2. DEZEMBER 2015
RUSSLAND
Gericht in Taganrog verurteilt 16 Zeugen Jehovas wegen Religionsausübung
Im Wiederaufnahmeverfahren im Fall von 16 Zeugen Jehovas hat das Gericht in Taganrog nach 11 Monaten seine Entscheidung gefällt: Die Zeugen Jehovas wurden verurteilt, weil sie friedliche Gottesdienste organisiert und besucht hatten. Das Gericht stützte seine Entscheidung auf ein Strafgesetz, das die Organisation und die Teilnahme an extremistischen Aktivitäten verbietet. Grundlage für die strafrechtliche Verfolgung der Zeugen Jehovas war eine falsche Anwendung des Extremismusgesetzes im Jahr 2009 vor einem Regionalgericht. a
Am 30. November 2015 verurteilte Richter A. V. Wasjutschenko vier der Zeugen Jehovas zu über 5 Jahren Gefängnis, weil sie Gottesdienste organisiert hatten; außerdem verhängte er jeweils eine Geldstrafe in Höhe von 100 000 Rubel (über 1 400 €). Die anderen 12 Angeklagten erhielten vom Richter Geldstrafen von jeweils 20 000 bis 70 000 Rubel (ca. 300 bis 1 000 €). Allerdings wurden die Haftstrafen zur Bewährung ausgesetzt und die Geldstrafen erlassen. Noch ist nicht klar, wie sich diese Bewährungsstrafen auf die Verurteilten auswirken werden. Fest steht, dass dieses Urteil die Zeugen Jehovas zu Straftätern erklärt.
Vor einem Dilemma
Die über 800 Zeugen Jehovas in Taganrog sind besorgt über die Folgen, die das Urteil für ihre Religionsausübung haben wird — wenn sie sich mit anderen friedlich treffen, um die Bibel zu studieren und zu beten. Alle Angeklagten machten vor Gericht deutlich ihren Standpunkt klar, weiter ihren Glauben als Zeugen Jehovas auszuüben. Allerdings könnte das Urteil ihre Entschlossenheit jetzt auf die Probe stellen. „Eigentlich hat uns das Gericht gesagt: ‚Gebt euren Glauben auf oder rechnet mit einer Strafe als Wiederholungstäter‘“, so Alexander Skwortsow, einer der Angeklagten.
Auch andernorts in Russland sind Jehovas Zeugen wegen des Urteils in Taganrog beunruhigt. In der Vergangenheit sind Behörden in Samara und Abinsk dem Muster Taganrogs gefolgt: Sie haben das Extremismusgesetz auf die friedliche Glaubensausübung von Jehovas Zeugen falsch angewendet und die örtlichen Rechtskörperschaften verboten. Solange Russland an dieser Strategie festhält, sehen Jehovas Zeugen ihre Religionsfreiheit in Russland gefährdet.
Kampf um Religionsfreiheit geht weiter
Diese Entscheidung spiegelt den immer größeren Druck wider, mit dem russische Behörden versuchen, die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas zu unterbinden. Im vergangenen Jahr wurden beispielsweise zwei ihrer Rechtskörperschaften für extremistisch erklärt. Und seit März 2015 wird es ihnen verweigert, religiöse Literatur zu importieren — sogar Bibeln. Im Juli hat sich Russland in den fragwürdigen Ruf gebracht, weltweit das einzige Land zu sein, das die offizielle Website von Jehovas Zeugen (jw.org) verbietet. Wegen dieser Menschenrechtsverletzungen suchen Jehovas Zeugen bei verschiedenen Instanzen Hilfe: Sie fechten die Entscheidungen vor den Gerichten Russlands an und haben 28 Anträge beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gestellt.
Die 16 Zeugen Jehovas werden gegen das Urteil Rechtsmittel einlegen. Damit öffnet sich ein weiteres Kapitel in ihrem langen Rechtsstreit. „Ihr Prozess zieht sich jetzt schon über zweieinhalb Jahre hin“, sagt Jaroslaw Siwulskij, Sprecher von Jehovas Zeugen in Russland. „Es ist bedauerlich, dass sie schon wieder vor Gericht stehen — und das nur, weil sie versuchen, ihr grundlegendes Recht auf Religionsfreiheit zu verteidigen, das nach der Verfassung garantiert ist.“
Jehovas Zeugen sind keine Extremisten. Zu den elementaren Lehren ihrer Religionsgemeinschaft gehört die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Mitmenschen. In Taganrog besprechen sie bei ihren wöchentlichen Gottesdiensten dasselbe Material wie ihre Glaubensbrüder überall auf der Welt. Und obwohl russische Behörden in über 1 700 dokumentierten Fällen die Rechte von Zeugen Jehovas verletzt haben, haben diese in keinem Fall durch zivilen Ungehorsam Widerstand geleistet.
Jehovas Zeugen hoffen darauf, dass die russischen Behörden die durch und durch friedliche Religionsausübung der Zeugen Jehovas anerkennen und die Verfolgung in Taganrog und anderenorts einstellen. Die russischen Behörden sollten ihnen das gleiche Grundrecht auf Religionsfreiheit gewähren, wie sie es auch anderen etablierten Religionsgemeinschaften zugestehen.
Rückblick b
22. Januar 2015
Wiederaufnahmeverfahren für die 16 Zeugen Jehovas beginnt vor dem Gericht in Taganrog.
Juni 2015
Der Richter verschiebt die Anhörung; das Urteil wird nicht vor Herbst erwartet.
13. November 2015
Das Gericht vertagt die Entscheidung.
30. November 2015
Das Gericht verurteilt alle 16 Zeugen Jehovas: Sie erhalten Geldstrafen, vier von ihnen zusätzlich mehr als 5 Jahre Haft. Der Richter setzt die Haftstrafen zur Bewährung aus.
b Für einen Rückblick zum ursprünglichen Verfahren siehe „Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren im Fall von 16 Zeugen Jehovas verschoben“.