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„Einmal erkrankt, zweimal gelitten“

„Einmal erkrankt, zweimal gelitten“

„Einmal erkrankt, zweimal gelitten“

ERZÄHLT VON JACK MEINTSMA

Mit wirksamen Impfstoffen und intensiven Immunisierungsprogrammen hat man in dem Bemühen, die Kinderlähmung auszurotten, beachtliche Erfolge erzielt. Dennoch kommt es bei einigen, sogar Jahrzehnte nachdem die Krankheit überwunden ist, wieder zu Beschwerden, die man als Post-Polio-Syndrom (PPS) bezeichnet.

WAHRSCHEINLICH haben die meisten noch nie etwas von PPS gehört. Auch mir ging es so, bis ich selbst davon betroffen war. Damit man versteht, wie sich das Syndrom auf mich auswirkt, will ich schildern, was eines Tages im Jahr 1941 geschah. Damals war ich ein Jahr alt.

Meine Mutter hatte bemerkt, dass ich in meinem Kinderstuhl zusammengesackt war. Sie brachte mich in Windeseile zum Arzt. Nach der Untersuchung sagte der Arzt zu meiner Mutter: „Ihr Sohn hat spinale Kinderlähmung.“ * Kurz danach war ich von der Hüfte abwärts gelähmt.

Nach sechsmonatiger Wartezeit war endlich ein Platz im Krankenhaus frei. Jahrelang litt ich unter ständig wiederkehrenden Symptomen der Krankheit. Dank intensiver physiotherapeutischer Behandlung konnte ich die Beine allmählich wieder gebrauchen und mit 14 Jahren konnte ich schließlich laufen. Doch andere Behinderungen wie Inkontinenz blieben zurück. Im Lauf der Jahre musste ich eine Reihe von Operationen über mich ergehen lassen; auch war ich zeitweise auf einen Rollstuhl angewiesen. Hinzu kamen einige Reha-Maßnahmen. Trotzdem ist mein linker Fuß drei Schuhnummern kleiner als der rechte und mein linkes Bein drei Zentimeter kürzer als das rechte. Das unangenehme Problem der Inkontinenz bekam ich erst unter Kontrolle, als ich Anfang 20 war. Schließlich hatte ich Polio vollständig überwunden — so dachte ich jedenfalls.

Dann, im Alter von 45 Jahren, verspürte ich plötzlich Schmerzen in den Beinen, begleitet von allgemeiner Erschöpfung. Nachts raubten mir Muskelzuckungen in den Beinen den Schlaf. Die Beschwerden ließen nicht nach, sondern verschlimmerten sich. Man kann sich bestimmt vorstellen, wie überrascht ich war, als bei mir PPS diagnostiziert wurde — 44 Jahre nachdem meine Mutter die Symptome der ursprünglichen Krankheit bemerkt hatte.

Was ist Kinderlähmung?

Kinderlähmung oder Polio ist eine hochansteckende Virusinfektion. Das Virus gelangt durch den Mund in den Körper und vermehrt sich im Darm. Sobald das Nervensystem befallen ist, kann es schnell zu einer totalen Lähmung kommen. Das Virus wandert zum Gehirn und zum Rückenmark und löst anfänglich Symptome aus wie Fieber, Erschöpfung, Kopfschmerzen, Erbrechen, Nackensteifigkeit und Gliederschmerzen. Viele Nerven versagen den Dienst, sodass bestimmte Muskeln in den Armen, den Beinen und in der Brust gelähmt sind.

Aber die Selbstheilungskräfte des Körpers sind erstaunlich. Nicht betroffene Nerven bilden neue Bahnen, so als würden zusätzliche Telefonleitungen gelegt, und dadurch wird die Verbindung zu den Muskelzellen, die durch das Verkümmern der betreffenden Nerven unterbrochen war, wiederhergestellt. Außerdem können einzelne motorische Nervenzellen oder Motoneuronen im Rückenmark durch Sprossung mit viel mehr Muskelzellen Verbindung aufnehmen als vorher. So wird die Leistung der Nervenzellen enorm vergrößert. Eine motorische Nervenzelle, die zuvor möglicherweise 1 000 Muskelzellen aktiviert hat, kann dann zwischen 5 000 und 10 000 Zellen stimulieren. Das ist offenbar bei mir geschehen, sodass ich wieder laufen kann.

Derzeit nimmt man an, dass diese neuromuskulären Einheiten nach 15- bis 40-jähriger Beanspruchung Abnutzungserscheinungen aufweisen. PPS führt zu denselben Symptomen, die Jahrzehnte zuvor bei der ursprünglichen Polioerkrankung aufgetreten waren. Viele Patienten klagen über Muskelschwäche, Erschöpfung, Gelenk- und Muskelschmerzen, Kälteüberempfindlichkeit und Atembeschwerden. Die Zahl der an Polio Erkrankten ist zwar schwer festzustellen, doch nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation liegt sie weltweit bei 20 Millionen. Jüngste Erkenntnisse lassen darauf schließen, dass 25 bis 50 Prozent von ihnen unter Polio-Spätfolgen leiden.

