18. NOVEMBER 2016
RUSSLAND
TEIL 2 Zusatzmaterial
Russland droht, die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift zu verbieten — Experten äußern scharfe Kritik (ausführliche Exklusivinterviews)
Dies ist der zweite Artikel einer dreiteiligen Serie.
Durch die Ergänzung zum Artikel 3 des Gesetzes zur Bekämpfung extremistischer Aktivitäten werden bestimmte religiöse Texte ausdrücklich geschützt. Kurz nachdem Präsident Wladimir Putin diese Ergänzung unterschrieben hat, bezeichnen russische Behörden die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift (eine Bibel, die von Jehovas Zeugen herausgegeben wird) als „extremistisch“ und versuchen, diese zu verbieten. Derzeit ist das Verfahren ausgesetzt, da zunächst eine gerichtlich angeordnete Analyse der Neuen-Welt-Übersetzung fertiggestellt werden soll — durchgeführt vom Zentrum für soziokulturelle Gutachten in Moskau. Unterdessen haben Jehovas Zeugen exklusive Interviews mit anerkannten Wissenschaftlern für Religion, Politik und Soziologie sowie Experten im Bereich für Osteuropäische Geschichte geführt.
Wie bewerten Fachleute die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift und welchen Ruf haben Jehovas Zeugen als Übersetzer?
„Genau wie in vielen anderen Übersetzungen erkennt man auch in der Neuen-Welt-Übersetzung das aufrichtige Bestreben, die ursprüngliche Bedeutung so genau wie möglich zu erfassen und wiederzugeben. Alle Übersetzungen, die von religiösen Organisationen veröffentlich werden, spiegeln gewisse theologische Traditionen wider. Da bildet auch die Neue-Welt-Übersetzung keine Ausnahme — sie verwendet zum Beispiel den Namen „Jehova“ durchgängig —, wodurch aber die Glaubwürdigkeit der Übersetzung nicht geschmälert wird. Im Jahr 2014 wurde die Neue-Welt-Übersetzung in Estnisch veröffentlicht. Diese Übersetzung bekam viel Aufmerksamkeit von estnischen Bibelübersetzern verschiedener christlicher Glaubensgemeinschaften und aus dem akademischen Bereich und wurde als klar und erfrischend bezeichnet. Die Neue-Welt-Übersetzung in Estnisch belegte sogar den dritten Platz bei der Wahl zum Sprachwerk des Jahres 2014, die vom Ministerium für Forschung und Bildung durchgeführt wurde“ (Dr. Ringo Ringvee, Berater für religiöse Angelegenheiten im estnischen Innenministerium, außerordentlicher Professor für Religionswissenschaften am Theologischen Institut der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Estland).
„Unter Religionswissenschaftlern besteht kein Zweifel daran, dass sich Jehovas Zeugen zu den fundamentalen Werten und Grundsätzen der Bibel bekennen. Jehovas Zeugen haben als Bibelübersetzer eine gute Reputation“ (Dr. Roman Lunkin, Vorsitzender des Zentrums für Religions- und Gesellschaftswissenschaften am Europainstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, Direktor des Instituts für Religion und Recht, Russland).
„Es ist allgemein bekannt, dass es heute viele Bibelübersetzungen gibt, angefangen mit der Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische, der Septuaginta, bis hin zu Übersetzungen der Bibel in moderne Sprachen, Russisch eingeschlossen. Selbstverständlich weist jede Übersetzung Nuancen auf, die den sprachlichen Möglichkeiten in der jeweiligen Zielsprache geschuldet sind. Die Hauptsache ist jedoch, dass die grundlegende Aussage des Originaltextes in Bibelübersetzungen erhalten bleibt, egal wie die Bibel interpretiert wird. Meiner Meinung nach ist das bei der Neuen-Welt-Übersetzung der Fall“ (Dr. Jekaterina Elbakjan, Professorin für Soziologie und Management sozialer Prozesse an der Akademie für Arbeit und soziale Beziehungen in Moskau, Mitglied der Europäischen Vereinigung für Religionswissenschaft, Chefredakteurin der russischen Ausgabe des Westminster Dictionary of Theological Terms, Verfasserin von Religionsstudien, Autorin der Encyclopedia of Religions, Russland).
