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Regionalgericht Orjol

11. JUNI 2019
RUSSLAND

Wiedergabe des letzten Wortes von Dennis Christensen vor dem Regionalgericht Orjol am 16. Mai 2019

Wiedergabe des letzten Wortes von Dennis Christensen vor dem Regionalgericht Orjol am 16. Mai 2019

Während der Verhandlung am 16. Mai 2019 erhielt Dennis Christensen die Gelegenheit, fast eine Stunde lang vor Gericht zu seiner Verteidigung zu sprechen. Es folgt die Wiedergabe seines bewegenden letzten Wortes vor Gericht (aus dem Russischen übersetzt):

Vor vielen Jahren sagte einmal ein grausamer Mensch: „Je häufiger eine Lüge wiederholt wird, desto wahrer wird sie“ – mit anderen Worten: Wiederholt man eine Lüge tausend Mal, wird sie irgendwann zur Wahrheit. Diese Lüge, die einige als Wahrheit verkaufen wollten, führte zu großen Problemen und schadete vielen unschuldigen Menschen.

Das alles ist in der Vergangenheit geschehen. Heutzutage geht man im Allgemeinen davon aus, dass gebildete Menschen im 21. Jahrhundert aus der Vergangenheit gelernt haben.

Aber anscheinend ist das nicht der Fall. Dieselbe Methode wird in diesem Strafverfahren gegen mich und gegen andere Zeugen Jehovas in Russland wieder angewendet. Und diese Lügen führen wieder zu großen Problemen und schaden vielen unschuldigen Menschen.

Im meinem Fall besteht die Lüge darin, dass gesagt wird, ich wäre angeblich im Geheimen weiter für die örtliche Rechtskörperschaft von Jehovas Zeugen in Orjol tätig gewesen, die von einem Gericht als extremistisch eingestuft und verboten worden war.

Diese Anschuldigung wurde während des gesamten Verfahrens immer und immer wieder vorgebracht – ohne jegliche Beweise. Anscheinend wollte man diese Lüge so zur Wahrheit machen.

Die Wahrheit ist, dass ich nie Teil der örtlichen Rechtskörperschaft von Jehovas Zeugen in Orjol war.

Ja, ich bin ein gläubiger Christ – ein Zeuge Jehovas. Zusammen mit meinen Freunden habe ich verschiedene Gottesdienste einer religiösen Gruppe besucht, die nichts mit der örtlichen Rechtskörperschaft von Jehovas Zeugen in Orjol zu tun hatte. Diese Aktivitäten waren gemäß Artikel 28 der Verfassung der Russischen Föderation völlig legal.

Ich habe die Tätigkeit der verbotenen örtlichen Rechtskörperschaft von Jehovas Zeugen in Orjol nicht weitergeführt und habe kein russisches Gesetz übertreten. Ich war nie an einer extremistischen Tätigkeit beteiligt.

Viele haben mich gefragt: „Warum werden Zeugen Jehovas – friedliche Menschen – als extremistisch dargestellt? Was genau tun sie, was extremistisch sein soll?“ Meine Antwort ist: „Ich weiß es nicht!“

Jehovas Zeugen lieben ihren Nächsten wie sich selbst. Sie versuchen etwas zum Wohl der Gesellschaft zu tun. Sie sind ehrliche Menschen, die sich an staatliche Gesetze halten und Steuern zahlen. Worin besteht ihr angeblicher „Extremismus“? Ich weiß es nicht, und ich habe während des Gerichtsverfahrens immer noch keine Antwort auf diese Frage erhalten.

Mir wird vorgeworfen, ich hätte die Tätigkeit einer kleinen Rechtskörperschaft weitergeführt, die aus ungefähr 10 Personen bestanden hatte und von einem Gericht als „extremistisch“ eingestuft worden war. Wann und wie soll ich die Tätigkeit dieser Rechtskörperschaft weitergeführt haben? Worin genau besteht meine angebliche extremistische Tätigkeit?

Ich habe während des Gerichtsverfahrens keine einzige Antwort auf diese Fragen bekommen. Und warum? Weil man versucht, eine Lüge zur Wahrheit zu machen, indem man sie immer und immer wieder wiederholt.

