„Flüssiges Gold“ — Gewonnen aus gefrorenen Trauben
„Flüssiges Gold“ — Gewonnen aus gefrorenen Trauben
VON EINEM ERWACHET!-MITARBEITER IN KANADA
An einem frostigen Wintertag trotzt eine stattliche Anzahl abgehärteter Arbeiter in Kanadas Niagara-Region den Elementen der Natur und begibt sich in einen Weinberg. Die eisigen Winde vermitteln das Gefühl, die Temperatur müsse bei −40 °C liegen. Wieso sind diese Arbeiter bereit, bei derart harten Wetterbedingungen gefrorene, verschrumpelte Trauben einzusammeln, die so hart wie Murmeln sind? Nun, diese schrumpligen Trauben ergeben einen zuckersüßen, goldfarbenen Wein — Eiswein.
Lese und Temperatur
Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain nannte den Zufall „den größten Erfinder aller Zeiten“. Das traf auch 1794 zu, als Winzer in der deutschen Landschaft Franken nach einem eisigen Sturm aus gefrorenen Trauben Saft kelterten. Das Ergebnis war Wein mit einem bemerkenswert hohen Zuckergehalt; die Süße wurde allerdings durch eine kräftige Säure gemildert. Winzer, die alljährlich Eiswein erzeugen möchten, stehen jedoch vor erheblichen Herausforderungen. Wenn die Traube richtig gefrieren soll, muss die Temperatur mehrere Tage lang unter −7 °C liegen. Durch plötzlich auftretendes Tauwetter verdünnt sich der süße Saft. Wird es zu kalt, erhält man beim Auspressen der harten Trauben kaum Saft. „Es ist tatsächlich eine knifflige Angelegenheit“, bemerkt ein Weinbauer der Niagara-Region. „Man muss genau den richtigen Zeitpunkt abpassen.“
Im Süden Kanadas, speziell in der Niagara-Region, ist das Klima ideal für die Herstellung von Eiswein. Zwischen November und Februar fallen die Temperaturen normalerweise unter −7 °C. Besonders erfolgreich ist die Gewinnung von Eiswein aus den Rebsorten Riesling und Vidal, wenngleich sich auch andere Sorten dafür eignen. Eiswein wird zwar auch in anderen Ländern hergestellt, doch Kanada ist weltweit der größte Erzeuger und hat bei internationalen Wettbewerben hohe Auszeichnungen erhalten.
Warum so süß?
Die intensive Süße des Eisweins ist auf den Zuckergehalt im Traubensaft zurückzuführen. Trauben bestehen
zu 80 Prozent aus Wasser. Sie werden in gefrorenem Zustand gelesen und gepresst. Winzer müssen die Beeren im Freien pressen oder die Türen des Kelterhauses offen lassen, um sicherzustellen, dass die Trauben nicht auftauen. Das meiste Wasser gefriert eher aus als der Zucker. Wenn also die gefrorenen Trauben abgepresst werden, weist der so gewonnene Traubensaft eine hohe Zuckerkonzentration auf. Ein Journalist bezeichnete den Saft einmal als „erstaunlich süß“.Kanada ist zwar für seine strengen Winter bekannt, doch interessanterweise liegt die Niagara-Region südlicher als die für ihren Wein berühmte Provinz Burgund in Frankreich. Die Niagara-Region mit ihren vielen Sonnenstunden und hohen Temperaturen im Juli — zu dieser Zeit ist das Wachstum der Reben am stärksten — hat eine ideale Lage für die Herstellung von Eiswein mit hohem Zuckergehalt. Im Herbst ist das Wetter sehr wechselhaft, wodurch den Trauben Wasser entzogen wird und sie süßer werden.
„Flüssiges Gold“ probieren
Ein Kilo normale Trauben ergeben gewöhnlich eine 0,75-Liter-Flasche Wein. Je nach Wind und Wintersonne kann es jedoch sein, dass ein Kilo Eisweintrauben nur ein Fünftel davon (0,15 Liter) oder weniger ergibt. Eiswein kann also ziemlich teuer sein und wird daher häufig nur in halben Flaschen (0,375 Liter) verkauft.
Nach Meinung eines Winzers erinnert das Bukett von Eiswein an Litschis, während das Aroma „tropischen Früchten gleicht mit einer Nuance Pfirsichnektar und Mango“. Wenngleich die Süße und das intensive Aroma zunächst dominieren, „stellt die Säure das Gleichgewicht wieder her und verleiht dem Wein einen sauberen, trockenen Gesamteindruck“.
Die Beliebtheit von Eiswein beschränkt sich nicht auf Kanada. Dieses Erzeugnis wird überallhin exportiert und besonders in Ostasien als eine süße Alternative zu Cognac begrüßt.
Aus Weinkellereien in der Niagara-Region verlautet interessanterweise, dass sich einige angeboten haben, bei der frostigen Ernte mitzuhelfen. Ihr Lohn? Eine halbe Flasche „flüssiges Gold“.
[Bildnachweis auf Seite 24]
Grapes: © Bogner Photography
[Bildnachweis auf Seite 25]
Julianna Hayes, BCWine.com