„Die Neue-Welt-Übersetzung hat überall auf der Welt durch Bibelwissenschaftler verschiedener Religionsgemeinschaften eine hohe Anerkennung erfahren“ (Dr. Gerhard Besier, emeritierter Professor für Europastudien an der Technischen Universität Dresden, Gastprofessor an der Stanford University, Direktor des Sigmund-Neumann-Instituts für Freiheits- und Demokratieforschung, Deutschland).
„Die Bibelübersetzung von Jehovas Zeugen ist nicht das Produkt einer Gruppe gläubiger Amateure. Es ist das Ergebnis der gewaltigen Arbeit, die von professionellen Übersetzern über viele Jahre hinweg geleistet wurde — die Arbeit namhafter Sprachwissenschaftler, der besten Fachleute für die Sprachen des Altertums, ist eingeflossen. Experten, genauer gesagt Bibelgelehrte, die die neue Übersetzung von Jehovas Zeugen analysiert haben, kommen zu dem Ergebnis, dass es keine inhaltlichen Unterschiede zwischen alten und neuen Übersetzungen gibt und dass Jehovas Zeugen keine „extremistischen“ Innovationen eingeführt haben. Wörter, Begriffe und Redewendungen, die nicht mehr zeitgemäß und nicht verständlich sind, werden in moderner Sprache wiedergegeben. Protestantische Gläubige haben auf diese Übersetzung gelassen reagiert und akzeptieren sie als Teil des weltweiten biblischen Bildungswerks“ (Dr. Ljudmyla Fylypowytsch, Professorin, Leiterin der Abteilung für Religionsgeschichte und Praktische Studien des Instituts für Philosophie der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, Vizepräsidentin der Ukrainischen Vereinigung von Religionswissenschaftlern, Ukraine).
„Man muss fairerweise sagen, dass die Neue-Welt-Übersetzung von etablierten Fachleuten kritisiert wurde. Diese Kritik bezieht sich aber auf die Übersetzung gewisser Schlüsseltexte, die sich auf eine begrenzte Anzahl von Glaubensfragen auswirken. Jehovas Zeugen haben der Bibel nichts hinzugefügt, was zu Extremismus oder Gewalt animieren würde. Im Gegenteil, sie haben die Bibel immer verwendet, um den Frieden zu fördern und Gewalt abzulehnen“ (Dr. George D. Chryssides, ehemaliger Leiter der Religionswissenschaften an der University of Wolverhampton, ehrenamtlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neureligionen an der York St. John University und der University of Birmingham, Vereinigtes Königreich).
„Ich bin absolut nicht der Ansicht, dass es sich hier um eine „extremistische“ Veröffentlichung handelt, sondern diese Übersetzung ist gut, soweit man das von einer Übersetzung sagen kann. Da ich selbst mehrere Sprachen spreche — Englisch, Japanisch und Hebräisch — kenne ich die Probleme, die das Übersetzen mit sich bringt. Verglichen mit den meisten anderen guten Übersetzungen und der ursprünglichen Ausgabe der King-James-Bibel, hat die Neuen-Welt-Übersetzung ähnlich viele beziehungsweise weniger solcher Übersetzungsprobleme“ (Prof. Frank Ravitch, Professor für Rechtswissenschaften, Walter H. Stowers Chair of Law and Religion an der Michigan State University, Vereinigte Staaten).
