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Das Rätseln um das „Längenproblem“

Das Rätseln um das „Längenproblem“

Das Rätseln um das „Längenproblem“

Am 22. Oktober 1707 segelte eine Flotte britischer Kriegsschiffe auf dem Atlantik in Richtung Ärmelkanal. Plötzlich liefen vier Schiffe bei den Scilly-Inseln südwestlich von Land’s End (England) auf Grund. Rund 2 000 Mann kamen ums Leben. Was war passiert? Man hatte die Position falsch berechnet.

ANFANG des 18. Jahrhunderts war es kein Problem, auf See die geografische Breite zu berechnen, also die nördliche oder südliche Entfernung eines Punktes vom Äquator. Mit der genauen geografischen Länge, das heißt der Entfernung von einer bestimmten Position in östlicher oder westlicher Richtung, tat man sich schwer. Zur damaligen Zeit waren jedes Jahr Hunderte von Schiffen auf dem Atlantik unterwegs, und Schiffbrüche waren keine Seltenheit. Durch das Unglück von 1707 richtete sich dann jedoch das Augenmerk der Briten auf das sogenannte Längenproblem.

Im Jahr 1714 schrieb das britische Parlament für die genaue Bestimmung des Längengrades auf See einen Preis von 20 000 Pfund aus — nach heutigen Begriffen mehrere Millionen Euro.

Ein kniffliges Rätsel

Die Berechnung der Längenposition war damals so schwierig, weil dafür genaue Zeitangaben nötig waren. Hier ein Fallbeispiel: Angenommen, jemand lebt in London und bekommt um 12 Uhr mittags einen Anruf von einer Bekannten, die auf demselben Breitengrad wohnt, bei der es aber erst 6 Uhr morgens ist. Der Zeitunterschied beträgt also 6 Stunden. Wer sich auf der Landkarte auskennt, weiß sofort, dass der Anruf aus Nordamerika kommt, wo gerade die Sonne aufgeht. Wüsste man jetzt die exakte Ortszeit von dort — gemessen an der Position in Relation zur Sonne — statt nur eine Zeitzone, dann könnte man sehr genau berechnen, auf welcher geografischen Länge sich die Anruferin befindet.

Vor Jahrhunderten konnte ein Navigator überall auf der Erde am Sonnenstand ablesen, wann es 12 Uhr war. Hätte er außerdem die Lokalzeit am Ausgangshafen einigermaßen genau gewusst, wäre es ihm möglich gewesen, seine Längenposition auf 50 Kilometer genau zu bestimmen. Das war die maximal zulässige Abweichung bei einer sechswöchigen Testfahrt, wollte man den genannten Preis gewinnen.

Die Schwierigkeit bestand also darin, die genaue Zeit am Heimathafen zu wissen. Eine Pendeluhr mitzunehmen wäre auf dem unruhigen Meer keine große Hilfe gewesen. Zudem waren Uhren mit Federn und Räderwerk noch nicht so ausgereift und gingen ungenau. Auch Temperaturschwankungen beeinflussten die Zeitmessung. Half da vielleicht das gigantische Uhrwerk am Himmel — der Mond und die anderen Himmelskörper?

Eine „astronomische“ Aufgabe

Der Lösungsansatz der Astronomen beruhte auf der sogenannten Monddistanz-Methode. Dazu wurden Tabellen mit vorausberechneten Monddaten erstellt, mit denen Seefahrer ausgehend von bestimmten Mond-Sterne-Konstellationen ihre Position ausmachen konnten.

Über ein Jahrhundert schlugen sich Astronomen, Mathematiker und Navigatoren mit dem Problem herum, doch die Sache war ziemlich komplex und man kam nicht so recht voran. Bald wurde der Ausdruck „den Längengrad finden“ zum Synonym für ein aussichtsloses Unterfangen.

Ein Schreiner nimmt die Herausforderung an

Der Dorfschreiner John Harrison aus Barrow-upon-Humber (Lincolnshire) war entschlossen, das Längenproblem zu lösen. Im Jahr 1713 — er war noch keine 20 Jahre alt — baute er eine Pendeluhr fast vollständig aus Holz. Später fand er Wege, die Reibung zu verringern und Temperaturschwankungen zu kompensieren. Die genauesten Uhren wichen seinerzeit täglich um rund eine Minute ab, Harrisons Modelle jedoch gingen monatlich bis auf eine Sekunde genau. *

Harrison beschäftigte sich dann mit der genauen Zeitbestimmung auf See. Nachdem er vier Jahre darüber gebrütet hatte, machte er sich nach London auf und legte der Längenkommission (Board of Longitude), die den Preis zu vergeben hatte, seinen ersten Vorschlag vor. Dort lernte er auch den führenden Uhrmacher George Graham kennen, der ihm für den Bau seiner Uhr ein großzügiges zinsloses Darlehen gewährte. 1735 konnte Harrison der Royal Society, einem Gremium mit den hochkarätigsten Wissenschaftlern Großbritanniens, das weltweit erste genaue Schiffschronometer präsentieren. Alle waren begeistert! Das Prachtstück aus glänzendem Messing wog 34 Kilogramm.