Welche Hilfen gibt es?

Untersuchungen haben ergeben, dass sich die alten, überlasteten Motoneuronen so sehr abnutzen, dass einige Nervenendigungen verkümmern und viele Muskelfasern erneut unterversorgt sind. Um diesen Prozess zu verlangsamen, darf ein Poliobetroffener die geschädigte Muskulatur nicht mehr so stark belasten. Einige Therapeuten empfehlen Hilfsmittel wie Gehstöcke, Orthesen, Krücken, Rollstühle und Elektromobile. Ich muss beispielsweise an beiden Beinen und Füßen Schienen tragen. Damit ich nicht hinfalle, trage ich auch Spezialschuhe, die meine Knöchel stützen.

Je nach Verfassung können moderates Ausdauertraining und Dehnübungen angebracht sein. Schwimmen oder Warmwassertherapien eignen sich ausgezeichnet zur kardiovaskulären Kräftigung, weil die Muskulatur nicht belastet wird. Ganz gleich, um welches Trainingsprogramm es geht, sollte sich der Patient unbedingt mit dem Arzt oder dem Therapeuten beraten.

Bei Poliobetroffenen führt die ständige Überlastung der Motoneuronen schließlich dazu, dass einige Muskelfasern nicht mehr richtig funktionieren. Dadurch kann bei ihnen die Körperkraft abnehmen oder es kann zu Erschöpfungszuständen kommen. Dass die Widerstandskraft abnimmt, kann auch auf den Stress zurückzuführen sein, den die ständigen Schmerzen verursachen, oder aber damit zusammenhängen, dass man mit der erneut auftretenden Behinderung zurechtkommen muss. Ich habe festgestellt, dass über den Tag verteilte Ruhepausen mir helfen mich zu erholen. Viele Ärzte raten ihren Patienten, bei den täglichen Aktivitäten kürzer zu treten und sich nicht total zu verausgaben.

In meinem Fall sind die Gelenk- und Muskelschmerzen mit am schwersten zu ertragen. Manche Erkrankte klagen besonders über Schmerzen der Muskelpartien, die sie bei der täglichen Arbeit beanspruchen. Andere haben grippeähnliche Schmerzen in allen Muskeln und sind extrem müde.

Entzündungshemmende oder andere Medikamente mögen die Schmerzen verringern. Trotzdem leiden viele Patienten unter Kräfte raubenden chronischen Schmerzen. Physiotherapie sowie Wärme und Dehnübungen sind hilfreich. Eine von PPS betroffene Anästhesistin, die ihren Beruf aufgeben musste, erzählte mir, sie könne zwar aus dem Rollstuhl aufstehen und sich durchs Zimmer schleppen, doch die Schmerzen seien dabei fast unerträglich; daher nehme sie die Anstrengung gar nicht erst auf sich. Obwohl ich Medikamente nehme, bleibt auch mir häufig nichts anderes übrig, als den Rollstuhl zu benutzen.

Bei einigen Poliobetroffenen verliert die Haut ihre natürliche Fähigkeit, die Durchblutung zu regulieren und die Wärme im Muskelgewebe zu halten. Ohne diese Fähigkeit entweicht Wärme aus der betroffenen Gliedmaße und sie kühlt ab. Da die Verbindung von Motoneuronen und Muskeln gestört ist, leisten die Muskeln ihren Dienst nur unzureichend. Deshalb ist es wichtig, die Muskulatur durch zusätzliche Kleidung warm zu halten. Einige behelfen sich in kalten Nächten mit einer Heizdecke oder einer Wärmflasche. Es ist auch ratsam, bei kaltem Wetter in der Wohnung zu bleiben. Ich musste zum Beispiel in eine wärmere Gegend umziehen.

Atembeschwerden sind besonders bei Patienten mit Bulbärpoliomyelitis üblich, einer Form von Polio, die den Teil des Zentralnervensystems zwischen Rückenmark und Gehirn betrifft und die Atemmuskulatur schwächt. Früher kamen viele, die an dieser Art Polio litten, in die eiserne Lunge. Heute gibt es Beatmungsgeräte, die zur Stärkung der Atemmuskulatur eingesetzt werden. Mir fällt beispielsweise das Atmen sehr schwer, wenn ich mich anstrenge. Daher benutze ich tagtäglich ein kleines Gerät, mit dem ich meine Atemmuskulatur trainiere.

