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Geheimnisvolles Cahokia

Geheimnisvolles Cahokia

Geheimnisvolles Cahokia

WENN man eine historische Stadt nennen sollte, welche würde einem da wohl einfallen? London, Paris, Rom? Und wie wäre es mit Cahokia? Wie bitte? Richtig gehört, Cahokia! Cahokia liegt in den USA, und zwar in Illinois, 13 Kilometer östlich von St. Louis (Missouri). * Die gut durchdacht geplante, hoch entwickelte, große Stadt war 500 Jahre lang eine herausragende Indianerstadt. In ihrer Blütezeit, ungefähr 1150 u. Z., war sie größer als das damalige London oder Rom.

Wie ein Werk sagt, war Cahokia mit einer Größe von mehr als 13 Quadratkilometern „das zweifellos größte prähistorische Siedlungszentrum nördlich von Mexiko“ (Encyclopedia of North American Indians). Außerdem findet man im Mississippital überall Überreste von Erdhügeln, Mounds genannt, die stumme Zeugen einer einst blühenden Zivilisation sind. St. Louis hatte sogar einmal den Beinamen Mound City. Das war allerdings vor der zunehmenden Verstädterung; ihr fielen die 26 Erdhügel zum Opfer, die innerhalb des Stadtgebiets lagen.

Eine schutzwürdige Kulturstätte

Manche Indianer sehen in Cahokia einen Ausgangspunkt, zu dem sich der Ursprung vieler Stämme zurückverfolgen lässt. Wie in dem Buch The Native Americans zu lesen ist, „gingen aus den Hügel bauenden Mississippi-Indianern die Chickasaw, die Seminolen und die Choctaw hervor“. Ein anderes Werk sagt, in der Mississippikultur würden die Creek, die Cherokee, die Natchez und weitere Indianerstämme wurzeln.

Ursprünglich bestand Cahokia aus 120 Mounds. Heute sind davon nur noch 80 übrig, bedingt durch die jahrelange Landwirtschaft und die zunehmende Verstädterung in dieser Gegend. Von den 80 Mounds liegen 68 innerhalb einer zurzeit 890 Hektar großen Stätte.

Im Jahr 1925 hatte man Cahokia zur schutzwürdigen Kulturstätte erklärt (Illinois State Historic Site). 1982 wurde Cahokia von der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Grund dafür war, dass die Stätte einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Frühgeschichte Nordamerikas liefert.

Warum gerade dort?

Schon 700 u. Z. lebten in der Gegend um Cahokia Indianer der Spät-Waldland-Kultur. Die Mounds wurden allerdings erst rund 200 Jahre später angelegt. Warum erbaute man Cahokia gerade dort? Aus dem gleichen Grund, aus dem St. Louis in dieser Gegend erbaut wurde. Zum einen fließen ganz in der Nähe drei große Flüsse zusammen, sprich der Missouri und der Illinois münden in den Mississippi. Und zum anderen ist der Boden sehr fruchtbar; Geologen nennen das Schwemmland American Bottom.

In den Flüssen und ihren Nebenflüssen wimmelte es nur so von Fischen, und viele Wasservögel zogen auf ihren Wanderungen vorbei. Das umliegende Waldland bot nicht nur Holz, sondern lieferte auch reichlich Wild, vor allem Weißwedelhirsche, die hauptsächlichen Fleischlieferanten. Bodenschätze wie Basalt, Ocker, Galenit und Granit kamen aus dem nahen Ozark Plateau. Und in der Präriegegend wuchsen jede Menge Gräser, die beim Bau von Wohnhäusern und anderen Gebäuden Verwendung fanden; immerhin hatte Cahokia zu Spitzenzeiten vielleicht 20 000 oder sogar noch mehr Einwohner. Auf dem Schwemmland wurden unter anderem Mais, Amarant, Kürbisse, Flaschenkürbisse und Sonnenblumen angebaut. Man konnte außerdem Pekannüsse, Bitternüsse und Brombeeren sammeln oder auch wilde Pflaumen pflücken. Zudem ließen die Flüsse einen ausgedehnten Handel in alle Richtungen zu. Meeresmuscheln und -schnecken vom Golf von Mexiko, Kupfer aus der Region um die Großen Seen und Glimmer aus den Appalachen — all das hat man in Cahokia gefunden.

