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Der „Ritt durch das Nadelöhr“

Der „Ritt durch das Nadelöhr“

Der „Ritt durch das Nadelöhr“

VON EINEM ERWACHET!-MITARBEITER IN AUSTRALIEN

EINE Meeresstraße, die die Reise von England nach Sydney um 600 Seemeilen (1 100 km) verkürzte — mit dieser Entdeckung sorgten britische Forschungsreisende 1798 in Schifffahrtskreisen für Begeisterung. Es handelte sich um die Bass-Straße, die Tasmanien vom australischen Festland trennt.

Allerdings ist diese Passage eine der am schwierigsten zu befahrenden Wasserstraßen der Welt. Nicht selten entstehen dort die gefürchteten Kreuzseen: unberechenbare Wellenberge, hervorgerufen durch stürmische Westwinde und starke Gegenströmungen bei einer relativ geringen durchschnittlichen Wassertiefe von 50 bis 70 Metern. Und dass dazu noch mitten in der westlichen Einfahrt zur Bass-Straße die zerklüfteten Felsenriffe von King Island liegen, macht die Durchfahrt auch nicht gerade weniger gefährlich.

Heutzutage ist das Navigieren durch diese Meerenge relativ leicht. Zu Zeiten der Segelschiffe, die mit einfachsten Navigationsinstrumenten unterwegs waren, sah das aber ganz anders aus! Von Westen her in die Bass-Straße hineinzusegeln war eine höchst nervenaufreibende Angelegenheit, treffend beschrieben als „Ritt durch das Nadelöhr“.

Segeln entlang der Großkreisroute

Anfang des 19. Jahrhunderts brauchten Schiffe für die gut 10 000 Seemeilen (19 000 km) von England nach Ostaustralien bis zu 5 Monate. Und die Reise war alles andere als angenehm! Hunderte Passagiere — meist Auswanderer oder Sträflinge — waren unter erbärmlichen Bedingungen zusammengepfercht. Nicht nur dass Seekrankheit, Unterernährung und Seuchen grassierten; auch Ungeziefer war allgegenwärtig. Der Tod wurde zum ständigen Reisebegleiter. * Doch die Aussicht auf ein besseres Leben gab vielen Kraft und Durchhaltevermögen.

Ein Wendepunkt war dann 1852 die Entdeckung einer kürzeren Route durch Kapitän James (Bully) Forbes. Statt entlang des 39. Breitengrads zu segeln, der scheinbar kürzesten Route durch den südlichen Indischen Ozean nach Australien, nahm er die weiter südlich in Richtung Antarktis verlaufende Großkreisroute von England nach Südostaustralien. * Sein Schiff, die Marco Polo, mit 701 Auswanderern an Bord begegnete zwar unterwegs Eisbergen und hatte mit Riesenwellen zu kämpfen, lief aber nach nur 68 Tagen in den Hafen von Melbourne (Victoria) ein — praktisch in der Hälfte der bis dahin üblichen Reisezeit. Diese Rekordfahrt kam genau zum richtigen Zeitpunkt: Der Goldrausch in Victoria war gerade auf seinem Höhepunkt, und auf die Nachricht von der schnelleren Überfahrt hin suchten Tausende angehende Goldgräber einen Platz auf den Schiffen nach Down Under zu ergattern, dem Land am anderen Ende der Welt.

Nach der Abfahrt aus England kam erst nach rund 8 500 Seemeilen (über 15 000 km) wieder Land in Sicht — bei Cape Otway. Unterwegs stellten Navigatoren mithilfe von Seekarten, astronomischen Tabellen und einem Sextanten fest, auf welchem Breitengrad man sich gerade befand. Mit dem Schiffschronometer, das auf die am Nullmeridian gültige Greenwicher Zeit eingestellt war, bestimmten sie den aktuellen Längengrad: Die Ortszeit wurde durch den Sonnenstand ermittelt, und jede Stunde Zeitunterschied zwischen Ortszeit und Greenwicher Zeit machte 15 Grad Längenunterschied aus. Mit diesen beiden Angaben — Breitengrad und Längengrad — konnte ein guter Navigator einigermaßen genau die Position des Schiffes bestimmen.

Das hört sich allerdings einfacher an, als es mitunter war. Tage konnten vergehen, ohne dass die Wolken am Himmel einen Blick auf die Sonne zuließen. Außerdem gingen die ersten Schiffschronometer nicht immer auf die Sekunde genau. Wichen sie nur eine Sekunde pro Tag ab, konnte ein Schiff in drei Monaten gut und gern 25 Seemeilen (fast 50 km) vom Kurs abkommen. Bei Regen, Nebel oder Dunkelheit bestand dann die große Gefahr, die Einfahrt in die Bass-Straße zu verpassen und an der tückischen Felsenküste von Victoria oder King Island zu zerschellen. So mancher Reisende dürfte ähnlich empfunden haben wie der Kapitän, der, als er aus sicherer Entfernung Cape Otway erblickte, erleichtert ausrief: „Gott sei Dank! Wir haben uns nicht verrechnet!“ Es spricht für das Geschick der Seeleute des 19. Jahrhunderts, dass die allermeisten den „Ritt durch das Nadelöhr“ unbeschadet überstanden. So gut ging es aber nicht immer aus.

Ein Schiffsfriedhof

In den frühen Morgenstunden des 1. Juni 1878 segelte der Dreimaster Loch Ard durch dichten Nebel auf die Küste Victorias zu. Schon am Vortag hatte der Nebel die Sextantenmessung der Mittagssonne durch den Kapitän verhindert. Infolgedessen war das Schiff der Küste des australischen Festlandes viel näher, als er dachte. Plötzlich lichtete sich der Nebel und gab den Blick frei auf die fast 100 Meter hohen Klippen in kaum zwei Kilometer Entfernung. Verzweifelt mühte sich die Besatzung, das Schiff zu wenden, doch Wind und Gezeiten machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Nicht einmal eine Stunde später lief die Loch Ard krachend auf ein Riff auf und sank binnen 15 Minuten.

