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Mit Rückschlägen fertig werden, indem man sich Ziele setzt

Mit Rückschlägen fertig werden, indem man sich Ziele setzt

Mit Rückschlägen fertig werden, indem man sich Ziele setzt

DIE Eheleute William (Bill) und Rose Meiners wohnen in New York in der Nähe des LaGuardia-Flughafens. Besucher werden von Rose, einer liebenswürdigen Gastgeberin in den Siebzigern, sehr herzlich willkommen geheißen. In der Wohnung fällt einem sofort das gemütliche Wohnzimmer auf, das ihr heiteres Gemüt widerspiegelt. Die schön arrangierten Blumen bei der Tür und die farbenfrohen Gemälde an der Wand vermitteln ein Gefühl von Lebensfreude.

In dem hellen Zimmer nebenan steht das Bett von Bill, der schon 77 Jahre alt ist. Bill liegt im Bett, den Rücken durch eine verstellbare Matratze gestützt. Beim Anblick des Besuchers leuchten seine Augen auf, und ein breites Lächeln zeigt sich auf seinem Gesicht. Gern würde er aufstehen, dem Besucher die Hand schütteln und ihn umarmen, aber er kann nicht. Mit Ausnahme des linken Armes ist Bill vom Hals an abwärts gelähmt.

Seit seinem 27. Lebensjahr hat Bill gesundheitliche Schwierigkeiten. Was hat ihm geholfen, mehr als 50 Jahre mit Krankheiten zurechtzukommen? Bill und Rose wechseln verschmitzte Blicke. „Wer soll hier krank sein?“ fragt Rose und fängt an, herzhaft zu lachen. Bills Augen funkeln vergnügt; er lacht vor sich hin und nickt beifällig. „Hier ist niemand krank“, sagt er langsam mit kehliger Stimme. Rose und Bill scherzen weiter miteinander, und binnen kurzem haben sie mich mit ihrem Lachen angesteckt. Man merkt deutlich, daß ihre Liebe immer noch so lebendig ist wie im September 1945, als sie sich kennenlernten. Auf die neuerliche Frage: „Ganz im Ernst, Bill, welche Rückschläge gab es? Wie ist es dir gelungen, zurechtzukommen und das Leben positiv zu sehen?“ läßt er sich noch etwas bitten, doch dann willigt er ein, seine Geschichte zu erzählen. Es folgen Auszüge aus mehreren Gesprächen, die Erwachet! mit Bill und seiner Frau führte.

Wie es anfing

Im Oktober 1949 — drei Jahre nachdem er Rose geheiratet hatte und drei Monate nach der Geburt ihrer Tochter Vicki — wurde Bill eröffnet, daß eines seiner Stimmbänder von Krebs befallen sei. Der Tumor wurde entfernt. Einige Monate später teilte Bills Arzt ihm die nächste schlechte Nachricht mit — jetzt war der ganze Kehlkopf vom Krebs angegriffen. „Man sagte mir, daß ich ohne eine Laryngektomie, das heißt ohne operative Entfernung des gesamten Kehlkopfes, nur noch zwei Jahre zu leben hätte.“

Bill und Rose wurde erklärt, was diese Operation bedeuten würde. Der Kehlkopf ist der Bereich von der Zungenwurzel bis zum Eingang der Luftröhre. Im Kehlkopf befinden sich zwei Stimmbänder. Wenn die Luft aus der Lunge an ihnen vorbeiströmt, vibrieren sie und erzeugen so die Stimme. Bei Entfernung des Kehlkopfes wird das obere Ende der Luftröhre mit einer dauerhaften Öffnung verbunden, die sich an der Vorderseite des Halses befindet. Nach der Operation atmet der Patient durch diese Öffnung, seine Stimme hat er allerdings verloren.

„Als mir das alles erklärt wurde, war ich wütend“, sagt Bill. „Wir hatten eine kleine Tochter, ich hatte einen guten Beruf, wir hatten hohe Erwartungen an das Leben, doch jetzt mußten wir all unsere Hoffnungen begraben.“ Da eine Laryngektomie jedoch sein Leben retten könnte, stimmte Bill dem Eingriff zu. Er erinnert sich: „Nach der Operation konnte ich nicht schlucken und kein einziges Wort reden. Ich war stumm.“ Wenn Rose ihn besuchte, war es Bill nur mit Hilfe eines Notizblocks möglich, sich mit ihr zu verständigen. Das war eine schlimme Zeit. Um mit diesem Schlag fertig zu werden, mußten sie sich neue Ziele setzen.