Poliobetroffene müssen sich auch vor einer anderen Gefahr hüten. Es wird davon abgeraten, nach einer Operation noch am selben Tag das Krankenhaus zu verlassen. Dr. Richard L. Bruno vom Kessler Institute for Rehabilitation erklärt: „EIN POLIOPATIENT DARF AUF KEINEN FALL AM TAG EINER OPERATION NACH HAUSE GESCHICKT WERDEN, es sei denn, der Eingriff erfordert nur eine örtliche Betäubung.“ Er bemerkte noch, dass die Betreffenden doppelt so lange brauchen, um sich von der Anästhesie zu erholen, und möglicherweise zusätzlich Schmerzmittel benötigen. Sie müssen somit länger als andere Patienten im Krankenhaus bleiben. Hätte ich das gewusst, wäre mir vor kurzem wahrscheinlich eine Lungenentzündung nach einem Eingriff erspart geblieben. Es ist ratsam, vor einer Operation mit dem Chirurgen und dem Anästhesisten über eventuelle Gefahren zu sprechen.

Mein Leben heute

Als ich mit 14 Jahren laufen konnte, glaubte ich, das Schlimmste überstanden zu haben. Doch viele Jahre später fing alles wieder von vorn an. Für PPS-Betroffene wie mich trifft folgende Äußerung zu: „Einmal erkrankt, zweimal gelitten.“ Natürlich ist es ganz normal, hin und wieder deprimiert zu sein. Aber ich kann mich noch allein fortbewegen und mich selbst versorgen. Meine beste Medizin ist eine lebensbejahende Einstellung und die Fähigkeit, mich den sich verändernden Umständen anzupassen. Außerdem bin ich dankbar für das, was ich noch tun kann.

Als ich zum Beispiel vor 10 Jahren mit dem christlichen Vollzeitpredigtdienst anfing, war es mit meiner Beweglichkeit besser bestellt als heute. Ich konnte eine beträchtliche Strecke zurücklegen, ohne müde zu werden oder starke Schmerzen zu verspüren. Momentan kann ich nur sehr kurze Strecken bewältigen. Um Kraft zu sparen, meide ich das Treppensteigen und gehe kaum bergauf. Wann immer möglich, benutze ich den Rollstuhl. Ich bin sehr froh, dass ich meinen Dienst auf diese Weise durchführen kann und dabei noch etwas für meine Gesundheit tue.

Natürlich wirkt sich PPS nachteilig auf mein Leben aus. Und es könnte sein, dass es mir irgendwann noch schlechter geht als jetzt, doch mich tröstet die biblische Verheißung einer neuen Welt, in der alle jung, gesund und voller Elan sein werden. Im Lauf der Jahre habe ich oft über die ermutigenden Worte aus Jesaja 41:10 nachgedacht: „Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir. Blicke nicht gespannt umher, denn ich bin dein Gott. Ich will dich stärken. Ich will dir wirklich helfen.“ Im Vertrauen auf Gottes Hilfe bin ich entschlossen, nicht aufzugeben, bis PPS der Vergangenheit angehört.

[Fußnote]

^ Abs. 5 Auch Poliomyelitis oder Polio genannt.

[Kasten auf Seite 20]

Leide ich vielleicht am Post-Polio-Syndrom?

Die meisten Experten diagnostizieren PPS, wenn einige der folgenden Kriterien gleichzeitig erfüllt sind:

▪ Der Nachweis einer früher durchgemachten Poliomyelitis

▪ Nach einer Erholungsphase muss ein klinisch stabiles Intervall von mindestens 15 Jahren vorhanden sein

▪ Allmähliche oder plötzlich einsetzende Muskelschwäche, Ermüdbarkeit, Muskelatrophie oder Muskel- und Gelenkschmerzen

▪ Probleme beim Atmen und Schlucken

▪ Die Symptome bestehen seit mindestens einem Jahr

▪ Ausschluss anderer neurologischer, medizinischer oder orthopädischer Ursachen

Nicht bei allen, die einmal an Polio erkrankt waren, kommt es zu PPS, wenngleich mit zunehmendem Alter bei ihnen naturgemäß eine vorzeitige Ermüdung und ein Abbau der neuromuskulären Einheiten auftreten kann. Überdies leiden mehr als die Hälfte aller früheren Poliopatienten, die mit neuen Symptomen einen Arzt aufsuchen, nicht an PPS. Ein Mediziner bemerkt: „Sechzig Prozent der Betroffenen mit neuen Symptomen haben medizinische oder neurologische Beschwerden, die nichts mit Polio zu tun haben und behandelt werden können. Bei der Hälfte der übrigen Patienten treten zunehmend orthopädische Beschwerden auf, die auf Polio-Residuen zurückgehen.“

[Kasten auf Seite 21]

Gibt es ein Heilmittel?