Von den 54 Menschen an Bord kamen nur zwei mit dem Leben davon: der Schiffsjunge Tom Pearce und die Passagierin Eva Carmichael — beide noch Teenager. Tom klammerte sich im eiskalten Wasser stundenlang an ein gekentertes Rettungsboot. Schließlich wurde er von der Gezeitenströmung in eine enge Schlucht zwischen den Klippen gespült. Er erblickte einen mit Trümmern übersäten schmalen Sandstrand und brachte sich schwimmend dorthin in Sicherheit. Eva war Nichtschwimmerin und klammerte sich deshalb vier Stunden lang an Trümmerteile des Schiffs, bis sie in dieselbe Schlucht gespült wurde. Als sie Tom am Strand sah, rief sie um Hilfe. Tom stürzte sich wieder in die Wellen, und nach einstündigem Kampf gelang es ihm, die mittlerweile halb bewusstlose Eva an den Strand zu ziehen. Sie berichtete: „Er brachte mich in eine unheimlich anmutende Höhle, rund 50 Meter vom Strand entfernt. Nachdem er eine Kiste mit Brandy gefunden hatte, öffnete er eine Flasche und flößte mir ein wenig davon ein, was meine Lebensgeister wieder weckte. Er riss etwas langes Gras und ein paar Büsche aus und bettete mich darauf. Schon bald verlor ich erneut das Bewusstsein und muss etliche Stunden ohnmächtig gewesen sein.“ In der Zwischenzeit kletterte Tom die Felsen hinauf und suchte Hilfe. Knapp 24 Stunden nach dem Untergang der Loch Ard wurden Tom und Eva in ein nahe gelegenes Farmhaus gebracht. Eva verlor bei dem Unglück beide Eltern und alle fünf Geschwister.

Heute fahren Jahr für Jahr Tausende von Schiffen, große und kleine, sicher durch die Bass-Straße. Dabei passieren sie womöglich über 100 Wracks, deren Lage bekannt ist. Einige dieser Unglücksstellen, wie die Felsformation Loch Ard Gorge im Port-Campbell-Nationalpark von Victoria, sind mittlerweile Touristenattraktionen. Sie erinnern an die Menschen, die sich im 19. Jahrhundert beherzt auf eine Reise um die halbe Welt machten und auf der letzten Etappe mutig den „Ritt durch das Nadelöhr“ wagten — all das auf der Suche nach einem besseren Leben.

[Fußnoten]

^ Abs. 7 1852 hat jedes fünfte Kind im Alter von bis zu 12 Monaten die Überfahrt nach Australien nicht überlebt.

^ Abs. 8 Ein straff gespannter Faden zwischen zwei beliebigen Punkten auf einer Kugel stellt immer die kürzeste Verbindung dar. Sie verläuft auf dem Großkreis, der die Kugel in zwei gleiche Hälften teilt.

[Kasten/Bilder auf Seite 17]

WAS WURDE EIGENTLICH AUS TOM UND EVA?

Tom Pearce und Eva Carmichael, die einzigen Überlebenden der Loch Ard, wurden schlagartig in ganz Australien berühmt. Wie es in dem Buch Cape Otway—Coast of Secrets heißt, „stilisierten Zeitungen das Schiffsunglück zur Sensation hoch, feierten Pearce als Helden, verklärten Eva Carmichael zur Schönheit und wollten die beiden unbedingt verkuppeln“. Tom machte Eva zwar einen Antrag, aber sie gab ihm einen Korb und kehrte 3 Monate später nach Irland zurück. Dort heiratete sie jemand anders und gründete eine Familie. 1934 starb sie mit 73 Jahren. Tom heuerte wieder auf einem Schiff an und erlitt kurz darauf erneut Schiffbruch. Auch diesen überlebte er. Viele Jahre fuhr er als Kapitän von Passagierdampfern zur See, bevor er 1909 im Alter von 50 Jahren verstarb.

[Bildnachweis]

Beide Fotos: Flagstaff Hill Maritime Village, Warrnambool

[Diagramm/Bild auf Seite 15]

(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

Forbes segelte mit der „Marco Polo“ (oben) auf der wesentlich kürzeren Großkreisroute von England nach Australien

[Diagramm]

DIE ALTE ROUTE

39. Breitengrad

DIE GROSSKREISROUTE

Südlicher Polarkreis

[Karte]

ATLANTISCHER OZEAN

INDISCHER OZEAN

ANTARKTIS

[Bildnachweis]

Aus der Zeitung The Illustrated London News vom 19. Februar 1853

[Diagramm/Karte auf Seite 16, 17]

(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

Von Westen in die Bass-Straße hineinzusegeln wurde als „Ritt durch das Nadelöhr“ beschrieben

[Karte]

AUSTRALIEN

VICTORIA

MELBOURNE

Port-Campbell-Nationalpark

Cape Otway

Bass-Straße

King Island

TASMANIEN

[Bild auf Seite 16]

Nachdem die „Loch Ard“ auf ein Riff aufgelaufen war, sank sie binnen 15 Minuten

[Bildnachweis]

La Trobe Picture Collection, State Library of Victoria

[Bild auf Seite 17]

Port-Campbell-Nationalpark: 1. hier lief die „Loch Ard“ auf Grund; 2. die Höhle, in der Tom und Eva Schutz fanden

[Bildnachweis]

Photography Scancolor Australia