Ohne Sprache und ohne Arbeit

Durch die Laryngektomie verlor Bill nicht nur die Fähigkeit zu sprechen, sondern auch noch seine Arbeit. Er hatte im Maschinenbau gearbeitet, doch weil er durch die Öffnung am Hals atmen mußte, hätten der Staub und die Dämpfe seine Lunge angreifen können. Er mußte sich eine andere Arbeit suchen. Immer noch unfähig zu sprechen, begann er eine Ausbildung als Uhrmacher. „Das war in etwa wie meine alte Arbeit“, sagt Bill. „Ich wußte, wie man Maschinenteile zusammensetzt, und als Uhrmacher setzt man ebenfalls Teile zusammen. Nur, daß die Teile keine 50 Pfund wogen!“ Gleich nach Abschluß der Uhrmacherschule fand er Arbeit als Uhrmacher. Ein Ziel war erreicht.

In der Zwischenzeit hatte Bill begonnen, Unterricht im Sprechen mit der „Speiseröhrenstimme“ zu nehmen. Bei dieser Art des Sprechens entsteht der Klang nicht durch die Stimmbänder, sondern durch Vibrationen in der Speiseröhre. Zuerst lernt man, Luft zu schlucken und sie in die Speiseröhre zu pressen. Dann läßt man durch kontrolliertes Aufstoßen die Luft entweichen. Dadurch wird der Eingang der Speiseröhre in Schwingungen versetzt. So entsteht ein kehliger Ton, der durch Mund und Lippen moduliert werden kann, so daß Wörter hörbar werden.

„Früher mußte ich nur aufstoßen, wenn ich zuviel gegessen hatte“, sagt Bill lächelnd, „aber jetzt mußte ich lernen, andauernd aufzustoßen. Anfangs konnte ich nur ein Wort auf einmal hervorbringen. Das ging ungefähr so: ‚[einatmen, schlucken, aufstoßen] Wie [einatmen, schlucken, aufstoßen] geht’s [einatmen, schlucken, aufstoßen] dir?‘ Das war nicht einfach. Dann hat mein Lehrer mir geraten, reichlich Ginger-ale zu trinken, weil die Kohlensäure mir helfen würde aufzustoßen. Immer wenn Rose mit Vicki spazierenging, habe ich ununterbrochen getrunken und gerülpst. Ich habe mich echt angestrengt.“

Obwohl es etwa 60 Prozent der Laryngektomie-Patienten nicht gelingt, das Sprechen mit der Speiseröhrenstimme zu erlernen, machte Bill Fortschritte. Vicki, die damals fast 2 Jahre alt war, zwang ihn unbewußt dazu. Bill erklärt: „Vicki sagte etwas zu mir, schaute mich an und wartete auf eine Antwort. Aber ich konnte kein einziges Wort erwidern. Sie redete weiter, und wieder erhielt sie keine Antwort. Verärgert sagte Vicki dann immer zu meiner Frau: ‚Mach, daß Papi mit mir spricht!‘ Ihre Worte versetzten mir einen Stich, und ich beschloß, wieder sprechen zu lernen.“ Zur Freude von Vicki, Rose und anderen schaffte Bill es. Ein weiteres Ziel war erreicht.

Ein neuer Schlag

Gegen Ende des Jahres 1951 standen Bill und Rose erneut vor einem Dilemma. Da die Ärzte fürchteten, der Krebs würde zurückkehren, rieten sie Bill zu einer Bestrahlung. Bill war einverstanden. Nach der Behandlung brannte er darauf, wieder am Leben teilzunehmen. Er wußte nicht, daß seiner Gesundheit bereits ein weiterer Schlag drohte.

