Zurück zum Inhalt

Zum Inhaltsverzeichnis springen

Mit multipler Sklerose leben

Mit multipler Sklerose leben

Mit multipler Sklerose leben

AVIS fuhr gerade allein mit dem Auto nach Hause, als plötzlich vor ihren Augen alles verschwamm. Sofort hielt sie den Wagen an. Ein paar Minuten später sah sie alles wieder normal. Sie fuhr weiter, in der Meinung, sie sei einfach nur müde. Vier Jahre vergingen. Eines Tages, als Avis gerade in Urlaub war, wachte sie mitten in der Nacht mit starken Kopfschmerzen auf. Sie ging ins Krankenhaus, wo man ihr ein Schmerzmittel gab und sie wegen Verdacht auf Aneurysma unter Beobachtung stellte.

Am nächsten Tag waren die Schmerzen verschwunden, aber Avis fühlte sich kraftlos. Sie konnte nicht einmal ein Glas Wasser richtig in der Hand halten, und auf der rechten Körperseite spürte sie ein Kribbeln und Brennen. Besorgt brachen Avis und ihr Mann den Urlaub ab und fuhren nach Hause. Am nächsten Morgen beim Frühstück bekam Avis die Gabel kaum zum Mund, und in der ganzen rechten Körperhälfte hatte sie kaum Kraft. Avis suchte ein Krankenhaus auf, wo die Ärzte eine Reihe von Untersuchungen vornahmen, um einen Schlaganfall auszuschließen. Da sie aber nicht wussten, was vier Jahre zuvor geschehen war, wurden sie aus den Untersuchungsergebnissen nicht schlau. Nach mehreren Monaten konnte Avis ihre rechte Körperhälfte wieder normal bewegen. Sie kam zu dem Schluss, sie müsse sich wohl mit einem seltsamen Virus infiziert haben.

Weitere vier Jahre vergingen. Als Avis an einem Freitagmorgen aufwachte, sah sie auf dem linken Auge alles verschwommen. Ihr Arzt führte das auf Stress zurück. Am Sonntag war Avis jedoch auf dem linken Auge völlig blind. Entsetzt und in Tränen aufgelöst rief sie den Arzt an, der sie sofort zur Untersuchung schickte. Durch eine Steroidbehandlung wurde ihr Sehvermögen zum Teil wiederhergestellt. Weitere Untersuchungen brachten schließlich die Gewissheit: Avis litt an multipler Sklerose, auch MS genannt.

Was ist multiple Sklerose?

MS ist eine chronische entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS), das heißt des Gehirns und des Rückenmarks. Viele Ärzte gehen davon aus, dass MS eine Autoimmunkrankheit ist. Bei Autoimmunkrankheiten gerät das Immunsystem durcheinander und greift körpereigenes Gewebe an. Die Ursachen von MS sind nicht geklärt, doch wird eine Virusinfektion als möglicher Auslöser angenommen. Bei MS kommt es letztlich offensichtlich dazu, dass Bestandteile des Immunsystems die schützende Umhüllung der Nervenfasern des ZNS, die so genannte Myelin- oder Markscheide, angreifen und sich auf dieser wichtigen fetthaltigen Substanz Verhärtungen oder Narben bilden. Die Bezeichnung „multiple Sklerose“ bezieht sich daher auf die zahlreichen (multiplen) Stellen mit Verhärtungen (Sklerosen) an den Nervenfasern.

Ähnlich wie die Isolierung eines Elektrokabels wirkt das Myelin als Isolierschicht für gewisse Nervenfasern. Wird es zerstört, werden elektrische Impulse blockiert oder wie bei einem Kurzschluss zu benachbarten Nerven umgeleitet, was zu abnormalen Impulsen führt. Und da die Schäden an jeder beliebigen Stelle des ZNS auftreten können, sind die Symptome bei den Patienten nie genau gleich. Ein und derselbe Patient kann sogar bei jedem Schub andere Symptome zeigen, je nachdem, welcher Teil des ZNS betroffen ist. Bestimmte Symptome kommen jedoch häufig vor, wie etwa Müdigkeit, Schwäche, Taubheit in Armen und Beinen, Schwierigkeiten beim Gehen, Sehstörungen, Kribbeln, Brennen, Störungen der Blasen- und Darmfunktion sowie Beeinträchtigung der Konzentrations- und Urteilsfähigkeit. Tröstlich ist dabei, dass viele Patienten „nicht zu Schwerbehinderten werden“, so die National Multiple Sclerosis Society in den Vereinigten Staaten. (Siehe den Kasten „Die vier Hauptverlaufsformen der MS“.)

