendes Grundstück gekauft.

Für den Rohbau wurde eine Firma unter Vertrag genommen. Den Rest erledigten „International Volunteers“ zusammen mit einheimischen Brüdern und Schwestern. Die Bauarbeiten begannen im September 1998 und nur vierzehn Monate später konnte die Bethelfamilie ihr neues Heim beziehen. Die Begeisterung war groß, denn nun waren endlich alle unter einem Dach.

Zum Programm der Bestimmungsübergabe des neuen Bethelkomplexes am 16. September 2000 kamen Gäste aus elf Ländern. Am nächsten Tag sprach Gerrit Lösch von der leitenden Körperschaft in einem Sportstadion zu über 10 000 Zuhörern. Jeder, der dabei war, spürte die herzliche Liebe, durch die das Volk Jehovas weltweit vereint ist.

Zurzeit gehören zur moldawischen Bethelfamilie 26 Mitarbeiter. Einige, wie David und Miriam Grozescu, dienen dort als Bethelmitarbeiter im Auslandsdienst. Andere, wie Enno Schlenzig, haben die Schule zur dienstamtlichen Weiterbildung besucht und danach eine Auslandszuteilung in Moldawien angenommen. Groß ist die Bethelfamilie zwar nicht gerade, aber das macht sie durch die vielen Nationalitäten wieder wett.

Erntearbeiter werden geschult

In den Jahrzehnten des Verbots und der Verfolgung wurde die gute Botschaft in Moldawien mit großer Umsicht und natürlich informell gepredigt. Doch nun war es an der Zeit, ganz frei in den Haus-zu-Haus-Dienst und in den Straßendienst zu gehen. Gehorsam machten sich die Brüder mit diesen Dienstzweigen vertraut. Der Straßendienst erfreute sich bald besonderer Beliebtheit. Als immer mehr den Dienst aufnahmen, galt es allerdings, darauf zu achten, nicht einseitig zu werden. Und so wurde dazu ermuntert, sich mehr auf den Haus-zu-Haus-Dienst zu konzentrieren — was die Brüder auch treu taten.

Dadurch wurde ihnen mehr als je zuvor bewusst, wie groß der Hunger der Menschen nach unverfälschter geistiger Speise war. Um dem gerecht zu werden, sorgte Jehovas Organisation dafür, dass die Versammlungen die Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! und andere Bibelstudienhilfsmittel sowohl in Rumänisch als auch in Russisch bekamen. Gleichzeitig strengten sich die Verkündiger sehr an, die Qualität ihres Dienstes zu steigern, indem sie die praktischen Vorschläge aus Unserem Königreichsdienst ausprobierten. Sie haben auch die fortschreitende Schulung durch die Theokratische Predigtdienstschule sehr effektiv genutzt.

Erfahrene, reife Brüder aus dem Ausland haben die moldawischen Brüder unterstützt, besonders was organisatorische Angelegenheiten angeht. So wie ein Spalier die Weinrebe stützt, wenn sie Frucht trägt, haben auch diese internationalen Helfer den Versammlungen Unterstützung und Stabilität gegeben.

Eine Zeit erstaunlich schnellen Wachstums

Die schnelle Zunahme an Jüngern in Moldawien lässt sich gut an der Hauptstadt Chişinău ausmachen. Dort leben ungefähr 662 000 Menschen. Im Januar 1991, also vor der gesetzlichen Anerkennung des Werkes, gab es in Chişinău nur zwei Versammlungen mit rund 350 Verkündigern. Bis zum Januar 2003 war die Zahl auf 37 Versammlungen mit mehr als 3 870 Verkündigern angewachsen! Eine Versammlung erlebte, wie innerhalb von einem Dreivierteljahr sage und schreibe 101 Neue den Dienst aufgenommen haben. Bei dieser rasanten Zunahme ist es nicht ungewöhnlich, dass Stadtversammlungen bereits nach etwa zwei Jahren geteilt werden.

Im August 1993 gab es in ganz Moldawien 6 551 Verkündiger. Bis zum März 2002 hatte sich die Zahl auf 18 425 vervielfacht — das entspricht einer 280-prozentigen Zunahme in neun Jahren! Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der allgemeinen Pioniere von 28 auf 1 232.

Vom Bürgermeister zum Pionier

Unter denen, die Jehova kennen gelernt haben, sind auch viele ehemalige Kommunisten. Manche von ihnen übten sogar politische Ämter aus. Zum Beispiel Valeriu Mârza; er war einmal stellvertretender Bürgermeister von Soroca, einer Stadt mit 39 000 Einwohnern. Wenn bei besonderen Anlässen Paraden abgenommen wurden, gehörte er stets zu den Ehrengästen auf der Tribüne, vor denen die Vorbeimarschierenden salutierten. Valeriu war also stadtbekannt.

Aber dann fing er an die Bibel zu studieren und ließ sich taufen. Wie reagierten die Leute, wenn er ihnen Zeugnis gab? „So gut wie jeder bat mich herein“, sagt Bruder Mârza. „Ich hatte einfach wunderbare Gelegenheiten zum Predigen. Unsere Stadt war ein ausgesprochen fruchtbares Gebiet für meine Frau und mich!“ Schon bald wurde Bruder Mârza zum Sonderpionier ernannt. Er war mit seiner Frau auch ein Jahr im Bethel und hat nun das Vorrecht, im Reisedienst unterwegs zu sein.

Pioniere kommen zu Hilfe

Das Verhältnis von Verkündigerzahl zur Einwohnerzahl in Moldawien gehört zu den besten Europas. Dennoch gibt es immer noch viele Dörfer und Kleinstädte, in denen keine Zeugen Jehovas leben. Wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage können die allerwenigsten Verkündiger oder Pioniere in Gebieten tätig sein, wo Hilfe nötig ist. Um sicherzugehen, dass die Menschen im gesamten Gebiet von der guten Botschaft hören, hat der rumänische Zweig fast fünfzig Sonderpioniere in Moldawien ernannt. Mehr als zwanzig dieser Pioniere haben außerdem von der Schule zur dienstamtlichen Weiterbildung profitiert, die sie in Rumänien, Russland oder in der Ukraine besuchten.