Etwa ein Jahr verging. Dann fühlten sich Bills Finger eines Tages taub an. Später konnte er keine Treppen mehr steigen. Kurz darauf fiel er beim Gehen hin und konnte nicht mehr aufstehen. Untersuchungen ergaben, daß die Bestrahlung, die Bill erhalten hatte (damals konnten Bestrahlungen nicht so genau durchgeführt werden wie heute), das Rückenmark geschädigt hatte. Man teilte ihm mit, sein Zustand werde sich noch verschlechtern. Ein Arzt sagte ihm sogar, seine Überlebenschancen seien „keinen Pfennig wert“. Bill und Rose waren völlig niedergeschmettert.

Trotz allem versuchte Bill, sich auch dieses Mal nicht unterkriegen zu lassen, und ging für eine sechsmonatige physikalische Therapie ins Krankenhaus. Durch die Behandlung änderte sich für Bill zwar nichts am Krankheitsverlauf, was sich hingegen durch den Krankenhausaufenthalt änderte, war sein Lebensweg — eine Änderung, durch die er schließlich Jehova kennenlernte. Wie kam es dazu?

Die Frage nach dem Warum geklärt

Bill verbrachte die sechs Monate in einem jüdischen Krankenhaus in einem Zimmer zusammen mit 19 gelähmten Männern, die alle orthodoxe Juden waren. Jeden Nachmittag unterhielten sich die Männer über die Bibel. Bill, ein Baptist und regelmäßiger Kirchgänger, hörte einfach nur zu. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte er genug gehört, um zu schlußfolgern, daß der allmächtige Gott nur eine einzige Person sein kann und daß die Dreieinigkeitslehre der Bibel widerspricht. Die Folge war, daß Bill nicht mehr zur Kirche ging. Ihm wurde jedoch bewußt, daß Gott ihm den Weg weisen müßte, mit den Widrigkeiten des Lebens fertig zu werden. „Ich bat Gott fortwährend, mir zu helfen“, sagt Bill, „und meine Gebete wurden erhört.“

Eines Samstags im Jahr 1953 kam Roy Douglas, der von Bills Lage gehört hatte, auf einen Besuch vorbei. Roy, ein älterer Zeuge Jehovas und ein ehemaliger Nachbar, schlug Bill vor, mit ihm die Bibel zu studieren, und Bill erklärte sich einverstanden. Das, was Bill in der Bibel und in dem Buch „Gott bleibt wahrhaftig“ * las, öffnete ihm die Augen. Er sprach mit Rose über das Gelernte, worauf sie sich am Bibelstudium beteiligte. Sie erinnert sich: „In der Kirche hatte man uns gelehrt, Krankheiten seien eine Strafe Gottes, aber durch unser Studium der Bibel erkannten wir, daß das nicht stimmt. Wir waren sehr erleichtert.“ Bill erzählt weiter: „Als wir an Hand der Bibel die Ursache aller Schwierigkeiten, einschließlich meiner Krankheit, verstehen lernten und herausfanden, daß eine bessere Zukunft bevorsteht, konnten wir beide meinen Zustand besser ertragen.“ Im Jahr 1954 erreichten Bill und Rose ein weiteres Ziel. Sie ließen sich als Zeugen Jehovas taufen.

Weitere Anpassung

Zwischenzeitlich war Bills Lähmung so weit fortgeschritten, daß er nicht länger arbeiten konnte. Damit für den Lebensunterhalt gesorgt wäre, wurden die Rollen getauscht: Bill blieb zu Hause bei Vicki, und Rose fing an, bei dem Uhrenhersteller zu arbeiten — 35 Jahre lang.

„Mich um unsere Tochter zu kümmern hat mir große Freude bereitet“, erzählt Bill. „Der kleinen Vicki gefiel es auch. Voller Stolz verkündigte sie allen Leuten: ‚Ich kümmere mich um Papi!‘ Als sie später zur Schule ging, konnte ich ihr bei den Hausaufgaben helfen, und wir spielten auch oft zusammen. Außerdem war das eine schöne Gelegenheit, sie biblisch zu unterweisen.“