Hier in Russland setzt jemand alles daran, Zeugen Jehovas – friedliche Menschen – als extremistisch darzustellen. Aber das ist ungerecht und es hat überhaupt nichts mit der Wahrheit zu tun. Jehovas Zeugen sind nicht extremistisch. Wissen Sie warum?

Erstens greifen Zeugen Jehovas niemals zu den Waffen und beteiligen sich nicht an gewaltsamen Auseinandersetzungen. Während des Zweiten Weltkriegs lehnten es in Deutschland viele von ihnen ab, in der Wehrmacht zu dienen, obwohl sie dadurch ihr Leben verloren. Sie sind nicht an die Ostfront gezogen und haben keine sowjetischen Soldaten getötet.

In der UdSSR wurden Zeugen Jehovas schwer verfolgt und als antikommunistische Feinde des Volkes gebrandmarkt. Trotzdem hegten sie keinen Hass gegen ihre Verfolger.

Heute sind Zeugen Jehovas aus den unterschiedlichsten Nationen und Völkern in einer weltweiten Bruderschaft vereint. Sie leben in Frieden und Harmonie miteinander. Das beweist: Es ist möglich, die Unterschiede, die Menschen trennen, zu überwinden und vereint zu sein.

Zweitens wird Jehovas Zeugen in keinem anderen Land der Welt außer in Russland vorgeworfen, extremistisch zu sein. In mehr als 200 Ländern rund um den Globus können Jehovas Zeugen in Frieden und in Freiheit ihren Glauben ausüben. Sie sind als friedliche Menschen bekannt, die absolut nichts mit Extremismus zu tun haben.

Sie sind vereint, weil sie, gestützt auf die Bibel, alle dasselbe glauben. Die Bibel bestärkt sie darin, gute Eigenschaften wie Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Glauben, [Milde] und Selbstbeherrschung zu zeigen.

In der Bibel werden diese Eigenschaften als die „Frucht“ beschrieben, „die der Geist hervorbringt“. Solche Eigenschaften verursachen keine gesellschaftlichen Probleme. Diese Eigenschaften haben mit Extremismus nichts zu tun, sondern sie kommen allen zugute.

Drittens verurteilen russische Menschenrechtsexperten die Anwendung des russischen „Gesetzes zur Bekämpfung extremistischer Aktivitäten“ auf Jehovas Zeugen. Viele von ihnen vertreten die Auffassung, dass dies eine Schande für den Ruf Russlands als demokratischer Rechtsstaat ist. Diese angesehenen Experten würden die Anwendung des Anti-Extremismus-Gesetzes auf Jehovas Zeugen nicht verurteilen, wenn es irgendwelche Anzeichen für Extremismus bei ihnen gäbe.

Viertens verurteilen auch andere Länder die Anwendung des „Gesetzes zur Bekämpfung extremistischer Aktivitäten“ auf Jehovas Zeugen in Russland. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates verlangt von den russischen Behörden, dieses Gesetz nicht mehr auf Zeugen Jehovas anzuwenden. Der UN-Menschenrechtsausschuss hat wiederholt seine Besorgnis darüber ausgedrückt, dass das Anti-Extremismus-Gesetz in Russland auf Zeugen Jehovas angewandt wird und dadurch friedliche und unschuldige Personen verfolgt werden.

Jesus Christus warnte seine Nachfolger: „Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen“ (Johannes 15:20) a. Man warf ihm fälschlicherweise Extremismus vor und schließlich wurde er verurteilt und getötet. Das war äußerst ungerecht.

Wir leben nicht im ersten Jahrhundert, ja nicht einmal im Mittelalter. Wir leben im 21. Jahrhundert, einer Zeit, in der es Menschenrechte und Religionsfreiheit gibt – Rechte, die allen Menschen gleichermaßen zustehen.

Ist es überhaupt möglich, einer Person zu verbieten, an Gott zu glauben, und sie dann dafür einzusperren? Meiner Meinung nach ist das falsch. So etwas geschieht nur in totalitären Regimen, nicht in demokratischen Rechtsstaaten. Und Russland, so hoffe ich, ist ein solcher Rechtsstaat oder versucht zumindest, einer zu sein.