„Bibelübersetzungen sind nie perfekt. Dafür gibt es viele Gründe. Es gibt Passagen in der Neuen-Welt-Übersetzung, die ich persönlich anders übersetzen würde. Das trifft aber auf alle Übersetzungen zu. Da ich kein Experte für Russisch bin, auch wenn ich es verstehe, kann ich die literarische Qualität einer russischen Übersetzung nicht beurteilen. Als 2014 die Neue-Welt-Übersetzung in Estnisch veröffentlicht wurde, kam sie bei der Allgemeinheit gut an. Aufgrund ihrer Qualität und Klarheit wurde sie sogar als ‚literarisches Werk des Jahres‘ bezeichnet. Angesichts der Tatsache, dass für das Übersetzen der Neuen-Welt-Übersetzung weltweit eine einheitliche Methodik Anwendung findet, beinhaltet das Endprodukt im Grunde die gleiche Botschaft mit kleinen Unterschieden aufgrund von Besonderheiten der Zielsprache. Ich erkenne keine großen Unterschiede zwischen der russischen und der estnischen Ausgabe. Daher kann ich voller Überzeugung sagen, dass dies auf jeden Fall eine zuverlässige Übersetzung ist und keinesfalls eine gefährliche oder ‚extremistische‘ Veröffentlichung“ (Dr. Ain Riistan, Lehrbeauftragter für Neues Testament am Institut für Theologie und Religionswissenschaften der Universität Tartu, außerordentlicher Professor für Theologie der Freikirchen und Religionsgeschichte am Theologischen Seminar Tartu, Estland).
„Viele Behörden, die entscheiden, Bibeln von Jehovas Zeugen zu beschlagnahmen, haben bedauerlicherweise von Religion und der Heiligen Schrift überhaupt keine Ahnung. Natürlich ist die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift in Ordnung, so wie sie ist, auch wenn es natürlich einige strittige Passagen gibt, aber das trifft genauso auf andere Übersetzungen zu — die der römisch-katholischen Kirche, der ich angehöre, eingeschlossen“ (Dr. Basilius J. Groen, UNESCO-Professor für den interkulturellen und interreligiösen Dialog in Südosteuropa, Professor für Liturgiewissenschaft und Sakramenten-Theologie sowie Vorstand des Instituts für Liturgiewissenschaft, christliche Kunst und Hymnologie in Graz, Österreich).
„Aus meiner Sicht als Wissenschaftler sollte die Neue-Welt-Übersetzung nicht von den Behörden untersucht werden. Es handelt sich um einen religiösen Text, auf den die Behörden eines demokratischen Staates keinen Einfluss nehmen sollten. Die Behauptung, die Neue-Welt-Übersetzung sei gefährlich oder extremistisch, ist Unsinn“ (Dr. Hocine Sadok, Dozent für öffentliches Recht, Direktor der Fakultät für Wirtschafts-, Sozial- und Rechtswissenschaften der Universität des Oberelsass, Frankreich).
„Grundsätzlich denke ich, dass die meisten Gelehrten die Bibelübersetzung von Jehovas Zeugen akzeptieren, auch wenn manche Gelehrte Einwände gegen die Übersetzung gewisser Worte oder Formulierungen haben“ (Dr. William Cavanaugh, Professor für Katholische Theologie am Center for World Catholicism and Intercultural Theology, DePaul University, Vereinigte Staaten).
Wie denken Sie über das Bestreben der russischen Behörden, die angeblich extremistische Bibelübersetzung von Jehovas Zeugen zu verbieten?
„Ich denke, dass ein Einfuhrverbot der Neuen-Welt-Übersetzung in die Russische Föderation eindeutig die Ergänzung zu Artikel 3 des Gesetzes zur Bekämpfung extremistischer Aktivitäten verletzt, die Herr Putin im Herbst 2015 unterschrieben hat, weil in diesem Gesetz nichts zu Übersetzungen von heiligen Texten gesagt wird. Wir alle wissen, dass keine dieser heiligen Schriften (Bibel, Koran, Torah, Kanjur) in Russisch oder Kirchenslawisch geschrieben wurde. In der Russischen Föderation werden daher nur Übersetzungen dieser Bücher benutzt, und ich wiederhole: Es gibt viele Übersetzungen. Das Gesetz definiert nicht, welche Übersetzungen heiliger Bücher in der Russischen Föderation benutzt werden dürfen und welche nicht. Darum darf man jede Übersetzung verwenden, und eine bestimmte Übersetzung mit einem Verbot zu belegen, ist illegal“ (Dr. Elbakjan, Russland).