Die Zusammenkünfte im Königreichssaal zu besuchen trug ebenfalls zur Freude von Bill und seiner Familie bei. Er brauchte zwar eine Stunde, um von der Wohnung in den Königreichssaal zu humpeln, aber er versäumte die Zusammenkünfte nicht. Als Bill und Rose später in einem anderen Stadtteil wohnten, kauften sie sich ein kleines Auto, und Rose fuhr die Familie zum Saal. Obwohl Bill jeweils nur für kurze Zeit sprechen konnte, ließ er sich in die Theokratische Predigtdienstschule eintragen. Er erklärt: „Ich schrieb meine Ansprache auf, und ein anderer Bruder trug sie für mich vor. Hinterher gab mir der Schulaufseher Rat zu dem Inhalt.“

Verschiedene Glaubensbrüder unterstützten Bill auch dabei, regelmäßig am Predigtdienst teilzunehmen. Wer Bills Ergebenheit beobachtete, war daher nicht überrascht, als er in der Versammlung zum Dienstamtgehilfen ernannt wurde. Als seine Beine versagten und die Lähmung immer weiter fortschritt, mußte er zu Hause bleiben und wurde schließlich bettlägerig. Gelang es ihm, auch damit fertig zu werden?

Eine befriedigende Ablenkung

„Als ich nun den ganzen Tag zu Hause war, suchte ich nach einer Ablenkung“, sagt Bill. „Früher, bevor ich gelähmt war, habe ich gern fotografiert. Daher habe ich mir überlegt, es vielleicht einmal mit dem Malen von Bildern zu versuchen, obwohl ich in meinem ganzen Leben noch nichts gemalt hatte. Außerdem bin ich Rechtshänder, aber die ganze rechte Hand und zwei Finger der linken Hand waren gelähmt. Trotzdem kaufte Rose einen Stapel Bücher über Maltechniken. Ich las sie durch und versuchte dann, mit der Linken zu malen. Viele meiner Bilder landeten im Ofen, doch schließlich begann ich, es zu lernen.“

Die schönen Aquarelle, die heute die Wohnung von Bill und Rose schmücken, zeigen, daß Bill erfolgreicher war, als er gedacht hatte. Er erklärt: „Vor 5 Jahren begann meine linke Hand so sehr zu zittern, daß ich endgültig mit dem Malen aufhören mußte, aber dieses Hobby hat mich viele Jahre sehr befriedigt.“

Ein bleibendes Ziel

Bill erzählt weiter: „Es ist mittlerweile über 50 Jahre her, daß meine Beschwerden angefangen haben. Ich schöpfe immer noch Trost aus dem Lesen in der Bibel, besonders aus den Psalmen und dem Buch Hiob. Die Veröffentlichungen der Watch Tower Society lese ich auch sehr gern. Wenn mich Brüder aus unserer Versammlung oder reisende Aufseher besuchen und erbauende Erfahrungen erzählen, ermutigt mich das ebenfalls sehr. Auch kann ich durch eine Telefonverbindung zum Königreichssaal die Zusammenkünfte mitverfolgen, und ich bekomme sogar Videoaufnahmen von den Kongressen.

Ich bin sehr dankbar dafür, daß ich mit einer liebevollen Frau gesegnet wurde. Die ganzen Jahre hindurch war sie meine enge Gefährtin. Unsere Tochter, die jetzt mit ihrer Familie Jehova dient, bereitet mir nach wie vor große Freude. Besonders dankbar bin ich Jehova, weil er mir geholfen hat, ihm nahe zu bleiben. Heute, wo mein Körper und meine Stimme immer schwächer werden, denke ich oft an die Worte des Apostels Paulus: ‚Darum lassen wir nicht nach, sondern wenn auch der Mensch, der wir äußerlich sind, verfällt, wird gewiß der Mensch, der wir innerlich sind, von Tag zu Tag erneuert.‘ Geistig wach zu bleiben, solange ich lebe — das bleibt mein Ziel“ (2. Korinther 4:16).

[Fußnote]

^ Abs. 20 Herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft. Das Buch wird nicht mehr aufgelegt.

[Herausgestellter Text auf Seite 12]

„Nach der Operation konnte ich nicht schlucken und kein einziges Wort reden. Ich war stumm.“

[Bild auf Seite 13]

Bill und Rose heute