Während dieses Gerichtsverfahrens habe ich gehört, dass manche denken, es sei extremistisch, seinen Glauben für den wahren Glauben zu halten und dies öffentlich zu bekennen. Allerdings ist das völlig unlogisch, denn alle gläubigen Menschen denken, sie hätten den richtigen Glauben. Warum sollten sie sich sonst weiter zu ihrer Religion bekennen, wenn sie nicht davon überzeugt sind, dass es die wahre Religion ist?

Wenn dieses Argument ausreicht, um jemanden für extremistisch zu erklären, dann müsste man auch Jesus als Extremisten bezeichnen. Er sagte zu Pontius Pilatus: „Dazu wurde ich geboren und dazu kam ich in die Welt: um die Wahrheit zu bezeugen. Jeder, der auf der Seite der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“ (Johannes 18:37).

Man kann also in der Bibel die Wahrheit finden. Jesus predigte diese Wahrheit und lehrte sie auch seine Jünger. Er meinte nicht die Wahrheit im Allgemeinen. Vielmehr sprach er über die Wahrheit bezüglich Gottes Vorhaben. Gottes Vorhaben besteht im Grunde darin, dass Jesus, der „Sohn Davids“ (sein Nachkomme), Hoher Priester und Herrscher von Gottes Königreich ist.

Jesus erklärte, dass er hauptsächlich auf die Erde gekommen war, um die Wahrheit über dieses Königreich zu verkünden. Denkt man heute, Jesus sei extremistisch gewesen, bloß weil er die Wahrheit predigte?

Jehovas Zeugen folgen seinem Beispiel und predigen die Wahrheit, die man in der Bibel finden kann, nämlich dass Gottes Königreich die einzige Lösung für alle Probleme der Menschheit ist. Sie zeigen allen Menschen, was in Gottes Wort, der Bibel, steht.

In einem Gebet sagte Jesus einmal zu Gott: „Heilige sie durch die Wahrheit. Dein Wort ist Wahrheit“ (Johannes 17:17). Es ist also für alle Menschen wichtig, die Wahrheit aus der Bibel zu erfahren. Es ist für sie von Nutzen und hat nichts mit Extremismus zu tun.

Jehovas Zeugen sind nicht die Einzigen, die die Bibel schätzen. Der russische Wissenschaftler Michail Lomonossow sagte: „Der Schöpfer hat den Menschen zwei Bücher gegeben. In dem einen offenbart er uns seine Majestät und in dem anderen sein Vorhaben. Das erste Buch ist die sichtbare Welt, die er erschaffen hat ... Das zweite ist die Heilige Schrift.“

Ohne Zweifel hat Lomonossow die Heilige Schrift genau studiert, und er hatte Recht. Man kann wirklich viel über Gott aus der Schöpfung lernen. Und man kann sogar noch mehr über ihn lernen, indem man sein Wort, die Bibel, liest und studiert.

Die Bibel sagt über sich selbst: „Die ganze heilige Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zum Lehren, ... zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes völlig geeignet und für jedes gute Werk vollständig ausgerüstet ist“ (2. Timotheus 3:16, 17). Für jedes gute Werk!

Bei den christlichen Gottesdiensten, an denen ich teilgenommen habe, sprachen wir konkret darüber, wie man anderen Gutes tut. Diese Gottesdienste wurden von einer religiösen Gruppe abgehalten, die in keiner Verbindung zur örtlichen Rechtskörperschaft von Jehovas Zeugen in Orjol steht.

In den beiden Videoaufnahmen unserer Gottesdienste vom 19. und 26. Februar 2017, die vor Gericht gezeigt wurden, ist klar erkennbar, dass keinerlei Anzeichen für irgendetwas Extremistisches zu sehen oder zu hören waren. Wir haben über Gedanken aus der Bibel gesprochen, die für alle Menschen von großem Nutzen sind. Die Gottesdienste liefen friedlich und in einer positiven Atmosphäre ab, was typisch für Gottesdienste von Jehovas Zeugen ist.

Die besprochenen Gedanken aus der Bibel sind nicht zum Schaden der Gesellschaft. Im Gegenteil: Sie sind eine wertvolle Hilfe und trösten viele Menschen. Für diejenigen, die um einen geliebten Menschen trauern, enthält die Bibel das tröstliche Versprechen: „Als letzter Feind wird der Tod beseitigt“ (1. Korinther 15:26).

