Sie trugen einen lila Winkel
Maud arbeitet in Frankreich an einer Schule und betreut dort behinderte Kinder während des Unterrichts. Vor Kurzem wurde in einer Klasse über den Holocaust und die Konzentrationslager gesprochen. Damals mussten KZ-Häftlinge Stoffaufnäher auf ihrer Kleidung tragen, an deren Form und Farbe man erkennen konnte, warum sie inhaftiert worden waren.
Über einen dieser Aufnäher, den lila Winkel, sagte der Lehrer: „Ich glaube, das bedeutete, jemand war homosexuell.“ Nach dem Unterricht ging Maud zum Lehrer und erklärte ihm, dass der lila Winkel das Kennzeichen für Jehovas Zeugen war. a Sie bot ihm an, weitere Informationen zu diesem Thema mitzubringen. Der Lehrer nahm das Angebot an und fragte Maud, ob sie den Schülern nicht selbst etwas darüber erzählen möchte.
Eine Parallelklasse beschäftigte sich mit demselben Thema. Die Lehrerin zeigte den Schülern eine Tabelle mit den verschiedenen Häftlingskennzeichen. In dieser Übersicht war der lila Winkel richtigerweise Jehovas Zeugen zugeordnet. Nach dem Unterricht sprach Maud mit der Lehrerin und bot auch ihr weitere Informationen zu dem Thema an. Die Lehrerin war einverstanden und gab Maud ebenfalls die Möglichkeit, der Klasse etwas darüber zu erzählen.
Maud hatte für die erste Klasse eine 15-minütige Präsentation vorbereitet. Als sie damit beginnen wollte, sagte der Lehrer: „Du hast die ganze Stunde Zeit.“ Daraufhin zeigte Maud einen kurzen Dokumentarfilm über die Verfolgung von Jehovas Zeugen während der NS-Zeit. Darin wird erwähnt, dass damals 800 Kinder ihren Eltern weggenommen wurden. Maud hielt den Film an dieser Stelle kurz an und las den Schülern vor, was drei dieser Kinder durchmachen mussten. Zum Schluss las sie den Abschiedsbrief von Gerhard Steinacher vor, einem 19-jährigen Zeugen Jehovas aus Österreich. Er schrieb diesen Brief 1940 an seine Eltern, wenige Stunden vor seiner Hinrichtung. b
In der anderen Klasse durfte Maud eine ähnliche Präsentation halten. Weil sie mutig Zeugnis gab, haben sich beide Lehrer nun vorgenommen, in Zukunft auch Jehovas Zeugen zu erwähnen, wenn sie über die Opfer des NS-Regimes sprechen.
a Während des Zweiten Weltkriegs wurden Jehovas Zeugen (damals auch als Bibelforscher bekannt) inhaftiert, weil sie sich weigerten, den Nationalsozialismus zu unterstützen.
b Gerhard Steinacher wurde von den Nationalsozialisten zum Tode verurteilt, weil er den Wehrdienst verweigerte. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: „Ich bin noch ein Kind, nur wenn der Herr Kraft gibt, kann ich stehen, und um die bitte ich ihn.“ Am nächsten Morgen wurde Gerhard hingerichtet. Auf seinem Grabstein steht: „Er starb für Gottes Ehre“.