MS ist im Frühstadium oft schwer zu diagnostizieren, wie das auch bei Avis der Fall war, denn die Symptome können auf mehrere Krankheiten hindeuten. Wenn den Ärzten jedoch bekannt ist, welche Beschwerden im Lauf der Patientenvorgeschichte aufgetreten sind, können sie eine sicherere Diagnose stellen. (Siehe den Kasten „Standardverfahren zur Diagnose von MS“.)

Weltweit sind etwa 2,5 Millionen Menschen an MS erkrankt. Diese Zahl schließt ungefähr 450 000 Europäer, 50 000 Kanadier und 350 000 US-Amerikaner ein. In den Vereinigten Staaten kommen wöchentlich rund 200 neue Fälle hinzu. In einem Fachbuch wird gesagt, MS stelle „neben den Neurotraumen die häufigste Ursache einer neurologischen Behinderung im frühen und mittleren Erwachsenenalter dar“. Frauen sind fast doppelt so häufig betroffen wie Männer, wobei die Symptome gewöhnlich zwischen dem 20. und dem 50. Lebensjahr einsetzen.

Behandlung

Da MS noch unheilbar ist, versuchen Ärzte die Krankheit in den Griff zu bekommen, indem sie den Krankheitsverlauf verlangsamen oder zum Stillstand bringen und die Symptome behandeln. Mittel, die darauf abzielen, das Fortschreiten von MS zu stoppen oder zu verlangsamen und die Stärke der Schübe abzumildern, sind unter anderem mindestens zwei Interferone (von Immunzellen gebildete natürliche Proteine) und das Medikament Glatirameracetat.

Manchen Patienten werden auch so genannte Kortikosteroide verschrieben, die entzündungshemmend wirken und bei Krankheitsschüben die Erholung beschleunigen sollen. In dem Fachbuch Das MSD Manual der Diagnostik und Therapie heißt es allerdings: „Eine Langzeittherapie mit Kortikosteroiden ist nur selten gerechtfertigt und kann zu zahlreichen Komplikationen führen, einschließlich Osteoporose, Ulzera und Diabetes.“ Außerdem lässt sich der langfristige Verlauf der Krankheit durch eine Steroidbehandlung wahrscheinlich nicht beeinflussen. Daher ziehen es manche Ärzte vor, leichte Schübe nicht zu behandeln. *

Manche Forscher verfolgen einen anderen Ansatz, indem sie Wege suchen, das beschädigte Myelin wiederherzustellen. In Laboruntersuchungen sind bereits Stammzellen identifiziert worden, die reife Myelin bildende Zellen hervorbringen können. Fände man heraus, wie sich dieser Prozess fördern lässt, könnte der Körper dazu angeregt werden, beschädigte Nerven zu reparieren.

Mit MS leben

Über 50 Prozent der MS-Patienten berichten, dass ihnen Müdigkeit mit am meisten zu schaffen macht. Sie kann die Krankheitssymptome verschlimmern und die berufliche Zukunft des Betroffenen beeinträchtigen. Auch kann sie bei Patienten das Gefühl hervorrufen, dass sie die Krankheit immer weniger im Griff haben. Viele Betroffene, die am Nachmittag sehr müde werden, erledigen ihre Arbeit deshalb lieber am Vormittag und halten regelmäßig einen Mittagsschlaf. Avis zum Beispiel ruht sich nachmittags immer eine Stunde aus. Dadurch konnte sie ihre freiwillige Tätigkeit als Vollzeitverkündigerin bis heute fortsetzen.