Für uns Menschen ist der Tod ein schrecklicher Feind, aber nicht so für Gott. Schließlich verspricht er in Jesaja 25:8: „Er wird den Tod für immer beseitigen, und der Höchste Herr Jehova wird die Tränen von allen Gesichtern abwischen.“

Das wird eine wunderbare Zeit werden! Es gibt dann keine Beerdigungen oder Friedhöfe mehr. Wenn Gott sein Versprechen wahr macht, die Toten aufzuerwecken, wird man Freudentränen vergießen und keine Tränen des Kummers. Und die unzähligen Wunden, die der Tod hinterlassen hat, werden endlich heilen.

Diese Hoffnung bedeutet mir viel, weil ich selbst etliche Menschen, die mir wichtig waren, durch den Tod verloren habe. Während meiner Haft ist jemand, der mir sehr nahestand, gestorben; jemand, der mir wirklich viel bedeutete – meine Großmutter, Helga Margrethe Christensen.

Sie war die erste in meiner Familie, die die Bibel studiert hat und eine Zeugin Jehovas geworden ist. Sie hat zuerst meinem Vater die Wahrheit aus der Bibel beigebracht und dann mir. Viele, die sie kannten – Nachbarn, Kollegen, Angehörige – mochten sie sehr und respektierten sie.

Sie hat andere auch geliebt und respektiert, egal welchen Glauben, welche Nationalität oder welche Hautfarbe sie hatten. Sie wollte jedem helfen und sie hat ihren Nachbarn Gutes getan. Leider würden sie manche möglicherweise als extremistisch bezeichnen. Aber die meisten vernünftigen Menschen teilen diese Meinung nicht.

Ich freue mich auf den Tag, an dem Gott sie wieder auferweckt und wir uns wiedersehen. Leider konnte ich bei ihrer Beerdigung nicht dabei sein. Und ich konnte meine Familie in dieser schweren Zeit nicht trösten, weil ich wegen dieser absurden Extremismusvorwürfe inhaftiert war.

Mich tröstet die Hoffnung der Bibel, dass es eine Auferstehung der Toten geben wird; sie versichert mir, dass ich meine Großmutter nicht für immer verloren habe, sondern wir uns eines Tages wiedersehen werden – in einer Welt ohne Böses, unter der Herrschaft von Gottes Königreich. Mich tröstet diese Hoffnung und deswegen denke ich, dass sie auch anderen helfen und sie trösten kann.

Ein anderer biblischer Gedanke, den wir bei unseren Gottesdiensten besprochen haben, ist der von einem zukünftigen Paradies auf der Erde, in dem es genug Nahrung für alle geben und wo Frieden zwischen allen Menschen herrschen wird; keiner wird krank sein, so wie es Jesaja 33:24 verspricht: „Und kein Bewohner wird sagen: ‚Ich bin krank.‘ Dem Volk, das in dem Land wohnt, wird sein Vergehen verziehen werden.“

Schadet es der Gesellschaft, wenn man anderen von diesen Versprechen erzählt? Nein, ganz im Gegenteil, diese Versprechen können den Menschen Hoffnung geben und ihnen Freude schenken. Jesus selbst hat gesagt: „Glücklich ist, wer Gottes Wort hört und danach lebt!“ (Lukas 11:28).

Das zu glauben oder nicht, ist jedermanns persönliche Entscheidung. Gott zwingt niemanden, ihm zu dienen. In Jeremia 29:11 sind seine Worte aufgezeichnet: „‚Ich weiß ja, was ich für euch im Sinn habe‘, erklärt Jehova. ‚Frieden und nicht Unglück. Ich möchte euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben.‘“

Gott bietet jedem von uns den besten Lebensweg an – eine enge Beziehung zu ihm aufzubauen. Jehovas Zeugen laden alle Menschen ein, diesen besten Weg zu wählen, den Weg zu einer engen Freundschaft mit Gott, einen Weg, der zu ewigem Leben führt. Nichts davon hat irgendetwas mit Extremismus zu tun. Worin besteht meine „extremistische Tätigkeit“ und warum will man mich für sechs Jahre ins Gefängnis stecken?