Diese hart arbeitenden Evangeliumsverkündiger erzielen ganz hervorragende Ergebnisse. Als zum Beispiel die Sonderpioniere Serghei und Oxana Zighel 1995 nach Căuşeni kamen, gab es dort nur eine Gruppe von fünfzehn Verkündigern. Die Zighels halfen den Brüdern, viele neue Bibelstudien einzurichten. Außerdem verbreiteten sie einen so freudigen Pioniergeist, dass sich ihnen viele weitere im Vollzeitdienst anschlossen. 2002 gab es in Căuşeni zwei Versammlungen mit 155 Verkündigern — eine zehnfache Zunahme in nur sieben Jahren! Inzwischen sind die Zighels im Kreisdienst und können so noch viel mehr Versammlungen unter die Arme greifen.

Ein freies, aber nicht unproblematisches Leben

Menschliche Regierungsformen sorgen immer für Probleme, ganz gleich welche Regierung gerade an der Macht ist. Unter der rumänischen Monarchie, der faschistischen Diktatur und der kommunistischen Herrschaft musste Jehovas Volk mit Widerstand vonseiten der Geistlichkeit, mit Verbot, Verfolgung und Deportation leben. Heute müssen Zeugen Jehovas, wie jeder andere auch, mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zurechtkommen. Nicht selten sind dadurch beide Eltern gezwungen, arbeiten zu gehen. Und oft ist es sehr schwer, überhaupt eine Arbeit zu finden.

Gleichzeitig nehmen Gewalt und Korruption immer mehr zu und Materialismus sowie Sittenverfall greifen um sich. Können Diener Jehovas es schaffen, diesen versteckten Anschlägen auf ihr Geistiggesinntsein Paroli zu bieten? O ja! Jehovas Volk weiß aus eigener Erfahrung, dass Jehova seine Loyalen niemals im Stich lässt, wenn sie sich bei Prüfungen und Versuchungen an ihn um Hilfe wenden (2. Tim. 3:1-5; Jak. 1:2-4).

Die Lage erinnert an das vierzehnte Kapitel der Offenbarung. Dort wird ja von zwei symbolischen Ernten gesprochen. Bei der einen Ernte geht es um den „Weinstock der Erde“, der, wie es für die letzten Tage vorausgesagt wurde, schlechte Früchte trägt (Offb. 14:17-20; Ps. 92:7). Schon bald wird dieser „Weinstock“ mitsamt seinen faulen Früchten entwurzelt und in die „große Kelter des Grimmes Gottes“ geworfen werden. Jehovas Diener sehnen diese Zeit sehnlichst herbei!

Bis das so weit ist, freuen sich gesalbte Christen und ihre Gefährten, dass es ihnen geistig an nichts fehlt. Ja, Jehovas „Weingarten schäumenden Weines“ wird nicht aufhören, eine Fülle gehaltvoller geistiger Speise hervorzubringen, und so schafähnliche Menschen anziehen. Warum ist sich Gottes Volk dessen sicher? Weil dieser kostbare Weingarten unter Jehovas Schutz steht (Jes. 27:2-4). Moldawien ist das beste Beispiel dafür! Die Maschen Satans, ob Verfolgung, Verbannung, Lügenpropaganda oder falsche Brüder, haben für Jehovas Diener zwar Not und Entbehrungen bedeutet, aber das Volk Gottes hat niemals klein beigegeben (Jes. 54:17).

Ja, „glücklich ist der Mann, der die Prüfung erduldet, denn nachdem er sich bewährt hat, wird er die Krone des Lebens empfangen, die Jehova denen verheißen hat, die ihn beständig lieben“ (Jak. 1:12). Diese kostbaren Worte muss man sich einfach einprägen! Worauf es wirklich ankommt, ist, dass jeder Einzelne Jehova beständig liebt, Prüfungen erduldet und fortwährend viel Frucht trägt. Die Geschichte der Zeugen Jehovas in Moldawien ist hierfür ein beredtes, ja ein nachahmenswertes Beispiel (Joh. 15:8).

[Fußnote]

^ Abs. 6 Der Name Moldawien steht in der Regel für Bessarabien und Moldau, es sei denn, aus dem Kontext geht etwas anderes hervor. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass die gegenwärtigen Grenzen Moldawiens nicht denen des alten Bessarabiens und Moldaus entsprechen. Ein Teil Bessarabiens liegt heute beispielsweise in der Ukraine und ein Teil Moldaus in Rumänien.

[Kasten/Bild auf Seite 71]

Der Weinkeller Russlands und Osteuropas

Moldawien ist ein ideales Weinanbaugebiet, denn die Sommer sind lang und schön warm und der Boden ist fruchtbar. So baut man hier auch schon seit vielen, vielen Hundert Jahren Wein an. Gegen Ende des 3. Jahrhunderts v. u. Z. gab es Verbindungen zu Griechenland und später im 2. Jahrhundert u. Z. zu Rom; das kurbelte den Weinanbau jeweils kräftig an.

Der Wein ist heute Moldawiens landwirtschaftliches Standbein. Die nahezu 130 Weinkellereien produzieren jährlich bis zu 140 Millionen Liter Wein. Rund 90 Prozent des Weins werden exportiert — 80 Prozent gehen nach Russland und 7 Prozent in die Ukraine.

[Kasten auf Seite 72]

Moldawien auf einen Blick

Landesnatur: Der mittlere und der nördliche Teil Moldawiens ist Waldgebiet mit fruchtbarem Hochland und Steppen. Der Süden besteht vor allem aus ackerbaulich genutzter Steppe.

Bevölkerung: Rund zwei Drittel sind Moldawier. Der Rest ist vorwiegend ukrainischer, russischer, gagausischer, bulgarischer oder jüdischer Abstammung (in dieser Reihenfolge). Die meisten Moldawier gehören der orthodoxen Ostkirche an.

Landessprache: Rumänisch ist die Amtssprache. Besonders in den Städten wird auch viel Russisch gesprochen, sodass Zweisprachigkeit üblich ist.

Existenzgrundlage: Die bedeutendsten Wirtschaftszweige sind die Landwirtschaft und die Nahrungsmittelverarbeitung. Der Industriesektor ist im Aufbau begriffen.