Harrison wurde mit seiner Uhr auf eine Testfahrt nach Lissabon geschickt — nicht etwa zu den Westindischen Inseln, wie es für den Preis erforderlich gewesen wäre. Die Uhr bewährte sich ausgezeichnet. Er hätte eine sofortige Transatlantikfahrt verlangen können, um zu beweisen, dass sie den Preis wirklich wert war, hatte doch beim ersten Treffen der Längenkommission keiner außer ihm selbst etwas an der Konstruktion auszusetzen. Aber Harrison war Perfektionist und wollte seine Erfindung noch verbessern. Also bat er lediglich um mehr Zeit und etwas Geld.

Sechs Jahre später stieß er mit seinem zweiten Chronometer, das 39 Kilogramm wog und in einigem verbessert worden war, bei der Royal Society auf vollste Zustimmung. Doch Harrison — mittlerweile 48 Jahre alt — gab sich noch nicht zufrieden. Er ging wieder in seine Werkstatt und tüftelte die nächsten 19 Jahre an einem weiteren, ganz anderen Modell.

Während der Arbeit an seiner dritten, recht kompakten Version entdeckte er zufällig etwas Erstaunliches: Ein Uhrmacherkollege hatte nach Harrisons Angaben eine Taschenuhr konstruiert. Bislang ging man davon aus, dass große Uhren zuverlässiger waren als Taschenuhren. Aber die Genauigkeit dieser neuen Konstruktion faszinierte Harrison. Als schließlich 1761 eine Transatlantikfahrt angesetzt wurde, lagen seine Hoffnungen nicht auf seiner dritten, sondern seiner vierten Konstruktion: einem 1 Kilogramm schweren Chronometer nach dem Prinzip der Taschenuhr. Harrison soll seinerzeit gesagt haben: „Ich danke dem Allmächtigen von Herzen, dass ich so lange leben durfte, um sie in gewissem Maße vollenden zu können.“

Parteiisches Urteil

Zu jener Zeit hatten die Astronomen mit ihrer Methode das Längenproblem allerdings schon fast gelöst. Außerdem gab jetzt ein Astronom in der Preiskommission den Ton an: Nevil Maskelyne. Harrisons Uhr wurde auf einer 81-tägigen Atlantiküberquerung getestet. Mit welchem Ergebnis? Sie ging lediglich 5 Sekunden nach! Dennoch wollte man Harrison den Preis nicht zusprechen. Es sei nicht alles vorschriftsmäßig abgelaufen und die Ganggenauigkeit der Uhr sei reiner Zufall gewesen, hieß es. Harrison bekam daher nur einen Teil des Preisgeldes ausbezahlt. Mittlerweile veröffentlichte Maskelyne im Jahr 1766 Tabellen mit vorausberechneten Mondpositionen. Damit konnten Navigatoren den Längengrad in nur einer halben Stunde berechnen. Harrison fürchtete, der Preis könne Maskelyne zuerkannt werden.

1772 trat dann der britische Seefahrer und Entdecker James Cook auf den Plan. Er nahm auf seine zweite Weltreise eine Kopie von Harrisons Uhr mit und brachte hinterher zum Ausdruck, sie habe alle Erwartungen übertroffen. Inzwischen war der jetzt 79-jährige Harrison von der Längenkommission so enttäuscht, dass er den König von England einschaltete. Die Folge? Er erhielt 1773 den Rest des Preisgeldes. Offiziell zugesprochen wurde ihm der Preis allerdings nie. John Harrison starb drei Jahre später an seinem 83. Geburtstag.

Einige Jahre danach waren zuverlässige Schiffschronometer bereits für 65 Pfund zu bekommen. Das Undenkbare war Wirklichkeit geworden — dank des Engagements und des genialen Erfindergeistes eines Dorfschreiners.

[Fußnote]

^ Abs. 13 Harrison prüfte zusammen mit seinem Bruder die Genauigkeit seiner Uhr über mehrere Nächte hinweg. Die exakte Uhrzeit konnten sie daran ablesen, wann bestimmte Sterne hinter dem Schornstein des Nachbarhauses verschwanden.

[Diagramm/Bild auf Seite 21]

(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

Mit der Uhrzeit lässt sich die geografische Länge berechnen

6.00 Uhr 12.00 Uhr

NORDAMERIKA GROSSBRITANNIEN

[Bild auf Seite 22]

Der Uhrmacher John Harrison

[Bildnachweis]

SSPL/Getty Images

[Bild auf Seite 22]

Harrisons erstes Modell: ein 34 Kilogramm schweres Chronometer

[Bildnachweis]

National Maritime Museum, Greenwich, London, Ministry of Defence Art Collection

[Bild auf Seite 22]

Harrisons viertes Modell: ein 1 Kilogramm schweres Chronometer (nicht maßstabsgetreu)

[Bildnachweis]

SSPL/Getty Images

[Bildnachweis auf Seite 20]

Schiff in Seenot: © Tate, London/Art Resource, NY; compass: © 1996 Visual Language