Im Hinblick auf die allgemeine Gesundheitspflege bei MS wird in dem Fachbuch Harrisons Innere Medizin 2 der besondere Wert eines gesundheitsbewussten Verhaltens betont, wozu „eine Stressreduktion, eine ausgewogene Ernährung, das Meiden schneller Gewichtsveränderungen und ausreichende Ruhephasen gehören“. Nach Ansicht der meisten Forscher kann Stress Krankheitsschübe auslösen. Deshalb lohnt es sich, typische Stressfaktoren zu erkennen und, so gut es geht, zu vermeiden.

Andererseits sollten MS-Patienten weiterhin so aktiv wie möglich am normalen Leben teilnehmen, dabei jedoch Überarbeitung, Übermüdung sowie extreme Hitze und Kälte vermeiden. Angemessene körperliche Betätigung ist ebenfalls zu empfehlen. In dem Buch Das MSD Manual der Diagnostik und Therapie heißt es: „Regelmäßige sportliche Betätigung (z. B. auf dem Hometrainer, Schwimmen, Streckübungen) wird empfohlen, selbst bei Patienten im fortgeschrittenen Stadium, da sie zu einem Training von Herz und Muskulatur führt, die Spastik verbessert und psychologisch günstig ist.“

„Es ist wichtig, dass man seinen Körper kennt“, sagt Avis. „Wenn ich merke, dass ich sehr müde werde oder meine Glieder kribbeln oder gefühllos werden, dann weiß ich, dass ich ein oder zwei Tage langsamer machen muss. Das hat mir geholfen, mit der Krankheit klarzukommen.“

Häufig leiden MS-Patienten auch an Depressionen, die jedoch nicht notwendigerweise direkt auf den Krankheitsverlauf zurückzuführen sind. Ist der erste Schock nach der Diagnose überwunden, folgen gewöhnlich verschiedene Phasen der Trauer, in denen Reaktionen wie Nicht-wahr-haben-Wollen, Wut, Frustration, Traurigkeit und Hilflosigkeit auftreten können. Solche Gefühle sind normal, lassen aber in der Regel nach und machen einer positiveren psychischen Verfassung Platz.

Wird bei jemandem MS diagnostiziert, geht das natürlich auch an seinen Angehörigen und Freunden nicht einfach so vorbei, denn sie trauern oft mit dem Erkrankten. Bemühen sie sich jedoch, Näheres über die Krankheit zu erfahren, dann kommen sie mit der Situation besser zurecht und können dem Patienten eine gute Stütze sein. So ist es zum Beispiel gut, zu wissen, dass MS die Lebensdauer nicht wesentlich beeinflusst, dass sie nicht ansteckend und auch nicht direkt erblich ist. Allerdings lassen wissenschaftliche Erkenntnisse durchaus auf eine genetische Disposition für MS schließen.

Viele MS-Patienten führen ein produktives und zufriedenes Leben. Avis schöpft zusätzliche Kraft aus ihrem guten Verhältnis zu Gott und aus ihrer biblisch begründeten Zukunftshoffnung. Ja, sie erwartet voller Sehnsucht die Zeit unter der Herrschaft des Königreiches Gottes, in der niemand mehr sagen wird: „Ich bin krank“ (Jesaja 33:24; Offenbarung 21:3, 4). All denen, die ebenfalls an MS oder an sonstigen schweren Krankheiten leiden, ist zu wünschen, dass der „Trost aus den Schriften“ sie stützen und ihnen helfen möge, mit ihren Prüfungen besser zurechtzukommen (Römer 15:4).

[Fußnote]

^ Abs. 12 Gemäß neueren Studien nehmen zwischen 50 und 60 Prozent der MS-Patienten Vitamine, Mineralstoffe, Heilkräuter und andere Nahrungsergänzungen zu sich. Obwohl diese für MS-Patienten wahrscheinlich meist harmlos sind, können doch manche negative Wirkungen haben oder sogar gefährlich sein. Bevor man also irgendwelche zusätzliche Behandlungen beginnt oder zu Nahrungsergänzungen greift, sollte man die Risiken erwägen.