Da es keine bestätigte Ätiologie oder Ursache gibt — und somit kein spezifisches Testverfahren —, ist momentan eine Heilung des Post-Polio-Syndroms nicht möglich. Allerdings gibt es drei Ansätze im Bereich der Rehabilitationsmaßnahmen. Wie eine Medizinerin betont, „ziehen mehr als 80 Prozent der PPS-Patienten Nutzen aus Reha-Maßnahmen“.

Es handelt sich um folgende:

1. Veränderte Lebensweise

▪ mit den Kräften haushalten

▪ Hilfsmittel benutzen

▪ kein Krafttraining

▪ sich warm halten

2. Medikamente und Nahrungsergänzungen

Es sind zwar viele Medikamente und natürliche Nahrungsergänzungen verordnet und ausprobiert worden, aber nichts hat wirklich geholfen. Es gibt immer wieder Patienten, die davon berichten, dass ihnen dies oder jenes geholfen habe, aber es ist noch weitere Forschungsarbeit nötig. Man sollte auch bedenken, dass sich Heilkräuter möglicherweise mit verschriebenen Medikamenten nicht vertragen. Daher ist es vernünftig, stets ärztlichen Rat einzuholen, bevor man sich für ein Mittel entscheidet.

3. Lebensqualität

„Die beste Medizin, die ein Arzt einem PPS-Betroffenen verschreiben kann, ist Aufklärung und Zuspruch. . . . Patienten, die sich leichter auf eine veränderte Lebensweise einstellten (diejenigen, die findiger waren, die ergonomische Lebensbedingungen, besseren Zugang zu Informationen sowie Unterstützung hatten und die bereit waren, auf Hilfsmittel zurückzugreifen), kamen mit den Anforderungen im täglichen Leben besser zurecht“ (Dr. Susan Perlman).

[Kasten auf Seite 22]

Wie steht es mit Übungen?

Anfangs riet man Polioerkrankten, die auf dem Weg der Besserung waren, so lange Übungen zu machen, bis es schmerze. In den 1980er Jahren wurde dann jedoch auf die damit verbundenen Gefahren aufmerksam gemacht — hauptsächlich auf die Abnutzung der funktionsfähigen Muskelfasern.

Heute empfehlen Mediziner den goldenen Mittelweg. Ihre Botschaft lautet: „Übertreiben Sie nicht, aber hüten Sie sich vor Bewegungsmangel.“ Ein amerikanisches Bundeszentrum für körperliche Bewegung und Körperbehinderung erklärt: „Gemäß neuen Erkenntnissen sollte man ungeachtet des Grades der Behinderung den Wert der Bewegung nicht unterschätzen und alles daransetzen, einen flexiblen Übungsplan aufzustellen, der den jeweiligen Bedürfnissen genau angepasst ist. Dann sollte man sich daran halten, um das gewünschte Ziel zu erreichen.“

Zusammenfassung: Ein individuelles Trainingsprogramm sollte . . .

▪ mit einem sachkundigen Arzt oder Physiotherapeuten aufgestellt werden

▪ maßvoll beginnen und sich allmählich steigern

▪ eine Aufwärm- und Abkühlphase vorsehen

▪ Dehn- und modifizierte Aerobicübungen enthalten

▪ wenn möglich Warmwasseranwendungen im Schwimmbad einschließen.

Ein Mediziner erklärte dazu im Johns Hopkins Medical Letter: „Wenn Müdigkeit und Schmerzen länger als eine Stunde anhalten, sind die Muskeln überlastet.“ Man muss also auf seinen Körper hören und darf es nicht so weit kommen lassen, dass sich Schmerzen, Erschöpfung und Schwäche einstellen.

[Kasten auf Seite 23]

Was sind die Risikofaktoren?

Obwohl jeder Fall anders liegt, können doch folgende Faktoren das Risiko für Polio-Spätfolgen erhöhen.

Der Schweregrad der ursprünglichen Polio-Infektion. Allgemein gesagt, je schwerer die anfängliche Krankheit, desto höher das PPS-Risiko.

Das Alter bei Ausbruch. Wer in jungen Jahren erkrankt, ist weniger gefährdet.

Erholung. Je besser und vollständiger die ursprüngliche Infektion ausgeheilt ist, umso größer ist erstaunlicherweise die Wahrscheinlichkeit, dass es zum Post-Polio-Syndrom kommt.

Körperliche Betätigung. Hat sich ein früher an Polio Erkrankter jahrelang bis zur Erschöpfung verausgabt, kann das Risiko, an PPS zu erkranken, erhöht sein.

[Bild auf Seite 19]

Als 11-Jähriger mit einer Krankenschwester nach einer Operation

[Bild auf Seite 23]

Mit meiner Frau unterwegs im Vollzeitpredigtdienst (ein neueres Foto)