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Ein gut gehütetes Geheimnis

Ein gut gehütetes Geheimnis

Ein gut gehütetes Geheimnis

„Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel in allen ihren Formen sind verboten“ (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte).

WER das nächste Mal Zucker in seinen Kaffee rührt, tut gut daran, einmal an Prevot zu denken, einen Haitianer, dem man einen guten Job in einem anderen karibischen Land versprochen hatte. Statt dessen wurde er für acht Dollar verkauft.

Prevot teilt das Los von Tausenden seiner versklavten Landsmänner, die gezwungen sind, für wenig oder gar kein Geld sechs oder sieben Monate lang Zuckerrohr zu schneiden. Sie werden in beengten, schmutzigen Unterkünften gefangengehalten. Nachdem man ihnen ihre ganze Habe abgenommen hat, drückt man ihnen Macheten in die Hand. Wollen sie etwas zum Essen haben, müssen sie arbeiten. Versuchen sie zu fliehen, riskieren sie, geschlagen zu werden.

Ein anderes Beispiel ist Lin-Lin, ein Mädchen aus Südostasien. Beim Tod ihrer Mutter war Lin-Lin 13 Jahre alt. Eine Arbeitsvermittlungsstelle kaufte sie ihrem Vater für 480 Dollar ab und versprach ihr einen guten Job. Der für sie gezahlte Preis wurde als „Vorschuß auf ihren Lohn“ betrachtet — ein sicheres Mittel, um sie für immer an ihre neuen Besitzer zu binden. Statt eine anständige Arbeit zu erhalten, wurde Lin-Lin in ein Bordell gebracht, wo die Kunden dem Besitzer für eine Stunde mit ihr 4 Dollar zahlen. Lin-Lin ist praktisch eine Gefangene, denn sie kann nicht weggehen, bevor sie ihre Schulden bezahlt hat. Darunter fallen auch die Kosten, die sie dem Bordellbesitzer verursacht, sowie Zinsen und eigene Ausgaben. Weigert sich Lin-Lin, die Wünsche ihres Arbeitgebers zu erfüllen, wird sie unter Umständen geschlagen oder gefoltert. Oder schlimmer noch: Versucht sie wegzulaufen, wird sie möglicherweise umgebracht.

Freiheit für alle?

Die meisten denken, daß Sklaverei heute nicht mehr existiert. Und in einem Großteil der Länder wurde sie nach zahlreichen Abkommen, Erklärungen und Gesetzen offiziell auch tatsächlich für abgeschafft erklärt. Abscheu vor Sklaverei wird überall vehement zum Ausdruck gebracht. Nationale Gesetze verbieten die Sklaverei, und internationale Urkunden dokumentieren ihre Abschaffung — insbesondere der oben zitierte Artikel 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948.

Dennoch lebt und floriert die Sklaverei, auch wenn sie für manche ein gut gehütetes Geheimnis ist. Von Phnom Penh bis Paris, von Mumbai bis Brasília sind Millionen unserer Mitmenschen — Männer, Frauen und Kinder — gezwungen, als Sklaven oder unter sklavenähnlichen Bedingungen zu leben und zu arbeiten. Die in London ansässige Anti-Slavery International, die älteste Organisation der Welt zur Kontrolle von Zwangsarbeit, setzt die Zahl der als Sklaven gehaltenen Menschen bei Hunderten von Millionen an. Möglicherweise gibt es heute sogar mehr Sklaven auf der Welt als je zuvor!

Freilich sind die gängigen Vorstellungen von Sklaverei wie Fesseln, Peitschen und Auktionen nicht typisch für moderne Formen der Sklaverei. Zwangsarbeit, Zwangsverheiratungen, Schuldknechtschaft, Kinderarbeit und oftmals Prostitution sind nur einige der markanteren Formen der heutigen Sklaverei. Sklaven können sein: Konkubinen, Kameltreiber, Zuckerrohrschnitter, Teppichweber oder Straßenbauer. Natürlich werden die allermeisten von ihnen nicht auf einer öffentlichen Auktion verkauft, aber sie sind eigentlich in keiner besseren Position als ihre Vorgänger. Mitunter verläuft ihr Leben sogar noch tragischer.

Wer wird Sklave? Wie wird er zum Sklaven? Was tut man, um diesen Menschen zu helfen? Ist eine völlige Abschaffung der Sklaverei in Sicht?

[Kasten/Bild auf Seite 4]

WAS IST MODERNE SKLAVEREI?

Diese Frage können selbst die Vereinten Nationen nach jahrelangem Engagement nur mit Mühe beantworten. Eine Definition des Begriffes Sklaverei wurde in der Sklavereikonvention aus dem Jahr 1926 formuliert, in der es hieß: „Sklaverei ist der Zustand oder die Stellung einer Person, an der die mit dem Eigentumsrechte verbundenen Befugnisse oder einzelne davon ausgeübt werden.“ Der Begriff ist jedoch dehnbar. Nach Ansicht der Journalistin Barbara Crossette ist „Sklaverei ein Stigma für die Situation der Niedriglohnarbeiter in der Bekleidungs- und Sportbekleidungsindustrie im Ausland und für Ausbeuterbetriebe in amerikanischen Städten. Damit soll die Sexindustrie und Gefängnisarbeit angeprangert werden.“

Nach Auffassung von Mike Dottridge, dem Direktor der Anti-Slavery International, „besteht die Gefahr, daß die Bedeutung des Wortes Sklaverei in dem Maße, wie die Sklaverei anscheinend neue Formen annimmt oder der Begriff im erweiterten Sinn angewandt wird, verwischt oder sogar geschmälert wird“. Seiner Meinung nach ist „Sklaverei durch ein Besitzverhältnis oder durch Kontrolle über das Leben eines anderen gekennzeichnet“. Das schließe die Ausübung von Zwang und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit ein — „jemand ist nicht frei, zu gehen oder seinen Arbeitgeber zu wechseln“.

A. M. Rosenthal schrieb in der New York Times: „Die Sklaven führen ein echtes Sklavendasein: Schwerstarbeit, Vergewaltigung, Hunger, Folter, totale Erniedrigung.“ Weiter meinte er: „Ein Sklave kostet fünfzig Dollar, es ist [den Besitzern] deshalb ziemlich gleichgültig, wie lange er lebt, bevor seine Leiche irgendwo in einen Fluß geworfen wird.“

[Bildnachweis]

Ricardo Funari