Ich habe mich nicht wie ein Verbrecher oder Extremist verhalten. Meine Nachbarn, die Polizisten in meinem Wohnort und die Beamten der Haftanstalt sprechen gut über mich. Deswegen möchte ich noch einmal die Frage stellen: „Worin besteht meine ‚extremistische Tätigkeit‘ und warum will man mich für sechs Jahre ins Gefängnis stecken?“

Ich verstehe das nicht und konnte das in den vergangenen zwei Jahren nicht verstehen. Vielleicht kann das Berufungsgericht mir meine Fragen konkret beantworten, denn das Strafgericht hat sie mir nicht beantwortet.

Wie bereits erwähnt leben wir im 21. Jahrhundert und nicht im Mittelalter. Die Menschheit hat dazugelernt. Aber es ist sehr traurig, dass Menschen in Russland erneut aufgrund ihres Glaubens verfolgt werden; einige werden sogar wegen ihres Glaubens gefoltert.

Bei einem Verhör von sieben Zeugen Jehovas am 15. Februar 2019 haben die Ermittlungsbeamten Folter eingesetzt, um die Antworten zu bekommen, die sie hören wollten. Gemäß Artikel 51 der Verfassung der Russischen Föderation darf kein Bürger Russlands dazu verpflichtet werden, gegen sich selbst oder einen Familienangehörigen auszusagen. Dieses Recht, das die Verfassung allen Bürgern Russlands garantiert, wurde den Zeugen Jehovas verwehrt.

Sie wurden auf die Knie gezwungen, mussten die Hände hochheben, wurden auf Kopf und Körper geschlagen, wurden wegen ihrer Nationalität und ihres Glaubens gedemütigt; man zog ihnen eine Plastiktüte über den Kopf, die man mit Klebeband an ihrem Nacken festklebte, sodass sie keine Luft mehr bekamen, ihre Hände wurden auf ihrem Rücken gefesselt und auch ihre Beine hat man gefesselt. Sie wurden angeschrien und man versuchte, sie zu bestimmten Aussagen zu zwingen. Mehrfach hatten einige der Zeugen Jehovas das Gefühl, sie würden sterben, und verloren das Bewusstsein, weil sie nicht atmen konnten. Dann wurden sie mit Wasser überschüttet und man versetzte ihnen Stromstöße mit Elektroschockern.

Das alles wurde sorgfältig in einem Sachverständigengutachten dokumentiert, aber gegen die Ermittlungsbeamten wurde nie ein Strafverfahren eingeleitet. Zuständige Personen drücken einfach die Augen zu oder behaupten sogar, die Zeugen Jehovas hätten sich selbst Verletzungen zugefügt. Aber das ist einfach lächerlich! Das ist eine ungeheuerliche Lüge!

Das alles ist ein Schandfleck in der Geschichte des heutigen Russlands und ich hoffe, dass die Täter angeklagt und bestraft werden. Wie kann es sein, dass sie anderen Menschen so etwas antun dürfen? Wie kann es sein, dass sie dieselben grausamen Methoden anwenden dürfen, die Hitler und Stalin angewandt haben? Ich hoffe, dass sie das nicht dürfen. Ich hoffe aufrichtig, dass das ein Fehler war, der schnell korrigiert wird.

In der Entscheidung des Gerichts heißt es: „Die Tätigkeit einer Religionsgemeinschaft weiterzuführen, die wegen extremistischer Aktivitäten durch eine vollstreckbare Gerichtsentscheidung aufgelöst wurde, stellt selbst ein Verbrechen dar, eine extremistische Tat, die strafrechtlich zu verfolgen ist.“ Das ist nachvollziehbar. Aber was hat das mit mir zu tun?

Nichts von dem hat irgendetwas mit mir zu tun. Ich habe nie etwas mit der örtlichen Rechtskörperschaft von Jehovas Zeugen in Orjol zu tun gehabt. Ich habe in keiner Weise ihre Tätigkeit weitergeführt.

Alles, was ich getan habe, hängt mit meinem Leben in einer christlichen Gemeinschaft zusammen, die nichts mit der örtlichen Rechtskörperschaft von Jehovas Zeugen in Orjol zu tun hat. Alles, was ich getan habe, war gesetzeskonform und durch Artikel 28 der Verfassung der Russischen Föderation geschützt.

