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Was mich an Jehovas Zeugen beeindruckt hat

Was mich an Jehovas Zeugen beeindruckt hat

Was mich an Jehovas Zeugen beeindruckt hat

Erzählt von Tomás Orosco

Als ich das erste Mal eine Zusammenkunft von Jehovas Zeugen besuchte, stand ein kleiner Junge auf der Bühne und erklärte etwas aus der Bibel. Er konnte zwar kaum über das Pult hinausschauen, machte seine Sache aber wirklich gut und ganz souverän. Das hat mir sehr imponiert.

ALLE um mich herum hörten ihm gespannt zu. Als ehemaliger Militärdiplomat Boliviens in den Vereinigten Staaten, Kommandeur der bolivianischen Marine und rechte Hand des Präsidenten war ich es gewohnt, dass man mir mit Respekt begegnete. Doch als ich sah, wie viel Respekt dem Jungen entgegengebracht wurde, fing ich an, meine Ziele im Leben neu zu überdenken.

Mein Vater starb Mitte der 1930er-Jahre im sogenannten Chacokrieg zwischen Paraguay und Bolivien. Kurz danach kam ich in ein katholisches Internat. Viele Jahre lang ging ich jeden Tag zur Messe, wo wir Kirchenlieder sangen, der Predigt zuhörten und Gebete aufsagten. Ich wurde sogar Ministrant und sang im Chor. Die Bibel habe ich allerdings nie gelesen; ich bekam nicht einmal eine zu Gesicht.

Die kirchlichen Feiertage gefielen mir gut, denn da war immer etwas los und sie brachten ein bisschen Abwechslung. Aber die Priester und religiösen Erzieher waren streng und wirkten auf mich eher abstoßend als anziehend. Ich fand, dass ich, was Religion anging, meinen guten Willen gezeigt hatte.

Die Ordnung beim Militär sagt mir zu

Eines schönen Tages kamen zwei junge Offiziere in schmucken Uniformen auf Urlaub in meine Heimatstadt Tarija. Sie waren aus La Paz, der größten Stadt Boliviens. Es war ein schöner Sonnentag und sie schlenderten elegant über unseren großen Platz. Ihre edle, gepflegte und würdevolle Erscheinung imponierte mir sehr. Sie trugen grüne Paradeuniformen mit glänzenden Mützen. In diesem Augenblick stand für mich fest, dass ich Offizier werden wollte. Ich war mir sicher, dass sie ein aufregendes Leben führten und viele Heldentaten vollbrachten.

1949 wurde ich mit 16 in die Militärakademie aufgenommen. Mein älterer Bruder reihte sich mit mir in die lange Schlange von jungen Rekruten vor dem Kasernentor ein. Er ging mit mir zum Leutnant, bat ihn, gut auf mich aufzupassen, und legte noch ein gutes Wort für mich ein. Als er weg war, wurde ich erst einmal wie die anderen Neuen mit der üblichen Begrüßung empfangen. Ich wurde zu Boden geschlagen und bekam zu hören: „Wir wollen doch mal sehen, wer hier für wen ein gutes Wort einlegt!“ Das war meine erste Bekanntschaft mit militärischer Zucht und Ordnung durch Druck und Einschüchterung. Ich war jedoch hart im Nehmen — und verletzt war nur mein Stolz.

Mit der Zeit wurde ich ein tüchtiger Soldat und ein angesehener Offizier. Auch wenn Militärangehörige sehr würdevoll und adrett wirken, hat mich die Erfahrung doch gelehrt, dass der Schein oft trügt.

Ich steige auf der Karriereleiter nach oben

Zu Anfang meiner Karriere wurde ich auf dem argentinischen Schlachtkreuzer General Belgrano ausgebildet, der Platz für über 1 000 Mann bot. Er war vor dem 2. Weltkrieg von den Amerikanern unter dem Namen USS Phoenix vom Stapel gelassen worden und hatte den Angriff der Japaner auf Pearl Harbor (Hawaii) 1941 unbeschädigt überstanden.

Im Lauf der Zeit arbeitete ich mich zum Vizekommandanten der bolivianischen Marine hoch, die die Grenzflüsse des Landes abpatrouillierte. Dazu gehörten die Flüsse im Amazonasbecken und der größte schiffbare Hochlandsee der Erde, der Titicacasee.

Im Mai 1980 wurde ich dann mit einer Abgesandtschaft Militärdiplomaten in die amerikanische Hauptstadt Washington geschickt. Man hatte von jeder Teilstreitkraft (Heer, Luftwaffe, Marine) einen hochrangigen Offizier ausgesucht. Aufgrund meines Dienstalters wurde ich zum Koordinator der Gruppe ernannt. Fast zwei Jahre lebte ich in den USA. Später wurde ich der persönliche Assistent des bolivianischen Präsidenten.

