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Die Huntingtonsche Krankheit — Eine genetische Tragödie verstehen

Die Huntingtonsche Krankheit — Eine genetische Tragödie verstehen

Die Huntingtonsche Krankheit — Eine genetische Tragödie verstehen

„Als Johnny und ich heirateten, da habe ich wirklich geglaubt, wir würden für immer und ewig in Glück zusammenleben. Nach und nach machte dieser reizende, liebevolle Mann jedoch eine krasse Persönlichkeitsveränderung durch. Er bekam sogar unkontrollierte, heftige Wutanfälle. Nach einiger Zeit mußte er in eine psychiatrische Klinik eingeliefert werden, wo er schließlich starb. Jahre später erfuhren wir, daß dieses geheimnisvolle Leiden einen Namen hat: Huntingtonsche Krankheit“ (Janice).

WELTWEIT haben Tausende von Menschen die Huntingtonsche Krankheit (Chorea Huntington), eine genetische Störung des Zentralnervensystems. Da es sich um eine erbliche Krankheit handelt, ist in einer Familie oft mehr als einer davon betroffen. „Seit Johnnys Tod“, sagt Janice, „habe ich drei Söhne und eine Tochter durch die Huntingtonsche Krankheit verloren, und drei meiner Enkel haben sie auch. Es sieht so aus, als hätte ich kaum Zeit, über den Verlust eines Angehörigen zu trauern, schon ist es an der Zeit, den nächsten zu betrauern.“

Zu Recht ist diese Krankheit als der „reinste Alptraum“ beschrieben worden, nicht nur für den Erkrankten, sondern auch für diejenigen, die ihn umsorgen. * Worum handelt es sich bei der Huntingtonschen Krankheit? Wie kann den Erkrankten — und den Betreuern — geholfen werden?

Die Symptome

Die Huntingtonsche Krankheit, benannt nach Dr. George Huntington, der 1872 als erster die Symptome beschrieb, ist mit schwer deutbaren Persönlichkeitsveränderungen behaftet, die immer stärker zutage treten, je mehr die Krankheit fortschreitet. Diese reichen von Stimmungsschwankungen und Gereiztheit bis zu Depressionen und heftigen Wutanfällen. Der Kranke leidet womöglich auch unter unwillkürlichen Zuckungen und kann seine Hände und Füße nicht stillhalten. Die Koordination läßt nach, und er wird immer unbeholfener. Seine Aussprache wird undeutlich. Das Schlucken fällt ihm schwer, und sein Gedächtnis sowie seine Konzentrationsfähigkeit lassen nach. Lernen, Organisieren, Probleme lösen — einst für ihn reine Routine —, all das ist nun für ihn unsagbar schwer, wenn nicht unmöglich geworden. *

Der Erkrankte leidet für den Rest seines Lebens unter den Symptomen der Huntingtonschen Krankheit, und sie schreiten unaufhörlich fort. * Er muß zwangsläufig seine Arbeit aufgeben und ist nicht mehr in der Lage, sich selbst zu versorgen. Das ist oftmals ein schwerer Schlag für ihn. „Ich habe Häuser gebaut“, sagt Bill, ein Betroffener. „Jetzt tue ich rein nichts mehr und bin völlig frustriert.“

Ja, es kann für einen Huntington-Kranken niederschmetternd sein, den stetigen Verfall seiner Körper- und Geisteskräfte mitzuerleben. Auch für Menschen, die dem Kranken nahestehen, ist es herzzerreißend, beobachten zu müssen, wie diese schreckliche Krankheit die Oberhand gewinnt. Was kann man denn unternehmen, um einen Huntington-Kranken zu unterstützen?

Unterstützung für den Huntington-Kranken

Die Huntingtonsche Krankheit ist zwar nicht heilbar, aber eine angemessene medizinische Versorgung hat vielen geholfen, mit den Symptomen zurechtzukommen. „Das berührt zwar nicht den degenerativen Langzeiteffekt der Krankheit“, sagt Dr. Kathleen Shannon, „aber die Lebensqualität des Patienten wird in hohem Maße verbessert.“

Zum Beispiel haben bei einigen Huntington-Kranken Medikamente gut angeschlagen, durch die krampfartige Bewegungsstörungen kontrolliert und Depressionen vermindert werden. Das Hinzuziehen eines Ernährungsexperten kann ebenfalls eine Hilfe sein. Warum? Weil die Betroffenen nicht selten das Problem haben, daß sie abnehmen, und sie benötigen in der Regel eine kalorienreiche Ernährung, damit sie ihr Gewicht halten.

