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Im Schilfboot über den Ozean!

Im Schilfboot über den Ozean!

Im Schilfboot über den Ozean!

VON EINEM ERWACHET!-MITARBEITER IN BOLIVIEN

STELLEN wir uns vor, wir stünden unmittelbar vor einer Tausende von Kilometern weiten Seereise. Unser Schiff ist allerdings kein Ozeanriese mit allem Komfort eines modernen Hotels, sondern ein zerbrechlich wirkendes Segelboot aus Schilfrohr, das mit Stricken zusammengehalten wird! Dieses Boot kann zwar 50 Tonnen wiegen. Doch wie sicher fühlt man sich damit wohl weit draußen auf dem Pazifik, wo es gewaltigen Wellen ausgesetzt ist?

So verwunderlich es auch erscheinen mag, derartige Reisen sind schon versucht worden. Wenn auch viele Versuche fehlschlugen, haben sie aber eines deutlich gemacht: Boote aus Schilf, Simse oder Papyrus sind erstaunlich robust. Wie werden diese Boote hergestellt? Besuchen wir einmal die Erbauer dieser weltberühmten Boote und schauen wir ihnen bei der Arbeit über die Schulter.

Ein Besuch am Titicacasee

Unsere Reise führt uns in die südamerikanischen Anden zum Titicacasee. Er liegt 3 812 Meter hoch und ist damit der höchste schiffbare See der Welt. Bei unserer Fahrt am Ufer entlang bemerken wir die strohgedeckten Lehmhütten der Aimara — ein Volk, aus dem einige hervorragende Erbauer von Schilfbooten stammen. Auf dem Weg zu den Hütten grüßen uns zwei Frauen, die schönen, schweren Wollstoff weben, der für das Leben in der Kälte des Altiplano ideal ist. Die beiden unterbrechen die Arbeit und stellen uns ihren Männern vor.

Nach einer herzlichen Begrüßung laden die Männer uns ein, mit ihnen auf den See hinauszufahren. Am Seeufer bemerken wir dichte Felder von Tatora-Simse. Diese Riedgrasart wird bis zu 2 Meter hoch, ist jedoch kaum dicker als ein Bleistift; sie ist biegsam und nach Angaben unserer Begleiter äußerst wasserfest. Deshalb eignet sich die Tatora-Simse ideal für den Bau von Schilfbooten. All das macht den Titicacasee zu einem Anziehungspunkt für diejenigen, die ein solches Boot bauen wollen.

„Einige unserer Boote sind Tausende von Kilometern weit über das offene Meer gefahren“, erzählen unsere Aimara-Gastgeber mit einem stolzen Lächeln, während sie uns Modelle und Fotografien ihrer Arbeit zeigen. Aber wie kommen die Boote ans Meer? Wenn das Boot nicht zu groß ist, wird es mit einem Lkw an den Pazifik gefahren. Andernfalls bringt man das Baumaterial zur Küste und baut das Boot vor Ort zusammen. Wegen ihrer besonderen Fertigkeiten wurden die Aimara schon gebeten, an weit entfernten Orten Schiffe zu bauen, beispielsweise in Marokko, im Irak und auf der Osterinsel. Dabei verwendeten sie allerdings heimisches Schilfrohr.

Wir erfahren, dass ein solches Schiff aus vielen Tonnen Schilfrohr besteht, vor allem, wenn es für weite Reisen gebaut wird. Warum ist das so? Schilfrohr nimmt mit der Zeit Wasser auf. Je länger die Reise also werden soll, desto mehr Schilf wird benötigt und desto größer muss das Boot werden. Ein 7 Tonnen schweres Boot beispielsweise bleibt etwa 2 Jahre schwimmfähig. „Aber wie können Boote, die eigentlich nur aus trockenen Halmen gebaut werden, den gnadenlosen Gewalten des Ozeans trotzen?“, fragen wir.

Ein Wunderwerk aus Schilfrohr, Seilen und Bambus

Die Schilfboote verdanken ihre Stabilität nicht nur der verborgenen Stärke der Baumaterialien an sich, sondern auch der Kunstfertigkeit, mit der diese zum fertigen Boot zusammengefügt werden — eine Kunst, die von Generation zu Generation überliefert wurde. Unser Begleiter, der sich zum Schutz vor der Kälte in einen Poncho gehüllt hat und eine Wollmütze mit Ohrenklappen trägt, erläutert uns dieses alte Handwerk.