Als hoher Militär gehörte der sonntägliche Kirchgang für mich zum Pflichtprogramm. Ernüchternd für mich war, dass Kapläne und Priester bei Aufständen und Kriegen mitmachten. Mir war bewusst, dass die Kirchen das Blutvergießen nicht hätten unterstützen dürfen. Die Heuchelei hat mich trotzdem nicht grundsätzlich vom Thema Religion abgeschreckt, sondern mir eher noch den Anstoß gegeben, nach der Wahrheit zu suchen. Ich hatte zuvor nie in der Bibel gelesen, doch nun schlug ich sie manchmal einfach irgendwo auf und las ein paar Verse.

Die Ordnung im Königreichssaal

Zu meiner Überraschung fing meine Frau Manuela ein Bibelstudium an. Geholfen hat ihr dabei Janet, eine Missionarin der Zeugen Jehovas. Manuela ging dann auch mit in den Königreichssaal, wo die Zeugen ihre Gottesdienste abhielten. Es machte mir nichts aus, sie dorthin zu fahren, aber mit hineingehen wollte ich nicht. Ich dachte mir, dort würde es bestimmt recht laut und gefühlsgeladen zugehen.

Eines Tages fragte mich Manuela, ob Janets Mann mich einmal besuchen könnte. Zuerst war ich dagegen, aber dann dachte ich mir, dass ich ihm aufgrund meiner religiösen Vorgeschichte bestimmt haushoch überlegen wäre. Das Erste, was mich an Ian beeindruckte, war nicht so sehr, was er sagte, sondern sein Benehmen. Er versuchte nicht, mich mit seinem Bibelwissen als ausgebildeter Missionar in die Enge zu treiben. Im Gegenteil, er war freundlich und respektvoll.

Eine Woche später ging ich mit in den Königreichssaal, wo dann der kleine Junge eine Passage aus dem Bibelbuch Jesaja vorlas und erklärte. Wie ich ihm so zuhörte, wurde mir klar, dass ich da auf eine einmalige Organisation gestoßen war. Es war schon paradox: Als kleiner Junge wollte ich ein angesehener Offizier werden — und jetzt als angesehener Offizier wollte ich wie dieser kleine Junge sein und anderen die Bibel erklären. Mein Herz wurde mit einem Mal ganz weich und ging weit auf.

Was mir an den Zeugen bald sehr angenehm auffiel, war ihre Pünktlichkeit und ihre Herzlichkeit mir gegenüber. Sie gaben mir wirklich das Gefühl dazuzugehören. Ihre ordentliche, ansprechende Aufmachung machte großen Eindruck auf mich. Besonders gut gefiel mir auch der geordnete Ablauf der Zusammenkünfte: War ein bestimmter Vortrag angekündigt, konnte ich darauf bauen, dass er an dem Tag auch gehalten wurde. Ich begriff, dass der Motor hinter all der Disziplin und Ordnung Liebe war, nicht Druck und Einschüchterung.

Nach meiner ersten Zusammenkunft bei den Zeugen wollte ich gern die Bibel studieren. Ian und ich benutzten dazu das Buch Du kannst für immer im Paradies auf Erden leben. * Noch gut in Erinnerung ist mir ein Bild im 3. Kapitel, auf dem ein Bischof eine Gruppe Soldaten vor einem Einsatz segnet. Ich zweifelte dieses Bild keine Sekunde an, denn ich hatte solche Szenen mit eigenen Augen gesehen. Im Königreichssaal besorgte ich mir das Buch Unterredungen anhand der Schriften und las mir durch, was die Bibel zur Neutralität sagt. Da wusste ich, dass ich nicht so weitermachen konnte wie bisher. Von dem Zeitpunkt an wollte ich nichts mehr mit der Kirche zu tun haben und ging regelmäßig in den Königreichssaal. Außerdem plante ich meinen Ausstieg aus dem Militär.

Auf dem Weg in Richtung Taufe

Wenige Wochen später erfuhr ich, dass ein Kongress geplant war und das Stadion dafür geputzt werden sollte. Ich freute mich schon auf den Kongress und half den Zeugen beim Saubermachen. Es machte mir viel Spaß, mit allen zusammenzuarbeiten, und ich fühlte mich in ihrer Gesellschaft sehr wohl. Ich fegte gerade den Boden, als mich ein junger Mann fragte, ob ich der Admiral sei.