Nahrung: Unter anderem werden Wein, Weizen, Mais, Zuckerrüben und Sonnenblumen angebaut. Der Viehbestand setzt sich hauptsächlich aus Rindern, Milchkühen und Schweinen zusammen.

Klima: Die Temperaturen liegen in etwa zwischen minus 4 °C im Januar und 21 °C im Juli. Das Klima ist im Großen und Ganzen warm, auch die Winter sind verhältnismäßig mild. Der durchschnittliche Jahresniederschlag beträgt rund 50 Zentimeter.

[Kasten auf Seite 83-85]

Leuchtende Vorbilder für christliche Neutralität

George Vacarciuc: Bruder Vacarciuc wuchs in der Wahrheit auf. Im Dezember 1942 wurde er von den Faschisten zum Militärdienst einberufen. Er lehnte es ab, zu den Waffen zu greifen, und man sperrte ihn daraufhin sechzehn Tage lang in eine stockfinstere Zelle. Dort bekam er kaum etwas zu essen. Wieder wurde er vorgeladen und man versprach ihm, das Strafurteil — das man noch gar nicht offiziell verlesen hatte — aufzuheben, wenn er Soldat werden würde. Erneut lehnte er dies ab.

Dafür wurde George zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Als am 25. September 1944 die sowjetischen Truppen eintrafen, kam er frei. Doch es dauerte keine zwei Monate, bis die Sowjets ihn einberiefen. Da er seinem biblisch geschulten Gewissen nicht zuwiderhandeln wollte, wurde er zu zehn Jahren Zwangsarbeit in verschiedenen Lagern verurteilt. Ein Jahr lang wussten seine Angehörigen nicht, was aus ihm geworden war. Nach fünf Jahren wurde Bruder Vacarciuc am 5. Dezember 1949 aus dem Arbeitsdienst entlassen. Er kehrte nach Hause nach Corjeuţi zurück und blieb bis zu seinem Tod am 12. März 1980 ein treuer Christ.

Parfin Goreacioc: Bruder Goreacioc wurde 1900 geboren. In dem Dorf Hlina lernte er die biblische Wahrheit in den Jahren 1925 bis 1927 kennen. Vermittelt wurde sie ihm und seinen Brüdern Nicolae und Ion von Damian und Alexandru Roşu, den ersten Bibelforschern, die es in dem Dorf gab.

Im Jahr 1933 wurde Parfin zusammen mit anderen Zeugen Jehovas festgenommen und zur Vernehmung in die Stadt Khotin gebracht. Er erhielt eine Geldstrafe, weil er gepredigt hatte. 1939 veranlasste der Dorfpfarrer, dass man Parfin zur Polizeiwache in das Nachbardorf Ghilavăţ brachte. Dort band man ihn bäuchlings auf einer Holzpritsche fest und schlug ihm immer wieder auf die Fußsohlen.

Als die Faschisten an die Macht kamen, wurde Parfin wieder festgenommen und dann ins Gefängnis gesteckt. Noch im gleichen Jahr wurde er zwar von den Sowjets befreit, allerdings inhaftierte man ihn sofort wieder, als er den Militärdienst verweigerte. Man behielt ihn einige Monate im Gefängnis in Chişinău und ließ ihn dann frei.

Im Jahr 1947 verhafteten die Sowjets Parfin erneut. Diesmal verurteilte man ihn zu acht Jahren Verbannung, weil er das Königreich Gottes gepredigt hatte. 1951 wurden auch seine Kinder nach Sibirien verbannt. Dort kamen sie aber nicht zu ihrem Vater. Im Gegenteil, die Kinder sahen ihren Vater nie wieder, denn Parfin erkrankte schwer und starb 1953 in Treue.

Vasile Pădureţ: Bruder Pădureţ wurde 1920 in Corjeuţi geboren. Er lernte die Wahrheit 1941 in der Zeit des Faschismus kennen. Auch er hatte nicht nur unter den Faschisten, sondern auch unter den Sowjets viel durchzumachen. Letzteren erklärte er mutig: „Ich habe keine Bolschewisten erschossen und ich werde auch keine Faschisten töten.“

Wegen dieser biblisch begründeten Gewissensentscheidung wurde Vasile zu zehn Jahren sowjetisches Arbeitslager verurteilt. Man setzte die Strafe jedoch auf fünf Jahre herab, und am 5. August 1949 konnte er nach Hause zurück. Als er zum dritten Mal verhaftet wurde, hatte die Operation „Nord“ begonnen. Und so stiegen Vasile und seine Familie am 1. April 1951 in einen Güterzug, der sie nach Sibirien brachte. Nachdem sie dort ungefähr fünf Jahre zugebracht hatten, durften sie nach Corjeuţi in Moldawien zurück. Vasile diente Jehova treu bis zu seinem Tod am 6. Juli 2002, als dieser Bericht gerade vorbereitet wurde.

[Kasten/Bild auf Seite 89, 90]

„Um nichts in der Welt würde ich mein Leben im Dienst Jehovas eintauschen“

Ion Sava Ursoi

Geburtsjahr: 1920

Taufe: 1943

Kurzporträt: Er war Kreisaufseher in der kommunistischen Ära.

Ich wurde in Caracuşeni in Moldawien geboren. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg lernte ich die Wahrheit kennen. 1942 starb meine Frau. Bei ihrer Beerdigung wurde ich von einer aufgebrachten Menge vom Friedhof gejagt. Warum? Weil ich meine Religion gewechselt hatte. Später in dem Jahr wollte man mich zum Wehrdienst einziehen. Da ich politisch neutral bleiben wollte, verweigerte ich den Wehrdienst. Ich wurde von der faschistischen Regierung zum Tode verurteilt, doch das Urteil wurde später in eine 25-jährige Haftstrafe umgewandelt. Für mich ging es nun von einem Lager ins andere. Als ich im Gefängnis in Craiova (Rumänien) war, kam die Sowjetarmee und befreite uns Häftlinge.