Leben und Religion in Cahokia

Im Besucherzentrum werden Szenen aus dem Alltag lebensgroß dargestellt, zum Beispiel wie Wild das Fell abgezogen oder wie Mais gemahlen wurde. Die Cahokia-Kultur basierte auf dem Wissen, wie man Mais anbaut, und dem Zugang zu anderen natürlichen Ressourcen.

Ein Archäologe beschrieb Cahokia als „ein Jerusalem Nordamerikas“, denn anscheinend war jeder Teil der Gesellschaft von Religion durchdrungen. An anderer Stelle wird der Hinweis gegeben, Cahokia habe in der Blütezeit (1000—1150 u. Z.) eine ausgesprochen zentralisierte Theokratie aufgewiesen. Artefakte lassen darauf schließen, dass die Bewohner von Cahokia Religion und Gesellschaft für untrennbar hielten. Wie das Buch Cahokia—City of the Sun schreibt, „bestand ihre Welt aus Gegensätzlichkeiten — aus Licht und Schatten, aus Ordnung und Anarchie, aus Gutem, das belohnt wurde, und Schlechtem, das bestraft wurde“.

In Cahokia glaubte man an ein Leben nach dem Tod. Daher wurden Bestattungen ehrenvoll und oft mit großem Ritual vollzogen, vor allem in der Oberschicht. Einige Mounds waren direkt Grabhügel und könnten eine ähnliche Rolle gespielt haben wie die Pyramiden der Pharaonen.

Eine Besichtigung der Mounds

Sehen wir uns die Mounds doch einmal näher an. Sie sind zwar unterschiedlich in Form und Größe, wurden aber allesamt aus Erde erbaut, die man Korb für Korb zu den Baustellen schleppte. Man schätzt, dass alles in allem rund 1,5 Millionen (!) Kubikmeter Erde auf diese Weise bewegt wurden.

Man unterscheidet drei Arten von Mounds. 1. Kammlinien-Mounds: Es könnte sich um Grenzmarkierungen handeln, einige enthalten aber auch Gräber. 2. Kegelförmige Mounds: Sie dienten wahrscheinlich ebenfalls als Grabstätten. 3. Plattform-Mounds: Diese sind zwischen ungefähr einem und 30 Meter hoch und dienten als Fundament für Gebäude. Auf den Plateaus befanden sich meist Tempel, Ratsversammlungshäuser oder die Wohnsitze der Oberschicht.

Als Erstes geht es zum Mound 72, der auf drei kleineren Grabhügeln errichtet wurde. Er ist 43 Meter lang, 22 Meter breit und knapp 2 Meter hoch. Für einen Mound ist das zwar nicht gerade groß, aber man fand darin einen unglaublichen Schatz an Artefakten, die Licht in die Cahokia-Kultur brachten. Der Mound enthielt das Grab eines Mannes. Er dürfte ein prominenter Führer gewesen sein, nach den beinahe 20 000 Perlen von der Golfküste zu urteilen, die unter ihm ausgebreitet lagen. Dem Toten mit ins Grab gegeben wurden unter anderem 800 Pfeilspitzen, 15 konkave indianische Spielsteine, ein großer Haufen Glimmer und eine Rolle Kupfer. Auch lagen rund 300 weitere Tote, vor allem junge Frauen, mit ihm im Grab — bei vielen handelte es sich wohl um Menschenopfer.

Was ist am Monks Mound so besonders?

Weiter geht es für uns nordwärts über den Hauptplatz in Richtung Monks Mound (Mound der Mönche). Der Mound verdankt seinen Namen den Trappisten, Mönchen, die Anfang des 19. Jahrhunderts in der Nähe lebten und auf dem Erdhügel sogar eine Gartenanlage hatten. Er ist der größte Mound Cahokias und sieht aus wie eine stumpfe Pyramide, die aber vier Terrassen auf verschiedenen Ebenen hat. Errichtet wurde die Anlage in bis zu 14 Abschnitten, und zwar, wie man meint, von 900 bis 1200 u. Z. Die Basis umfasst mehr als 60 000 Quadratmeter und ist damit „größer als jede Pyramide Ägyptens oder Mexikos“. Der Mound erhebt sich 30 Meter hoch und ist über 300 Meter lang. Damit ist er der größte präkolumbische Erdbau der westlichen Hemisphäre. An der Südseite des Monks Mounds gibt es eine lange Rampe, die auf die flachen Terrassen führt. Ausgrabungen deuten darauf hin, dass sich dort einst Treppen befanden.