„Ja“, antwortete ich.

„Das gibts ja nicht!“, meinte er fassungslos. „Ein Admiral fegt den Boden!“ Für einen hochrangigen Offizier war es unter der Würde, einen Schnitzel Papier aufzuheben oder gar zu fegen. Der junge Mann war früher mein Chauffeur gewesen und mittlerweile Zeuge Jehovas geworden.

Zusammenarbeit aus Liebe

Die Disziplin und Ordnung beim Militär basiert auf Respekt vor dem Dienstgrad — etwas, was auch mir in Fleisch und Blut übergegangen war. So fragte ich zum Beispiel, ob manche Zeugen Jehovas wegen ihrer Aufgaben oder Verantwortlichkeiten höher standen als andere. Ich hatte nach wie vor ein stark ausgeprägtes Rang- und Positionsdenken. Das sollte sich jedoch bald von Grund auf ändern.

1989 wollte ein Mitglied der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas aus New York nach Bolivien kommen und bei uns im Stadion einen Vortrag halten. Ich war gespannt, wie man jemand von der „Elite“ empfangen würde, und dachte, dass man ihn bestimmt irgendwie mit besonderen Ehren begrüßen würde.

Nun ja, das Programm ging los, und weit und breit war nichts davon zu sehen, dass jemand Prominentes eingetroffen wäre. Ich war etwas irritiert. Neben Manuela und mich hatte sich ein älteres Ehepaar gesetzt. Manuela sah, dass die Frau ein englisches Liederbuch hatte, und unterhielt sich während der Pause mit ihr. Danach war das Ehepaar allerdings verschwunden.

Etwas später sahen wir auf einmal, wie der Mann von dieser Frau auf die Bühne ging und den Hauptvortrag hielt. Wir trauten unseren Augen nicht! In diesem Moment wurde alles, was ich beim Militär über Rang, Respekt, Autorität und Position gelernt hatte, revidiert. Hinterher erzählte ich: „Stellt euch bloß vor! Neben uns, auf diesen unbequemen Sitzen, saß doch tatsächlich der Bruder von der leitenden Körperschaft!“

Heute muss ich schmunzeln, wenn ich daran denke, wie oft mir Ian klarmachen wollte, was Jesus mit den Worten in Matthäus 23:8 meinte: „Ihr alle [seid] Brüder.“

Zum ersten Mal von Haus zu Haus

Als ich schließlich aus dem Militär ausgeschieden war, fragte mich Ian, ob ich nicht mit ihm von Haus zu Haus gehen will (Apostelgeschichte 20:20). Nun gingen wir ausgerechnet in ein Gebiet, wo ich eigentlich nicht hinwollte: eine Ecke, wo lauter Leute vom Militär wohnten. In einem Haus machte ein General auf, dem ich am allerwenigsten begegnen wollte. Ich bekam weiche Knie, zumal er mich mit einem Blick auf meine Tasche und meine Bibel von oben herab fragte: „Wo sind Sie denn gelandet?!“

Nach einem Stoßgebet gewann ich meine Fassung zurück und wurde ganz ruhig. Der General hörte sich an, was ich zu sagen hatte, und nahm sogar etwas zum Lesen. Nach diesem Erlebnis hielt mich nichts mehr davon ab, mein Leben ganz Jehova zu schenken. Ich ließ mich am 3. Januar 1990 taufen.

Nach und nach sind auch meine Frau, mein Sohn und meine Tochter Zeugen Jehovas geworden. Ich bin jetzt in unserer Versammlung ein Ältester und setze außerdem einen Großteil meiner Zeit dafür ein, die gute Botschaft von Gottes Königreich weiterzugeben. Die größte Ehre für mich ist allerdings, dass ich Jehova kennenlernen durfte und auch weiß, dass er mich kennt. Das ist mehr wert als jeder Rang und Name in dieser Welt. Es ist wirklich wahr: Disziplin und Ordnung sollten nicht auf Strenge und Härte basieren, sondern auf Warmherzigkeit und liebevollem Interesse. Jehova ist ein Gott der Ordnung, doch vor allem ist er ein Gott der Liebe (1. Korinther 14:33, 40; 1. Johannes 4:8).

[Fußnote]

^ Abs. 21 Dieses von Jehovas Zeugen herausgegebene Buch wird mittlerweile nicht mehr aufgelegt.

[Bild auf Seite 13]

Mein Bruder Renato und ich (1950)

[Bild auf Seite 13]

Bei einem Treffen mit Militärangehörigen aus China und anderen Ländern