Kaum dass ich die Freiheit gekostet hatte, brachten mich die Kommunisten ins Gefängnis. Sie schickten mich nach Kalinin in Russland. Zwei Jahre danach, 1946, ließen sie mich in mein Heimatdorf zurückgehen. Ich half dort beim Wiederaufbau des Predigtwerks mit. Dann wurde ich erneut von den Sowjets verhaftet, und zwar 1951. Diesmal wurde ich gemeinsam mit vielen anderen Zeugen nach Sibirien deportiert. Erst 1969 kehrte ich von dort zurück.

Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, dann kann ich mich an viele Situationen erinnern, in denen Jehova mir die Kraft gab, meine Lauterkeit zu bewahren. Um nichts in der Welt würde ich mein Leben im Dienst Jehovas eintauschen. Heute machen mir mein Alter und meine schlechte Gesundheit zu schaffen. Aber die sichere Hoffnung auf ein Leben in der neuen Welt, in der mein Körper wieder seine Jugendkraft zurückerhält, bestärkt mich in dem Entschluss, ‘nicht nachzulassen, das zu tun, was vortrefflich ist’ (Galater 6:9).

[Kasten/Bild auf Seite 100-102]

Ich habe so viele Lieder in mir

Alexandra Cordon

Geburtsjahr: 1929

Taufe: 1957

Kurzporträt: Sie hat unter dem Sowjetregime viel gelitten und ist noch immer eine treue Verkündigerin.

Ich habe schon immer gern gesungen und dadurch die Wahrheit überhaupt erst kennen gelernt. Später, als mein Glaube geprüft wurde, half mir dann meine Liebe zum Singen, geistig stark zu bleiben. Es fing in den 40er Jahren an, als ich noch ein junges Mädchen war. Damals fand ich Anschluss an junge Leute in Corjeuţi, die in ihrer Freizeit gern Königreichslieder sangen und sich über die Bibel unterhielten. Die geistigen Wahrheiten, die ich durch die Gespräche und die Lieder kennen lernte, berührten mich sehr.

So verkündigte ich schon bald die gute Botschaft. Das führte dazu, dass man mich 1953 zusammen mit zehn anderen Zeugen verhaftete. Bis zur Gerichtsverhandlung war ich im Gefängnis in Chişinău. Meine geistige Kraft erhielt ich mir, indem ich Königreichslieder sang. Einer der Wärter ärgerte sich wohl darüber und sagte: „Sie sind hier im Gefängnis. Da singt man nicht!“

Ich antwortete: „Ich habe mein ganzes Leben lang gesungen. Warum sollte ich damit jetzt aufhören? Die Zellentür können sie verriegeln, nicht aber meinen Mund. Mein Herz ist frei und ich liebe Jehova. Deswegen habe ich so viele Lieder in mir.“

Ich wurde zu 25 Jahren Arbeitslager in Inta am nördlichen Polarkreis verurteilt. In den kurzen Sommermonaten arbeiteten die anderen Zeugen und ich in den Wäldern. Und wieder half uns das Singen der Königreichslieder, die viele von uns auswendig kannten, geistig stark zu bleiben und uns im Herzen frei zu fühlen. Zudem war es dort anders als in Chişinău: die Wärter ermunterten uns sogar zu singen.

In dem Lager in Inta blieb ich drei Jahre, drei Monate und drei Tage. Dann kam ich aufgrund einer Amnestie frei. Ich durfte aber noch nicht wieder nach Hause nach Moldawien. Und so ging ich nach Tomsk in Russland. Dort war ich wieder mit meinem Mann vereint, der ebenfalls im Gefängnis gewesen war. Vier Jahre hatten wir uns nicht gesehen.

Ich war verhaftet worden, noch bevor ich mich zum Zeichen meiner Hingabe an Jehova hatte taufen lassen können. So fragte ich nun die Brüder in Tomsk, was zu tun sei. Da sich auch noch einige andere taufen lassen wollten, arrangierten die Brüder prompt alles dafür. Wegen des Verbots sollte die Taufe allerdings besser nachts in einem See im nahen Wald stattfinden.

Als es so weit war, verließen wir den Stadtrand von Tomsk und gingen jeweils zu zweit in den Wald, um nicht groß aufzufallen. Jedes Paar sollte sich an das Paar vor ihm halten, bis alle sicher am See angekommen wären. So war es zumindest gedacht. Leider kamen die beiden älteren Schwestern, die vor meiner Partnerin und mir gingen, vom Weg ab. Wir folgten ihnen und die hinter uns folgten uns ebenfalls treu und brav, sodass wir schon bald zu zehnt im Dunkeln umherirrten. Das Unterholz hatte uns schnell bis auf die Haut durchnässt, und wir bibberten vor Kälte. In der Gegend gab es Bären und Wölfe, und der Gedanke daran ließ uns nicht mehr los. Das zerrte so stark an unseren Nerven, dass wir bei jedem unbekannten Geräusch zusammenfuhren.

Als mir bewusst wurde, wie wichtig es war, jetzt nicht in Panik zu geraten oder aufzugeben, schlug ich vor, ganz ruhig stehen zu bleiben und eine Königreichsmelodie zu pfeifen. Vielleicht würden die anderen uns ja hören. Außerdem beteten wir inbrünstig. Ihr könnt euch bestimmt vorstellen, wie froh wir waren, als uns der Wind in dunkler Nacht die gleiche Melodie zutrug. Ja, die Brüder hatten uns gehört! Rasch schalteten sie eine Taschenlampe an und so konnten wir sie gut finden. Kurz darauf wurden wir im eiskalten Wasser untergetaucht. Aber wir bemerkten die Kälte kaum, wir waren einfach nur glücklich.

Heute bin ich 74 und ich lebe wieder in Corjeuţi, wo ich die Wahrheit damals fand. Auch wenn ich älter geworden bin, so habe ich doch immer noch viele Lieder in mir, vor allem solche, durch die mein himmlischer Vater gepriesen wird.

[Kasten/Bilder auf Seite 104-106]

Ich wollte es meinen Eltern gleichtun

Vasile Ursu

Geburtsjahr: 1927

Taufe: 1941

Kurzporträt: Er war Versammlungsdiener und stellte im Untergrund Literatur her.