[Kasten auf Seite 12]

Die vier Hauptverlaufsformen der MS

Schubförmig-remittierend: Mit 70 bis 80 Prozent aller Fälle die häufigste Variante bei Ausbruch der Symptome. Auf Krankheitsschübe folgen in deutlichem Wechsel Erholungsphasen (Remissionen), in denen die Symptome ganz oder teilweise abklingen. Zwischen den Schüben sind keine Anzeichen eines Fortschreitens der Krankheit erkennbar.

Sekundär-progressiv: 70 Prozent der Patienten mit schubförmig-remittierender MS entwickeln später die sekundär-progressive Form. Es können weiterhin Schübe auftreten, doch ist zwischen diesen ein langsamer, stetiger Verlust der Nervenfunktion feststellbar.

Progressiv-schubförmig: Etwa 10 Prozent der Patienten leiden an dieser Form der MS. Sie verschlimmert sich von Anfang an kontinuierlich. Es kommt zu akuten Schüben mit oder ohne Besserung. Im Gegensatz zur schubförmig-remittierenden Form schreitet die Erkrankung hier auch zwischen den Schüben fort.

Primär-progressiv: Diese Form liegt bei 10 bis 15 Prozent der Patienten vor. Die Krankheit schreitet von Beginn an nahezu kontinuierlich fort, ohne deutliche Schübe und Remissionen. Die Geschwindigkeit des Krankheitsverlaufs kann im Lauf der Zeit jedoch variieren, und es können vorübergehend Phasen leichter Besserung eintreten. Diese Form der MS tritt häufiger bei Menschen auf, die nach dem 40. Lebensjahr erkranken.

[Nachweis]

Quellen: U.S. National Multiple Sclerosis Society und das Buch Multiple Sclerosis in Clinical Practice. Die Prozentangaben in den Quellen weichen etwas voneinander ab.

[Kasten auf Seite 13]

Standardverfahren zur Diagnose von MS

Kernspintomographie: Bisher eines der wirksamsten bildgebenden Verfahren, mit dem sich das Gewebe im Gehirn sehr detailliert darstellen lässt. Die Bilder können Anzeichen für MS sichtbar machen beziehungsweise andere Krankheiten zumindest ausschließen, wenn der Patient MS hat.

Untersuchung der Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit (Liquor): Aus dem Rückenmarkkanal wird Liquor entnommen und auf auffällige Werte bestimmter Substanzen des Immunsystems untersucht sowie auf Substanzen, die von der Zerstörung des Myelins herrühren.

Testen evozierter Potenziale: Mithilfe von computergestützten Instrumenten wird die Durchschnittsgeschwindigkeit der Signalübertragung über die Nervenbahnen gemessen. Bei 80 bis 90 Prozent der MS-Patienten liegen diese Werte nicht im Normalbereich.

[Kasten/Bilder auf Seite 14]

Mit MS zurechtkommen

Unterstützung: Ein enges Verhältnis mit verständnisvollen, hilfsbereiten Angehörigen und Freunden fördert das Wohlergehen. Wer an MS leidet, sollte notfalls um Hilfe bitten und es vermeiden, sich abzukapseln.

Offene Kommunikation: Die Bereitschaft, offen über MS und die damit verbundenen Probleme zu sprechen, fördert das Verständnis und hilft auch dem Kranken selbst. Ist diese Bereitschaft jedoch nicht vorhanden, kann das zu Missverständnissen, Frustration und Isolation führen.

Spiritualität: Es gibt immer mehr Beweise dafür, dass eine geistige Gesinnung gesundheitsfördernd ist und sich auch sonst positiv auswirkt, indem sie Erkrankten zum Beispiel zu einer optimistischeren Zukunftsperspektive verhilft. Das stimmt mit den Worten Jesu überein, der sagte: „Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jeder Äußerung, die durch den Mund Jehovas ausgeht“ (Matthäus 4:4).

Humor: Mit MS ist zwar absolut nicht zu spaßen, doch Lachen kann sich gut auf die körperliche und psychische Verfassung auswirken.

[Nachweis]

Gestützt auf das Buch Multiple Sclerosis in Clinical Practice.

[Bild auf Seite 11]

MS kommt bei Frauen doppelt so häufig vor wie bei Männern

[Bild auf Seite 13]

Regelmäßige Bewegung wirkt sich gut auf die körperliche und psychische Verfassung aus