Ich habe nie etwas getan, um die sogenannte „illegale“ Tätigkeit der örtlichen Rechtskörperschaft von Jehovas Zeugen in Orjol weiterzuführen. In einem Telefonat, das ebenfalls vor Gericht zu hören war, habe ich zu einem Freund gesagt: „Wir sind eine religiöse Gemeinschaft. Wir sind weder der örtlichen Rechtskörperschaft von Jehovas Zeugen in Orjol noch der Zentrale von Jehovas Zeugen in Russland angeschlossen.“

Das Gericht hat das nicht berücksichtigt und sich stattdessen auf Falschaussagen gestützt, die ein Agent des Inlandsgeheimdienstes (FSB) unter dem Decknamen A. P. Jermolow gemacht hat. Das Gericht kann nachprüfen, dass es sich bei A. P. Jermolow tatsächlich um Oleg Gennadjewitsch Kurdjumow handelt.

Zunächst hat Oleg Kurdjumow dem Ermittlungsbeamten gegenüber ausgesagt, er wisse nichts und berufe sich auf Artikel 51 der Verfassung der Russischen Föderation. Am folgenden Tag machte er eine anderslautende Aussage unter dem Pseudonym A. P. Jermolow. Später hat er unter diesem Pseudonym weitere Aussagen gemacht.

Vor Gericht haben wir zwei Videoaufzeichnungen unserer Gottesdienste vom 19. und 26. Februar 2017 gesehen, die mit der örtlichen Rechtskörperschaft von Jehovas Zeugen in Orjol nichts zu tun hatten. Es war offensichtlich, dass Oleg Kurdjumow heimlich diese Videoaufnahmen gemacht hat. Es war geradezu witzig zu sehen, wie offensichtlich er derjenige war, der die Kamera hatte. Die Kamera bewegte sich, wenn er sich bewegte, und als jemand sich ihm näherte, hörte man ihn deutlich sagen: „Hallo, ich heiße Oleg.“

Das heißt: Zuerst arbeitet er als Geheimagent für den FSB und filmt unsere Gottesdienste, dann tritt er mit seinem echten Namen auf und behauptet, nichts zu wissen, um dann am nächsten Tag unter seinem Pseudonym zu lügen – eine Lüge, die er vor Gericht wiederholt. Ist das fair?

FSB-Agenten haben laut Gesetz nicht das Recht, unter falscher Identität vor Gericht auszusagen. Aber die Staatsanwaltschaft und der Strafrichter haben einfach darüber hinweggesehen und ihm gestattet, seine Falschaussage zu machen. Und jetzt wird diese Falschaussage gegen mich verwendet. Mir ist unbegreiflich, wie das Strafgericht das zulassen konnte.

Noch unverständlicher ist für mich, wie die Staatsanwaltschaft das alles zulassen konnte. Die Staatsanwaltschaft hat doch dafür zu sorgen, dass die russischen Gesetze eingehalten werden und nicht eines davon übertreten wird. Aber sie hat einfach die Augen davor verschlossen und das alles geschehen lassen.

Ich bitte das Berufungsgericht, mich richtig zu verstehen. Ich habe nichts gegen diese Leute persönlich. Sicherlich sind sie gute und nette Menschen, mit denen ich in Zukunft gern eine Tasse Kaffee trinken würde, und wir werden über all das hier zusammen lachen. Aber ich bin nicht zufrieden mit der schlechten Qualität ihrer Arbeit, die einfach fürchterlich war, um es milde auszudrücken.

Ich verstehe, dass es dem Strafgericht gut gepasst hat, so einen FSB-Agenten als falschen Zeugen heranzuziehen, da diese Person kein Gewissen hat und es ihr leicht fällt, zu lügen und die Wahrheit zu verdrehen und vor Gericht einfach irgendetwas zu behaupten, um mich hinter Gitter zu bringen.

So einem Zeugen kann man nicht vertrauen und er kann nicht als vertrauenswürdige Informationsquelle angesehen werden. Es kann nicht richtig sein, solche falschen Zeugenaussagen zu benutzen, um Unschuldige ins Gefängnis zu schicken.