Meine Eltern Simeon und Maria Ursu ließen sich 1929 taufen. Ich war das älteste von fünf Kindern. In der Faschistenzeit wurden Vater und Mutter verhaftet und wegen ihrer neutralen Haltung zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Glaubensbrüder und -schwestern aus Corjeuţi versorgten uns Kinder und bestellten unseren Bauernhof. So hatten wir immer genug zu essen. Auch unsere Oma, die nicht in der Wahrheit war, hat sich mit um uns gekümmert. Damals war ich vierzehn.

Dank des guten Beispiels, das meine Eltern mir gegeben hatten, setzte ich mich sehr dafür ein, dass meine Geschwister geistig nicht zu kurz kamen. Deshalb mussten sie morgens immer früh raus, sodass wir zusammen noch einen Gedanken aus unserer biblischen Literatur besprechen konnten. Manchmal fiel es ihnen gar nicht leicht, aus dem Bett zu kommen, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig. Denn mir war klar, wie wichtig gute Studiengewohnheiten sind. Als unsere Eltern dann vorzeitig entlassen wurden und 1944 heimkamen, waren sie froh und dankbar, uns geistig rundum gesund zu sehen. Endlich wieder eine vereinte Familie — wir waren überglücklich! Doch dieses Glück hielt nicht lange an.

Schon im nächsten Jahr wurde Vater von den Sowjets verhaftet und nach Sibirien geschickt. Dort kam er ins Gefängnis von Norilsk, das über dem nördlichen Polarkreis liegt. Drei Jahre später heiratete ich Emilia, eine quirlige, geistig gesinnte Glaubensschwester. Wir waren praktisch zusammen aufgewachsen, daher kannte ich sie gut. Doch nur ein Jahr nach unserer Hochzeit wurde auch ich verhaftet, und zwar gemeinsam mit meiner Mutter. Man brachte uns nach Chişinău, wo wir zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurden. Liebevoll kümmerte sich Emilia um meine Geschwister, die nun ihrer Eltern und ihres großen Bruders beraubt waren.

Schließlich wurde ich zum Arbeiten in ein Kohlenbergwerk nach Workuta verschickt, einem berüchtigten Arbeitslager nördlich des Polarkreises. Zwei Jahre später, 1951, wurden Emilia, meine drei Brüder und meine Schwester in die Verbannung nach Tomsk im westlichen Sibirien geschickt. 1955 bat Emilia um eine Verlegung nach Workuta, damit sie bei mir sein konnte. Dort wurde unser erstes von drei Kindern geboren, ein Mädchen — wir nannten es Tamara.

Im September 1957 wurde eine Amnestie erlassen und wir kamen frei. Aber schon einen Monat danach wurde ich erneut verhaftet. Diesmal verurteilte man mich zu sieben Jahren Arbeitslager in Mordwinien, dicht bei Saransk (Russland). Dort waren schon viele Brüder interniert, und weitere sollten noch kommen. Immer wenn unsere Frauen uns besuchen kamen, schafften sie es, Literatur einzuschmuggeln. Das schätzten wir überaus. Im Dezember 1957 zog Emilia nach Kurgan im westlichen Sibirien, um sich um unsere Tochter zu kümmern, die bei Emilias Eltern geblieben war. Dadurch waren Emilia und ich sieben Jahre lang voneinander getrennt. Das war aber die einzige Möglichkeit, es Tamara zu ersparen, in eine staatliche Anstalt gesteckt zu werden.

Im Jahr 1964 wurde ich zwar freigelassen, durfte allerdings nicht nach Hause nach Moldawien zurück. Wenngleich ich noch ständig unter Beobachtung stand, gelang es mir, zu meiner Frau und meiner Tochter in Kurgan hinzukommen. In der Versammlung dort war ich Buchstudienleiter. 1969 zogen wir nach Krasnodar im Kaukasus. Nachdem wir dort acht Jahre tätig gewesen waren, zogen wir nach Tschirtschik in Usbekistan. Dort half ich, im Untergrund Literatur herzustellen. Letztlich erlaubte man uns 1984, nach Moldawien zurückzugehen. Wir ließen uns in Tighina nieder, einer Stadt, in der es bei 160 000 Einwohnern nur achtzehn Verkündiger gab. Im Lauf der Zeit ist diese kleine Gruppe auf neun Versammlungen angewachsen, in denen nahezu 1 000 Verkündiger und Pioniere tätig sind.

Tut es mir um die vielen Jahre Leid, die ich um des Herrn willen in Arbeitslagern und Gefängnissen zugebracht habe? Ganz und gar nicht! Mir war die Streitfrage bereits als frisch getaufter 14-Jähriger klar: Entweder du liebst Gott oder du liebst die Welt! Nachdem ich mich dafür entschieden hatte, Jehova zu dienen, verlor ich keinen Gedanken daran, Zugeständnisse zu machen (Jak. 4:4).

[Bilder]

Links: Vasile Ursu

Ganz links: Vasile und Emilia Ursu mit ihrer Tochter Tamara

[Kasten/Bilder auf Seite 108-110]

Ein kleiner Junge und seine Blume gingen mir zu Herzen

Valentina Cojocaru

Geburtsjahr: 1952

Taufe: 1997

Kurzporträt: Eine Kindergärtnerin, die unter dem sowjetischen Regime Kinder an den Atheismus heranführen wollte.

Im Jahr 1978 arbeitete ich als Kindergärtnerin in Feteşti in Moldawien. Ich war Atheistin. Bei einer Mitarbeiterbesprechung wurden wir angewiesen, uns auf die Kinder von Zeugen Jehovas zu konzentrieren, um ihnen irgendwie den Atheismus näher zu bringen. Ich hielt das für eine gute Idee. So versuchte ich mir etwas Kreatives auszudenken, womit ich an meine Zeugen-Jehovas-Kinder herankommen könnte. Mir fiel etwas ein, was meiner Meinung nach gut funktionieren müsste.

Ich bat die Klasse, zwei Blumenbeete anzulegen. In dem einen sollten sie Blumen pflanzen, gießen und Unkraut zupfen. Von dem anderen sollten sie die Finger lassen. Das Beet würde Gott gehören, so sagte ich ihnen. Er würde sich schon selbst um sein Beet kümmern. Die Kinder waren absolut begeistert von ihrer Aufgabe. Während sie in ihrem Beet fleißig pflanzten, gossen und Unkraut jäteten, wucherte es in „Gottes Gärtchen“ natürlich nur so von Unkraut.