Niemand vom gemeinen Volk durfte die Treppen bis nach ganz oben hinaufsteigen. Oben auf der Plattform stand nämlich ein großes Bauwerk — die Residenz des Herrschers von Cahokia, des Häuptlings „Große Sonne“. In dem Buch Cahokia—City of the Sun ist zu lesen: „Der Stammesführer und seine Priester vollzogen dort wahrscheinlich religiöse Rituale und erledigten Verwaltungsarbeiten; sie überblickten ihre Ländereien oder grüßten Abgesandte aus dem Hinterland.“ Von diesem Aussichtspunkt aus konnte der Herrscher auch ein Auge auf die verschiedenen kommunalen Einrichtungen haben, wie zum Beispiel die Ratsversammlungshäuser, Kornspeicher, Lebensmittellager, Dampfbäder, Beinhäuser und die Wohnhäuser der Stadtbevölkerung.

Der Häuptling konnte außerdem die rings um die Stadt verlaufende Palisade mit ihren vielen Bastionen überwachen. Der ungefähr drei Kilometer lange Palisadenzaun wurde dreimal wieder aufgebaut und jedes Mal wurden dafür bis zu 20 000 Bäume verarbeitet. Manche Archäologen halten die Palisade für eine sichtbare Abgrenzung zwischen der Ober- und der Unterschicht. Aber wahrscheinlich war sie auch zur Verteidigung gedacht. Wer die Feinde der Bewohner Cahokias gewesen sein sollen, bleibt allerdings ein Rätsel.

Was widerfuhr den Bewohnern Cahokias?

Rätselhaft ist auch, warum Cahokia um 1500 u. Z. bereits vollkommen aufgegeben worden war. Was war passiert? Theorien gibt es en masse. Die bislang zutage geförderten Beweise lassen weder auf eine Epidemie noch auf eine feindliche Übernahme oder eine Naturkatastrophe schließen. Vielleicht kam es ja, bedingt durch ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren wie klimatische Veränderungen und Raubbau an den Wäldern, zu Dürre, Hunger und sozialen Unruhen.

Manche Forscher meinen, Cahokia habe unter den gleichen sozialen Missständen gelitten wie Städte heute — Verschmutzung, Überbevölkerung, unzureichende Müllentsorgung und vielleicht sogar Bürgerunruhen. Aber da zurzeit niemand aus Cahokia zur Hand ist, der uns mehr über das Leben damals erzählen könnte, bleiben noch viele Rätsel ungelöst.

[Fußnote]

^ Abs. 2 Den Namen Cahokia erhielt die Stätte erst im 19. Jahrhundert. Manche Experten meinen, der Name bedeute „Stadt der Sonne“. Andere sind der Ansicht, er bedeute „Wildgänse“. Es gibt keine schriftlichen Aufzeichnungen, aus denen zu ersehen ist, wie die Einheimischen sich selbst oder ihre Stadt nannten.

[Kasten/Bilder auf Seite 14, 15]

WIE KAM CAHOKIA INS DASEIN?

Es wird viel spekuliert über den Ursprung der Cahokia-Kultur. Fachleute sind sich uneinig. Francis Jennings, emeritierter Direktor des Newberry Library Center for the History of the American Indian, ist überzeugt, dass die ersten Siedler aus Mesoamerika kamen und ihren Mais und ihre Architektur in das Mississippital mitbrachten. Er schreibt: „Die Siedler wussten, wie man Handel treibt. Dadurch erlangten sie offenbar eine Vorherrschaft über die Ureinwohner, die, wenn man sich die Landkarte ansieht, schon fast die Ausmaße eines Herrscherreiches annahm. Die Siedler führten die in Mesoamerika übliche Bauweise der an der Spitze abgeflachten Pyramiden ein mit Tempelanlagen und Verwaltungsgebäuden auf den obersten Plateaus.“