Mit etwas Einfallsreichtum haben manche Familien dem Betroffenen helfen können, sich an seine neuen Einschränkungen zu gewöhnen. Monica sagt zum Beispiel: „Als Vaters Aussprache immer undeutlicher wurde, überlegten wir, wie wir herausbekommen könnten, was er gerade wollte.“ Monica und ihre Angehörigen legten ein handliches Ringbuch mit Pappen an, auf denen jeweils ein Wort oder ein Bild zu sehen war. „Wir bezogen meinen Vater in das Projekt ein“, sagt Monica. „Er suchte die Bilder und Wörter mit aus.“ Mit diesem neuen Hilfsmittel konnte Monicas Vater sich mitteilen, indem er auf das Wort zeigte, das er nicht aussprechen konnte.

Auch wenn der Betroffene seine Wohnung beziehungsweise das Pflegeheim nicht mehr verlassen kann, ist der Kontakt zu Angehörigen und Freunden sehr wichtig. „Es mag nicht so einfach sein, Huntington-Kranke in den späteren Stadien der Erkrankung zu besuchen“, räumt Janice ein, „aber meine Kinder waren immer so froh, wenn Freunde vorbeikamen, um sie aufzumuntern.“ Leider wird dieser Aspekt der Unterstützung nicht selten vernachlässigt. „Manchmal fühlen wir uns, als würden wir ganz allein dastehen“, sagt Beatrice, deren Mann die Huntingtonsche Krankheit hat. „Wenn Freunde einfach nur mal kurz vorbeischauen würden, würde das meinem Mann schon viel bedeuten.“

Was benötigen Huntington-Kranke alles in allem am meisten? „Verständnis“, sagt Bobby, ein Zeuge Jehovas, der diese Krankheit hat. „Die Glaubensbrüder und -schwestern verstehen, daß es ein paar Minuten dauern kann, bis ich meine Gedanken so weit beisammenhabe, daß ich einen Kommentar in einer Zusammenkunft geben kann“, fügt er hinzu. „Sie nehmen es auch nicht persönlich, wenn ich frustriert bin oder wenn ich mich aufrege, denn das ist einfach ein Krankheitssymptom.“

Pflegende unterstützen

Natürlich benötigen auch die Pflegenden Unterstützung, denn sie erleben viele Augenblicke banger Sorge. „Man ist ständig um die Sicherheit des Kranken besorgt“, sagt Janice. „Da sich der Zustand ständig verschlechtert, fühlt man sich völlig hilflos.“

Pflegende benötigen eindeutig Ermunterung. Beatrice erwähnt eine Möglichkeit, wie man diese bieten kann. „Ich kann meinen Mann nicht allein lassen“, sagt sie, „und wenn ich mal ab und zu zu einem Treffen eingeladen werde, muß ich jedesmal sagen: ,Danke, daß ihr an mich gedacht habt, aber ich kann nicht.‘ Wie nett es doch wäre, wenn jemand von sich aus sagen würde: ,Vielleicht kann ja mein Sohn oder mein Mann eine Weile bei deinem Mann bleiben.‘!“ Solch eine einfühlsame Rücksichtnahme wird von Pflegenden zweifellos sehr geschätzt (1. Petrus 3:8).

Wenn die Erkrankung ein fortgeschrittenes Stadium erreicht, muß der Pflegende womöglich eine Entscheidung treffen, die vielleicht die qualvollste Entscheidung überhaupt ist. „Es fällt wahnsinnig schwer, sagen zu müssen: ,Ich kann dich nicht mehr versorgen‘ “, sagt Janice.

Den Kranken in ein Pflegeheim zu geben ist eine Entscheidung, die ein Christ sorgfältig und gebetsvoll abwägen sollte. Die Bibel gebietet einem Christen, ‘für die Seinigen zu sorgen’, und dazu gehören die kranken Eltern oder Kinder (1. Timotheus 5:8). Niemals sollte man sich einfach aus Bequemlichkeit aus dieser biblischen Verantwortung entlassen. Andererseits gibt es womöglich Faktoren — dazu gehört auch die Sicherheit des Kranken —, die eine fachkundige Betreuung als liebevollste und vernünftigste Lösung erscheinen lassen. Das ist eine rein persönliche Entscheidung, die innerhalb der Familie getroffen wird und von anderen respektiert werden sollte (Römer 14:4).