An einem schönen sonnigen Tag versammelte ich alle Kinder vor den beiden Beeten. Ich lobte sie erst einmal für ihre gute Arbeit. Dann leitete ich alles für meinen sorgfältig ausgetüftelten Plan ein. Ich fragte: „Ist euch aufgefallen, dass Gott rein gar nichts für sein Blumenbeet getan hat? Das Beet kann doch eigentlich gar niemand gehören, oder?“

Die Kinder bejahten, dass es ganz danach aussehe. Dann ließ ich die Katze aus dem Sack: „Kinder, dieses Blumenbeet sieht so aus, weil es Gott nur in der Vorstellung der Menschen gibt. Wenn es also in Wirklichkeit gar keinen Gott gibt, wie soll er sich da wohl um Blumen, geschweige denn um irgendetwas anderes kümmern?“

Während ich das sagte, beobachtete ich die Kinder, denn ich wollte sehen, wie sie reagierten. Ein kleiner Junge, dessen Eltern Zeugen Jehovas waren, wurde immer unruhiger. Schließlich konnte er sich nicht länger zurückhalten. Er lief zu einem Feld in der Nähe, pflückte eine Butterblume, hielt sie mir hin und sagte: „Wenn es keinen Gott gibt, wer hat denn diese Blume wachsen lassen? Keiner von uns hat sich um sie gekümmert.“ Seine Logik war ein Schlag für mich. Tief im Innern war mir klar, dass dieses Kind ein starkes Argument gebracht hatte.

Bedingt durch meine kommunistisch geprägte Erziehung dauerte es aber noch Jahre, bis ich den nächsten Schritt unternahm, nämlich die Bibel zu untersuchen. Im Jahr 1995 bat ich dann tatsächlich Zeugen Jehovas am Ort um ein Studium. Stellt euch meine Freude vor, als ich erfuhr, dass einer meiner früheren Schüler nun einer meiner Lehrer war!

Das kommunistische System hat mir zugegebenermaßen eine gute weltliche Bildung ermöglicht, aber es hat versäumt, mich die wichtigsten Lektionen des Lebens zu lehren. Heute kann ich dank Jehova und einem kleinen mutigen Jungen sowohl mein biblisches als auch mein weltliches Wissen einbringen, um Menschen verstehen zu helfen, dass es Gott gibt und dass er sich um seine menschliche Schöpfung wirklich kümmert.

[Kasten/Bild auf Seite 113-115]

In der Verbannung geboren

Lidia Sevastian

Geburtsjahr: 1954

Taufe: 1995

Kurzporträt: Sie wuchs in einem religiös geteilten Haus auf und hatte später jahrelang keinen Kontakt mehr zu Zeugen Jehovas.

Meine Mutter und meine Großmutter wurden Anfang der 1940er Jahre Zeugen Jehovas. Mein Vater war ein guter Mann, auch wenn er damals die biblische Wahrheit nicht annahm. 1951 hatten meine Eltern bereits zwei Kinder und Mutter erwartete nun auch noch Zwillinge. Im April jenes Jahres versuchten die Behörden unsere Familie auseinander zu reißen. Als Vater auf der Arbeit war, verfrachteten sie meine — hochschwangere — Mutter und meine älteren Geschwister in einen Zug, der nach Sibirien gehen sollte. Mutter hatte es aber irgendwie geschafft, ihrem Mann noch rechtzeitig eine Nachricht zukommen zu lassen. Vater eilte heim und fuhr gemeinsam mit seiner Familie mit dem Zug in die Verbannung — und das, obwohl er selbst gar kein Zeuge Jehovas war.

Während der Fahrt nach Sibirien durfte meine Mutter in dem Ort Asino Zwischenstation machen und dort die Zwillinge zur Welt bringen. Der Rest der Familie musste bis zum Bezirk von Tomsk weiterfahren. Dort konnte Vater uns eine Unterkunft besorgen. Er wurde gemeinsam mit den Brüdern zum Arbeitseinsatz eingeteilt. Einige Wochen später kam Mutter mit den neugeborenen Zwillingen nach. Tragischerweise starben die Kleinen zufolge der unmenschlichen Lebensbedingungen, die dort herrschten.

Dennoch kamen noch weitere vier Kinder in der Verbannung zur Welt, darunter mein Zwillingsbruder und ich. Vater sorgte treu für uns. Schließlich durften wir 1957 in unser Heimatdorf zurück. Mutter pflanzte nach wie vor biblische Grundsätze in unser Herz, obwohl die Geheimpolizei sie beschatten ließ.

Vater wiederum legte vor allem Wert auf eine gute Bildung für seine Kinder. Mit sechzehn ging ich daher auf die Universität in Chişinău. Später heiratete ich und zog nach Kasachstan, wo ich nicht nur von meinen Eltern, sondern auch von Jehovas Organisation abgeschnitten lebte. 1982 kehrte ich nach Chişinău zurück und suchte sofort nach einer Versammlung, allerdings vergebens. Acht Jahre lang hatte ich das Gefühl, ich sei der einzige Mensch in der Stadt, der Jehova dienen wollte.

Eines Tages stand ich an einer Bushaltestelle und bekam mit, dass zwei Frauen neben mir über Jehova sprachen. Ich ging dichter an sie heran, um besser hören zu können, was sie sagten. Sofort wechselten sie das Thema, denn sie dachten, ich sei vom KGB. Als sie weggingen, folgte ich ihnen, was sie offensichtlich sehr erschreckte. Ich sprach sie daher schnell an und konnte sie nach einigem Hin und Her davon überzeugen, dass ich es ehrlich meinte. Endlich war ich wieder mit Jehovas Volk zusammen; davon hatte ich so lange geträumt. Leider reagierte mein Mann gegnerisch.

Damals hatten wir zwei Kinder. 1992 wurde ich an der Wirbelsäule operiert und musste ein halbes Jahr im Krankenhaus fest im Bett liegen. An diesem traurigen Punkt im Leben angekommen, geschah etwas Wunderbares: Mein Sohn Pavel bezog Stellung für Jehova und ließ sich 1993 auf dem internationalen Kongress in Kiew taufen. Mit der Zeit erholte ich mich so weit, dass ich wieder gehen konnte. Auch ich ließ mich zum Zeichen meiner Hingabe an Jehova taufen. Das war 1995.