Vor ungefähr zwei Jahren, in einer der vielen Anhörungen zur Verlängerung meiner Untersuchungshaft, habe ich dem Gericht gesagt: „Ich bitte Sie, mir mein Leben zurückzugeben!“ Darum bitte ich Sie immer noch.

Was meine Haft betrifft, so habe ich das Gefühl, dass man mich nicht nur verurteilen und von der Gesellschaft isolieren will, sondern mich auch aus der Öffentlichkeit verbannen will, damit dieses Gerichtsverfahren keine Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Tatsächlich halte ich meine durchgehende Haft für rechtswidrig und unmenschlich. Damit soll verhindert werden, dass ich mich gut verteidigen kann und dass ich meine Sicht auf das, was hier passiert, in den Medien öffentlich mache. Doch die Zeit dafür wird ganz sicher kommen!

Ja, ich will, dass Sie mir mein Leben zurückgeben, damit ich wieder in Ruhe und Frieden mit meiner Frau Irina in dieser schönen Stadt leben kann. Fast zwei Jahre lang hat mir mein Leben nicht gehört. Ich habe ein Leben gelebt, über das andere bestimmten.

Der FSB hat meinen guten Namen in den Schmutz gezogen. Sie haben Dokumente und Expertengutachten gefälscht und falsche, anonyme Zeugen benutzt, die vor Gericht Falschaussagen gegen mich gemacht haben.

All das haben sie getan, um einen friedlichen Gläubigen als Extremisten darzustellen, der eine Gefahr für andere und für Russlands nationale Sicherheit ist. Diese Anschuldigungen sind tatsächlich komisch und absurd.

Es ist traurig, dass das Strafgericht diese Anschuldigungen unterstützt und die Fakten ignoriert hat. Euer Ehren, bitte machen Sie diesem Missverständnis ein Ende und bringen Sie die Wahrheit ans Licht. Ich bitte Sie: Geben Sie mir mein Leben zurück!

Wie ich vor drei Monaten vor dem Strafgericht sagte: „Die einzige Gerichtsentscheidung, mit der ich einverstanden wäre, ist es, freigesprochen und freigelassen zu werden, und zwar mit einer Entschuldigung und Entschädigung. Mit weniger gebe ich mich nicht zufrieden!“ Und dabei bleibe ich.

Jede andere Entscheidung wäre ungerecht und ich würde Rechtsmittel beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg einlegen. Dort würde ich diesen Fall ganz sicher gewinnen.

Danach würden sich viele Menschen überall auf der Welt und sicherlich auch viele hohe Beamte in Russland einschließlich des russischen Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin wundern und fragen, warum das Gericht in Orjol nicht sehen konnte, was für alle offensichtlich ist – dass dieses Verfahren gegen mich auf einer Lüge basiert, die man wahrzumachen versucht hat, indem man sie immer und immer wieder wiederholt.

Ist es wirklich nötig, einen so weiten Weg zu gehen, um Gerechtigkeit zu erfahren? Wenn das Berufungsgericht es für nötig hält, dann sage ich Ihnen und denen, die heute hier sind sowie allen, die diesen Gerichtsfall verfolgen: „Ich bin dafür bereit!“

Ich werde nicht aufgeben, weil ich weiß, dass ich in Bezug auf diese Anschuldigungen unschuldig bin und die Wahrheit auf meiner Seite habe. Ich habe keine Angst, ins Gefängnis zu kommen, obwohl das eine völlig ungerechte Entscheidung wäre.

Ich habe keine Angst und ich mache mir keine Sorgen. Ich bin innerlich ruhig und verspüre Frieden. Mein Gott Jehova wird mich nie verlassen und ich sehe die Erfüllung dieser wunderbaren Worte schon vor mir:

Mein Gott ist mein Belohner,

er schätzt die Liebe, die ich gezeigt.

Denn er, der mir ganz nah ist,

voller Mitleid zu mir sich neigt.

Mein Gott wird für mich sorgen,

er wird mich segnen, mehr als erträumt.

Ja, Jehova ist mein Vater,

mein Gott und Freund.

Das ist alles. Danke, dass Sie mir zugehört haben!

a Dennis Christensen zitierte aus der russischen Synodalübersetzung. In dieser Übersetzung seines letzten Wortes sind alle Bibelstellen der revidierten Neuen-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift entnommen.