Eine sichere Hoffnung

Die Bibel ist besonders tröstend für Menschen, die mit einer unheilbaren Krankheit, wie zum Beispiel der Huntingtonschen Krankheit, zu kämpfen haben. Sie bietet die verbürgte Hoffnung auf eine gerechte neue Welt, in der „kein Bewohner ... sagen [wird]: ,Ich bin krank.‘ “ Außerdem sagt sie voraus, daß ‘der Lahme klettern wird wie ein Hirsch und die Zunge des Stummen jubeln wird’ (Jesaja 33:24; 35:6).

Bobby, von dem bereits die Rede war, wird durch diese Hoffnung getröstet. „Auf dieses Heilmittel warte ich“, sagt er. „Wenn es dann soweit ist, wird die ganze Qual von heute nur noch einer Zeit angehören, die längst vergangen ist.“

[Fußnoten]

^ Abs. 4 Sowohl Männer als auch Frauen erkranken an der Huntington-Krankheit. Der Einfachheit halber gebrauchen wir für den Kranken das männliche Geschlecht.

^ Abs. 6 Die Symptome der Huntington-Krankheit und die Geschwindigkeit, mit der sie fortschreitet, können von Person zu Person völlig unterschiedlich sein. Die hier genannten Symptome sollen daher keine detaillierten Kriterien zur Diagnosestellung bieten.

^ Abs. 7 Wenn die ersten Symptome der Huntington-Krankheit eingesetzt haben, beträgt die Lebenserwartung eines Menschen noch etwa 15 bis 20 Jahre. Manche leben allerdings viel länger. Oft tritt der Tod infolge einer Lungenentzündung ein, da der Kranke nicht kräftig abhusten kann und so der Brustraum von der Infektion nicht befreit werden kann.

[Kasten auf Seite 21]

Kopf oder Zahl? — Ein genetischer Münzwurf entscheidet

Hat ein Elternteil die Huntington-Krankheit, liegt die Wahrscheinlichkeit, daß das Kind diese Krankheit geerbt hat, bei 50 Prozent. Warum?

Jede Zelle unseres Körpers hat 23 Chromosomenpaare. Ein Chromosom jedes Chromosomenpaares ist uns von unserem Vater mitgegeben worden, das andere stammt von unserer Mutter. Angenommen, der Huntington-Kranke ist der Vater. Da er nur eins seiner beiden Chromosomen weitergibt und nur eins von beiden geschädigt ist, ist die Wahrscheinlichkeit, daß das Kind die Huntington-Krankheit geerbt hat, 50 zu 50 — sozusagen ein genetischer Münzwurf, bei dem Kopf oder Zahl entscheidet.

Da sich die Symptome der Huntingtonschen Krankheit erst zwischen dem 30. und dem 50. Lebensjahr zeigen, hat der Betroffene nicht selten bereits Kinder, bevor bei ihm die Diagnose gestellt wird.

[Kasten auf Seite 22]

Soll man es ihm sagen oder nicht?

Ist die Huntingtonsche Krankheit diagnostiziert worden, stellt sich die Frage, inwieweit man den Patienten informiert. Manche Angehörige befürchten, daß der Betroffene das Wissen um eine unheilbare, degenerative Erkrankung nicht verkraftet. Es wäre allerdings unklug, einfach anzunehmen, daß er es nicht wissen möchte. „Unsere eigenen Befürchtungen und Qualen können uns überfürsorglich werden lassen“ steht warnend in einer Broschüre über die Huntingtonsche Krankheit. Weiter heißt es: „[Der Betroffene] fühlt sich [vielleicht] unendlich erleichtert, daß es wenigstens eine Erklärung gibt für all das, was bei ihm schiefläuft.“ Da die Krankheit vererbt wird, ist es außerdem unabdingbar, daß Huntington-Kranke über das Risiko aufgeklärt werden, die Krankheit an Kinder weiterzugeben, die sie vielleicht in Zukunft haben werden.

[Bild auf Seite 21]

Janice, die vier Kinder durch die Huntington-Krankheit verloren hat