Heute sind viele meiner Angehörigen in der Wahrheit. Dafür danke ich Jehova und auch meiner Mutter, deren beispielhafte Standhaftigkeit ich nie vergessen werde. Über meinen wunderbaren, treu sorgenden Vater kann ich voll Freude berichten, dass er vor seinem Tod noch ein Diener Jehovas geworden ist.

[Kasten/Bild auf Seite 117, 118]

Verglichen mit Jehovas Opfern waren unsere gar nicht so groß

Mihai Ursoi

Geburtsjahr: 1927

Taufe: 1945

Kurzporträt: Er wurde von den Faschisten und den Kommunisten verfolgt.

Im Jahr 1941 wurde ich ein Verkündiger der guten Botschaft. 1942 sollte ich bei uns an der Schule militärisch ausgebildet werden. Da war ich fünfzehn. In unserem Klassenzimmer hingen Bilder vom rumänischen König Mihai, von General Antonescu und von der Jungfrau Maria. Es wurde erwartet, dass wir uns vor den Bildern verbeugten und uns bekreuzigten, sobald wir den Raum betraten. Drei von uns weigerten sich, das zu tun.

Brutal schlugen uns Ortspolizisten deshalb zusammen. Wir verbrachten die Nacht in der Schule. Am Morgen schickte man uns nach Corjeuţi, wo wir wieder geschlagen wurden. Von Corjeuţi aus schleppte man uns noch zu einigen anderen Orten. Dann mussten wir 100 Kilometer zu Fuß zu einem Ort gehen, wo man uns vor ein Kriegsgericht stellen wollte. Bei diesem Marsch lief ich mir die Füße blutig. Schließlich wurde ich unverurteilt heimgeschickt, wohl weil ich noch so jung war.

Mit achtzehn wurde ich von den Sowjets einberufen. Erneut weigerte ich mich, bezüglich meiner Neutralität Zugeständnisse zu machen, und wurde dafür grausam geschlagen, ebenso wie mein Freund Gheorghe Nimenco. Er starb sechs Wochen später an den Folgen seiner Verletzungen. Mich schickte man wieder, wohl weil ich noch so jung war, nach Hause. 1947 verhafteten die Sowjets mich dann erneut. Diesmal drohten sie mir, mich zu erschießen, wenn ich den Militärdienst weiter verweigerte. Stattdessen steckten sie mich dann aber zwei Monate in Einzelhaft. Danach verschickte man mich als Zwangsarbeiter zum Bau des Wolga-Don-Kanals. Das war eine überaus gefährliche Arbeit, und viele kamen dabei ums Leben. Einmal wäre auch ich um ein Haar bei einem Unfall verletzt worden, bei dem es viele Tote gab. Danach schickte man mich zurück nach Moldawien.

Dort heiratete ich. 1951 wurden meine Frau Vera, die gerade schwanger war, und ich in die Verbannung geschickt. Zunächst fuhren wir mit dem Zug, dann mit dem Schiff. In der sibirischen Taiga, einem riesengroßen subarktischen Waldgebiet, musste ich fortan Holz fällen. Vera und ich wohnten in einer Hütte zusammen mit sechzehn anderen Familien. Glücklicherweise durften wir 1959 zurück nach Hause, nach Moldawien.

In all diesen schwierigen Jahren und auch danach bin ich durch vieles gestärkt worden. Da ist mein Bruder Ion zu nennen, der wegen seines Glaubens ein Vorbild für mich war. (Siehe Seite 89.) Man hatte ihn zum Tode verurteilt, und obwohl er nicht wusste, dass dieses Urteil umgewandelt werden würde, weigerte er sich, einen Kompromiss einzugehen. Es stärkt mich auch, darüber nachzudenken, wie Jehova immer für mich und später auch für meine Frau gesorgt hat, wenn wir Prüfungen um seines Namens willen durchmachten. Dennoch waren unsere Opfer, wenn man sie mit dem vergleicht, was Jehova für uns getan hat, gar nicht mehr so groß. Er sandte seinen Sohn, damit dieser als ein Loskaufsopfer für uns sterbe. Über die Größe dieses Opfers nachzudenken ist mir eine Hilfe, an jeden Tag freudig heranzugehen.

[Kasten/Bild auf Seite 121-123]

Jehova hat sich immer liebevoll um mich gekümmert

Mihailina Gheorghiţa

Geburtsjahr: 1930

Taufe: 1947

Kurzporträt: Sie hat in den Verbotsjahren als Kurier und Übersetzer gearbeitet.

Die Wahrheit habe ich 1945 kennen gelernt. Freudig erzählte ich anderen in meinem Heimatdorf Glodeni und in dem Nachbardorf Petrunea von der guten Botschaft. Da ich auch in der Schule Zeugnis gab, verweigerte mir die Schulbehörde ein Diplom. Mir kam meine Schulbildung aber sehr zugute, als es darum ging, biblische Publikationen aus dem Rumänischen und dem Ukrainischen ins Russische zu übersetzen.

Kurz nach meiner Taufe wurde ich beim Übersetzen erwischt. Man verurteilte mich zu 25 Jahren Zwangsarbeit in Workuta, das nördlich des Polarkreises liegt. Dort waren schon viele andere Schwestern. Trotz der widrigen Umstände predigten wir alle weiter. Irgendwie gelang es uns auch, Literatur zu bekommen. Zum Teil haben wir sie sogar für den Eigengebrauch im Lager selbst hergestellt.

Eines Tages traf ich eine junge Frau, die verhaftet worden war, weil man sie irrtümlicherweise für eine Zeugin Jehovas gehalten hatte. Ich schlug ihr vor, doch selbst einmal einen Blick in die Bibel zu werfen, um zu sehen, dass Jehova die Macht hat, sein Volk zu befreien, wenn dies seinem Vorsatz entspricht. Schließlich war sie mit einem Bibelstudium einverstanden und wurde unsere Schwester. Kurz darauf entließ man sie vorzeitig aus dem Lager.

