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Das Gesicht des modernen Krieges

Das Gesicht des modernen Krieges

Das Gesicht des modernen Krieges

DAS Flüchtlingslager war in aller Eile errichtet worden, um die 1 548 Flüchtlinge unterzubringen, die plötzlich aus einem afrikanischen Nachbarland aufgetaucht waren. Blaue und khakifarbene Zelte standen auf einer schlammigen Lichtung in einem Palmenwald. Strom gab es ebensowenig wie Bettzeug, fließendes Wasser oder Toiletten. Es regnete. Mit Stöcken zogen die Flüchtlinge kleine Gräben, damit das Wasser die Zelte nicht unter Wasser setzte. Zwei internationale Hilfsorganisationen arbeiteten fieberhaft, um die Lebensbedingungen zu verbessern.

Die Flüchtlinge hatten zuvor die Gelegenheit ergriffen, an Bord eines schrottreifen Frachtschiffes dem Bürgerkrieg zu entfliehen, der ihr Land seit Jahren verwüstete. Dieser Krieg wurde nicht mit Panzerverbänden oder schweren Bombern geführt. Er begann, als etwa 150 mit Sturmgewehren bewaffnete Soldaten ins Land einfielen. In den darauffolgenden Jahren besetzten die Soldaten ein Dorf nach dem anderen, forderten Geld von Zivilisten, hoben weitere Rekruten aus und töteten jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Schließlich brachten sie das ganze Land unter ihre Kontrolle.

Zu den Flüchtlingen im Lager gehörte eine junge Frau namens Esther. „Ich habe meinen Mann in diesem Krieg verloren, und das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe“, erzählte sie. „Sie haben ihn erschossen. Überall herrscht so viel Angst. Man hört Schreie und denkt: ‚Gleich kommt jemand und bringt mich um.‘ Jedesmal, wenn man jemand mit einem Gewehr sieht, denkt man, er will einen umbringen. Ich konnte mich nie entspannen. Erst hier kann ich nachts wieder schlafen. Zu Hause konnte ich es nicht. Hier schlafe ich wie ein Baby.“

„Sogar in diesen nassen Zelten?“ fragte ein Erwachet!-Mitarbeiter.

Esther lachte. „Selbst wenn ich hier im Schlamm schlafen muß, werde ich besser schlafen als da, wo ich herkomme.“

Der zehnjährige Ambrose hatte fast sein ganzes Leben damit zugebracht, mit seiner Familie aus Kriegsgebieten zu fliehen. „Ich wollte, es wäre Frieden und ich könnte wieder zur Schule gehen“, sagte er. „Schließlich werde ich immer größer.“

Die neunjährige Kpana hat wunderschöne braune Augen. Auf die Frage nach ihren frühesten Kindheitserinnerungen antwortete sie, ohne zu zögern: „Krieg! Kämpfe!“

Der Krieg, vor dem diese Menschen geflohen sind, ist typisch für die Kriege der letzten Jahre. Angaben zufolge wurden von den 49 größeren kriegerischen Konflikten, die seit 1990 tobten, 46 ausschließlich mit leichten Schußwaffen ausgetragen. Um ein Schwert oder einen Speer wirkungsvoll im Kampf einsetzen zu können, braucht man Geschicklichkeit und Kraft. Kleine Schußwaffen hingegen ermöglichen es Laien wie ausgebildeten Kämpfern gleichermaßen, in den Krieg zu ziehen. * Häufig werden Teenager und Kinder rekrutiert und gezwungen, zu plündern, zu verstümmeln und zu töten.

Viele dieser Konflikte werden nicht zwischen zwei Ländern ausgetragen, sondern innerhalb eines Landes. Gekämpft wird nicht von ausgebildeten Soldaten auf dem Schlachtfeld, sondern in den meisten Fällen von Zivilisten in Städten, Ortschaften und Dörfern. Die Kämpfer haben meist keine militärische Ausbildung, und so macht es ihnen auch nichts aus, die herkömmlichen „Spielregeln“ des Krieges zu verletzen. Folglich sind grausame Übergriffe auf unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder an der Tagesordnung. Man geht davon aus, daß mehr als 90 Prozent derer, die in den heutigen Kriegen umkommen, Zivilisten sind. In solchen Kriegen spielen Kleinwaffen und leichte Waffen eine Hauptrolle.

Wohl sind Schußwaffen nicht die unmittelbare Ursache von Konflikten; schließlich haben sich Menschen, schon lange bevor das Schießpulver erfunden wurde, bekämpft. Aber ein Lager voller Gewehre kann durchaus eher zum Kämpfen ermutigen als zum Verhandeln. Nicht selten liegt es an den vorhandenen Waffen, wenn Kriege länger dauern und mehr Blut vergossen wird.

So leicht die Waffen sind, die in den heutigen Kriegen zum Einsatz kommen, so schwer sind die Folgen, die sie verursacht haben. Während der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts wurden mit solchen Waffen mehr als 4 Millionen Menschen getötet. Über 40 Millionen mußten fliehen oder wurden vertrieben. Kleinwaffen haben vom Krieg zerrüttete Gemeinwesen politisch, sozial und wirtschaftlich geschwächt und die Umwelt geschädigt. Die Kosten, die die internationale Gemeinschaft für Soforthilfe, Flüchtlingshilfe, friedenserhaltende Maßnahmen und militärisches Eingreifen aufwenden mußte, belaufen sich auf zigmilliarden Dollar.

Warum spielen Kleinwaffen mittlerweile eine so wichtige Rolle in modernen Konflikten? Wie gelangen sie überhaupt in Umlauf? Was könnte getan werden, um diese todbringenden Waffen zu verringern oder abzuschaffen? Mit diesen Fragen beschäftigen sich die folgenden Artikel.

[Fußnote]

^ Abs. 9 Der Begriff „Kleinwaffen“ bezieht sich auf Gewehre und Handfeuerwaffen, also Waffen, die eine Person allein handhaben kann. Zu den „leichten Waffen“ zählt man auch Maschinengewehre, Mörser und Granatwerfer, für deren Bedienung mitunter zwei Personen nötig sind.

[Bildnachweis auf Seite 3]

UN PHOTO 186797/J. Isaac