Wie er uns erklärt, schnüren die Bootsbauer zunächst Schilfbündel, die so lang sind wie das Boot, das gebaut werden soll (Bild 1 und 2). Anschließend werden mehrere Bündel zu zwei sehr dicken Bündeln zusammengefügt, die ohne weiteres über einen Meter Durchmesser haben können. Nebeneinander gelegt bilden diese beiden Bündel eine besonders seetüchtige Konstruktion — einen Zwillingsrumpf.

Gleichzeitig platziert man ein drittes, dünneres Bündel etwas unterhalb zwischen den beiden größeren Bündeln. Jetzt werden die beiden großen Bündel einzeln mit diesem dritten Bündel verbunden, und zwar — wie auf dem Foto zu sehen ist — mit einem langen Seil, das über die ganze Bootslänge um die beiden verschieden dicken Bündel geschlungen wird (Bild 3). Bis zu 12 Männer spannen das Seil. Auf diese Weise pressen sie das Schilfrohr zusammen, sodass zwei stabile Rümpfe entstehen, die jetzt fest miteinander verbunden sind (Bild 4). Das Seil ist tatsächlich so straff gespannt, dass man nicht einmal einen Finger darunter zwängen kann — ein Konstruktionsmerkmal, das für höhere Wasserfestigkeit sorgt.

Ist der Rumpf vollendet (Bild 5), montieren die Männer einen Kiel und Steuerriemen sowie einen Doppelmast, der auf beiden Rümpfen steht und wie ein umgedrehtes schlankes V aussieht. Der Mast erhält ein Rahsegel und das Deck ringsherum eine Art Reling, die ebenfalls aus Schilfrohr gefertigt wird. Schließlich wird auf Deck für die Mannschaft eine Schutzhütte aus Bambus und Palmblättern errichtet (Bild 6). Interessanterweise wird beim Bau des ganzen Schiffes nicht ein einziges Metallteil verwendet.

Nachdem das Schiff vom Stapel gelaufen ist, quellen die Rohrstängel unter den Seilschlingen, wodurch der Rumpf sogar noch steifer wird. Das Resultat ist eindeutig kein nautischer Scherz, sondern ein robustes Schiff. Das führt uns zu einer wichtigen Frage: Was möchten diejenigen beweisen, die heutzutage mit so einem einfachen Fahrzeug lange Seefahrten unternehmen?

Die Geheimnisse der Migration erforschen

Die Schilfboote vom Titicacasee sehen den mondsichelartigen Booten, die auf altägyptischen Motiven abgebildet sind, erstaunlich ähnlich. Einige der abgebildeten Boote wirken stabil genug für das offene Meer. Sind die Ähnlichkeiten zufällig, oder gab es früher Kontakte zwischen beiden Völkern? Es ist zwar schwer festzustellen, wann in Südamerika die ersten Schilfboote gebaut wurden, offenbar jedoch vor der Ankunft der spanischen Eroberer.

Migrationstheorien haben verständlicherweise die Diskussion darüber angeheizt, welche Beziehungen zwischen den südamerikanischen Kulturen, dem Mittelmeerraum und Polynesien bestehen — vor allem angesichts der gewaltigen Entfernungen. „Zwischen Peru und Panama wurde regelmäßig Handel getrieben“, sagte ein heutiger Forscher. „Warum sollte das nicht auch zwischen Südamerika und Polynesien möglich gewesen sein?“

Die Theorien des norwegischen Forschers Thor Heyerdahl haben sich nicht durchgesetzt. Heutige Seefahrer wie Heyerdahl mit seinem von Aimara gebauten Papyrusboot Ra II haben zwar demonstriert, dass man in früheren Zeiten auf Schilfbooten weit entfernte Gestade erreichen konnte. Aber die Frage bleibt: Ist man früher auch wirklich dorthin gesegelt? Mit der Zeit werden wir vielleicht mehr über dieses faszinierende Rätsel erfahren. Wie dem auch sei: Das simple Schilfboot lehrt uns, dass man aus den einfachsten Materialien wirklich äußerst robuste Boote bauen kann.

[Bilder auf Seite 22]

Rumpf (Querschnitt)

Vor dem Spannen des Seils

Mit gespanntem Seil

Das Deck und der Decksabschluss

[Bildnachweis]

Darstellungen: Dominique Görlitz, www.abora2.com

[Bilder auf Seite 23]

BAU EINES SCHILFBOOTES

[Bildnachweis]

Foto: Carmelo Corazón, Coleccion Producciones CIMA

Schritte 1, 2, 5 und 6: Tetsuo Mizutani (UNESCO); Schritt 4: Christian Maury/GAMMA

[Bildnachweis auf Seite 21]

Oben: Tetsuo Mizutani (UNESCO)

[Bildnachweis auf Seite 22]

Foto: Carmelo Corazón, Coleccion Producciones CIMA