Später wurde ich nach Karaganda in Kasachstan verlegt. Schließlich kam auch ich frei, das war am 5. Juli 1956. Ich zog nach Tomsk, wo ich Alexandru Gheorghiţa kennen lernte und später heiratete. Alexandru hatte sechs Jahre wegen seines Glaubens im Gefängnis verbracht. Wir predigten in dem riesigen Gebiet Sibiriens, wobei uns bewusst war, dass die Geheimpolizei uns noch immer beobachtete. Dann zogen wir nach Irkutsk, das westlich vom Baikalsee liegt, und stellten dort heimlich Literatur her. Später waren wir auch in Bischkek in Kirgisien tätig. Alexandru war beim Predigen zwar vorsichtig, wurde aber dennoch gefasst und zu zehn Jahren Haftstrafe verurteilt.

Der Staatsanwalt sagte, ich könne Alexandru im Gefängnis besuchen, während er dort auf die Verhandlung wartete. Da das normalerweise nicht erlaubt war, fragte ich ihn, wie es denn dazu käme. „Sie sind ein junges Paar“, so sagte er. „Und Sie haben ein Kind. Vielleicht überdenken Sie beide Ihre Entscheidung ja noch einmal.“ Ich sagte dem Staatsanwalt, dass Alexandru und ich uns schon vor langer Zeit entschieden hatten, Jehova zu dienen, und dass wir entschlossen waren, ihm treu zu bleiben. Daraufhin meinte er: „Steht nicht sogar in Ihrer Bibel, dass ein lebender Hund besser ist als ein toter Löwe?“ (Pred. 9:4). Ich sagte, das stimme zwar, aber die Art lebender Hund, die er meinte, würde Gottes neue Welt nicht erben.

Alexandru verbüßte die gesamte zehnjährige Haftstrafe und stand danach noch ein Jahr unter Hausarrest. Nach seiner Freilassung zogen wir nach Kasachstan und dann nach Usbekistan, um das Werk zu unterstützen. Schließlich kehrten wir 1983 nach Moldawien zurück, froh und dankbar, dass wir das unvergleichliche Vorrecht gehabt hatten, aufrichtigen Menschen an vielen verschiedenen Orten zu helfen, Jehova kennen zu lernen.

Wenn ich über mein Leben nachdenke, muss ich natürlich schon sagen, dass es nicht immer einfach war. Aber das Gleiche trifft auch auf viele andere Menschen zu, die keine Zeugen Jehovas waren. Auch sie mussten mit vielen Problemen fertig werden. Aber im Gegensatz zu ihnen haben wir um der guten Botschaft willen gelitten. Daher haben wir stets Jehovas liebevolle Fürsorge und seinen Schutz gespürt. Außerdem können wir über unsere Prüfungen hinaus einer herrlichen Zukunft entgegensehen, dem ewigen Leben.

[Übersicht auf Seite 80, 81]

MOLDAWIEN — EINIGE WICHTIGE ETAPPEN

1891: C. T. Russell besucht Kischinjow in Bessarabien (heute Chişinău, Moldawien).

1895

1921: Laut Jahresbericht haben bisher über 200 Menschen die biblische Wahrheit angenommen.

1922: Erstes „Versammlungshaus“ wird in Corjeuţi errichtet.

1925: Werk der Bibelforscher wird verboten.

1930

1940: Bessarabien wird von Rumänien an die UDSSR abgetreten und in Moldauische SSR umbenannt.

1941: Moldawien fällt wieder an Rumänien. Faschismus und Kriegshysterie führen zur Verfolgung von Jehovas Zeugen.

1944: UDSSR erobert Moldawien zurück. Verfolgung hält an.

1949: Sowjets beginnen mit der Deportation von Zeugen Jehovas und anderen.

1951: Auftakt zu Stalins Operation „Nord“.

1960er Jahre: KGB versucht Gottes Volk zu spalten und zu zerschlagen.

1965

1989: Jehovas Zeugen erleben größere Religionsfreiheit. Moldawische Delegierte besuchen Kongresse in Polen.

1991: Ende der Moldauischen SSR. Moldawien wird unabhängige Republik. Erste Kreiskongresse finden statt. Erste Zonenreise eines Repräsentanten der Weltzentrale nach Moldawien.

1994: Jehovas Zeugen erlangen die gesetzliche Anerkennung. In Chişinău wird der erste Bezirkskongress abgehalten.

2000

2000: Neues Bethelheim in Chişinău wird seiner Bestimmung übergeben.

2003: In Moldawien sind 18 473 Verkündiger tätig.

[Übersicht]

(Siehe gedruckte Ausgabe)

Gesamtzahl Verkündiger

Gesamtzahl Pioniere

20 000

10 000

1895 1930 1965 2000

[Karten auf Seite 73]

(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

UKRAINE

MOLDAWIEN

Briceni

Tabani

Lipcani

Şirăuţi

Corjeuţi

Ţaul

Feteşti

Soroca

Bălţi

Petrunea

CHIŞINĂU

Căuşeni

Dnjestr

Pruth

RUMÄNIEN

Iaşi

[Ganzseitiges Bild auf Seite 66]

[Bild auf Seite 74]

Ilie Groza war einer der ersten Zeugen Jehovas in Moldawien

[Bild auf Seite 75]

Tudor Groza

[Bild auf Seite 78]

Ioana Groza

[Bilder auf Seite 92]

Parfin Palamarciuc und sein Sohn Nicolae

[Bild auf Seite 93]

Vasile Gherman

[Bild auf Seite 94]

Nicolae Anischevici

[Bild auf Seite 95]

Maria Gherman

[Bilder auf Seite 96]

Güterwagen, mit denen die Zeugen nach Sibirien abtransportiert wurden

[Bild auf Seite 98]

Ivan Mikitkov

[Bild auf Seite 99]

Constantin Şobe

[Bilder auf Seite 107]

Nicolai Voloşanovschi und die Broschüre „Doppelter Boden“

[Bild auf Seite 111]

Gheorghe Gorobeţ

[Bild auf Seite 126]

Kongresssaal in Feteşti

[Bild auf Seite 131]

Das moldawische Landeskomitee (von links nach rechts): David Grozescu, Anatolie Cravciuc und Tiberiu Kovacs