Wie Jennings allerdings einräumt, bleibt noch vieles im Ungewissen. „Archäologen streiten sich darüber, ob die Mississippi-Indianer überhaupt Siedler aus Mexiko waren. Man überlegt hin und her, ohne eine glaubhafte Alternative anzubieten.“

George E. Stuart schreibt in seinem Buch Ancient Pioneers—The First Americans, für viele Archäologen und Kunsthistoriker sei ein vielleicht indirekter mesoamerikanischer Einfluss belegt, und zwar durch die jeweils um einen Platz sorgfältig angelegten Plattform-Mounds, durch bestimmte Töpferwaren sowie durch den vorgefundenen Mais und die Bohnen. Allerdings schwingt ein gewisser Zweifel mit, wenn er sagt, man habe im gesamten Südosten kein einziges Artefakt gefunden, das mit Sicherheit ein mesoamerikanisches Erzeugnis ist. Es bleibt also schleierhaft, wer die Bewohner von Cahokia beeinflusste. Waren es Siedler aus Mesoamerika? Archäologen werden vielleicht eines Tages mit der Antwort aufwarten können.

[Bilder]

Pfeilspitzen und Steine aus dem Mound 72

[Kasten/Bilder auf Seite 16, 17]

(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

CAHOKIAS ASTRONOMISCHES ZENTRUM

Eine weitere Besonderheit Cahokias ist eine Anzahl von „perfekten Kreisen, [bestehend aus Löchern,] in denen einst wuchtige, gleichmäßig angeordnete Pfähle aus den Plattformen ragten“ (National Geographic, Dezember 1972). Man hat diesen Kreisen den Namen Woodhenges gegeben in Anlehnung an die Ähnlichkeit mit dem alten steinernen Sonnenkalender im englischen Stonehenge.

Ein solcher Kreis ist restauriert worden. Er hat einen Durchmesser von 125 Metern und besteht aus 48 gewaltigen Zedernholzpfählen. Manche sind der Ansicht, er habe als Sonnenwarte gedient. Die Pfähle sind „nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet und so angeordnet, dass ein neunundvierzigster Pfahl außerhalb des Kreises einem Beobachter innerhalb des Kreises erlaubte, den Sonnenaufgang der Tagundnachtgleiche und der Sonnenwende Anno Domini 1000 zu bestimmen“.

Archäologen haben nur von drei Pfählen den Zweck genau bestimmen können. Ein Pfahl markiert die Tagundnachtgleiche, den ersten Tag im Frühling und im Herbst, wenn die Sonne sich am gleichen Punkt befindet. Die anderen beiden Pfähle markieren den ersten Sonnenaufgang der Wintersonnenwende und den ersten Sonnenaufgang der Sommersonnenwende. Der Zweck der anderen Pfähle ist noch unklar.

[Bild]

Woodhenge

[Bildnachweis]

Cahokia Mounds State Historic Site

[Bilder]

Begrüßung der aufgehenden Sonne

Ein Markt in Cahokia

Gemeinschaftsleben

[Bildnachweis]

Drei Bilder: Cahokia Mounds State Historic Site/Michael Hampshire

[Bild]

Vorstellung eines Künstlers, wie Cahokia um 1200 u. Z. ausgesehen haben könnte. Die Stadt hatte in ihrer Blütezeit rund 20 000 Einwohner.

1. Monks Mound

2. Hauptplatz

3. Twin Mounds

4. Pallisade

[Bildnachweis]

Cahokia Mounds State Historic Site/William R. Iseminger

[Karte auf Seite 14]

(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

Vergrößerter Bereich

Illinois

Mississippi

Missouri

St. Louis

Cahokia Mounds

[Nachweis]

Mountain High Maps® Copyright © 1997 Digital Wisdom, Inc.

[Bild auf Seite 15]

Die Vogelmensch-Tafel von Cahokia

[Bild auf Seite 17]

Kammlinien-Mound

[Bild auf Seite 17]

Kegelförmiger Mound

[Bild auf Seite 17]

Plattform-Mound

[Bilder auf Seite 18]

Das Besucherzentrum von Cahokia

Monks Mound

[Bildnachweis]

Fotos oben und unten: Cahokia Mounds State Historic Site

[Bildnachweis auf Seite 15]

Alle Fotos: Cahokia Mounds State Historic Site