„Das Verbot von eindeutig religiösem Material ist an sich schon verdächtig. Das Verbot einer Bibel, die seit Langem in den Gottesdiensten einer etablierten und respektierten Religionsgemeinschaft wie der der Zeugen Jehovas genutzt wird, ist allerdings noch fragwürdiger. Es gibt dutzende Bibelübersetzungen, die von anderen christlichen Gruppen verwendet werden und die nicht verboten sind. Es ist daher offensichtlich, dass Russland in Wirklichkeit Jehovas Zeugen angreift und nicht deren Bibel“ (Dr. Derek H. Davis, Rechtsanwalt, ehemaliger Leiter des J.M. Dawson Institute of Church-State Studies an der Baylor University, Vereinigte Staaten).
„Als Vertragsstaat des IPbpR (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte) würde Russland mit dem Versuch, so eine Bibel zu verbieten, im Widerspruch zu den Konventionen zur Religionsfreiheit handeln“ (Dr. Jeffrey Haynes, Politikprofessor, Direktor des Centre for the Study of Religion, Conflict and Cooperation an der London Metropolitan University, Vereinigtes Königreich).
„In Russland, wo religiöse Empfindungen für die Kultur und das Wachstum immer wichtig gewesen sind, begegnen die Behörden Religion jetzt mit Misstrauen und betrachten sie als unzuverlässig. Wer hätte gedacht, dass die Verabschiedung eines Gesetzes, das bestimmten heiligen Texten Immunität gewährt, dazu führt, dass andere heilige Texte verboten werden? Mittlerweile ist ein theologisch-rechtlicher Mechanismus am Werk, der Heiliges von Nichtheiligem trennen soll. Die ersten, die darunter zu leiden haben, sind Jehovas Zeugen mit ihrer Bibelübersetzung, was keine Überraschung ist, da gegen sie seit 2009 eine politisch motivierte Kampagne geführt wird“ (Dr. Lunkin, Russland).
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass allein die Tatsache, dass die Neue-Welt-Übersetzung von Jehovas Zeugen herausgegeben wird, Grund genug für Russland ist, ihre Verbreitung zu verbieten. Dieser Standpunkt ist natürlich absolut irrational, denn eine Bibel bleibt eine Bibel, genau wie ein Koran ein Koran bleibt. Für mich gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, dass die Neue-Welt-Übersetzung mit Sorgfalt angefertigt wurde“ (Prof. William S. B. Bowring, Professor für Rechtswissenschaften, Direktor der Studiengänge LLM/MA für Menschenrechte, Birkbeck School of Law an der University of London, Rechtsanwalt der Anwaltskammern Middle Temple und Gray’s Inn, Vereinigtes Königreich).
„Ich bin nicht überzeugt, dass die neuen Ergänzungen nicht auf Jehovas Zeugen oder andere kleinere religiöse und neureligiöse Bewegungen zutreffen. Diese Situation weist vielmehr auf ein Problem politisch-rechtlicher Natur hin. Denn es fehlt ein grundsätzlicher Ansatz, um die Beziehung zwischen Staat und Religion zu verstehen und diese als eine besondere zivilpolitische Institution und als einen Bereich des sozialpolitischen Lebens zu bewerten. In diesem Land [Russland] gibt es immer noch keine klar formulierten Grundsätze und Herangehensweisen auf der Ebene der Regierungspolitik (Konventionen, Strategien, Programme) für den Bereich der Beziehungen zwischen Staat und Religion. Diese politisch-rechtliche Unklarheit fördert nicht nur eine allgemeine „Kriminalisierung“ dieses Bereichs —durch das Verfolgen der Interessen der Staatsreligion und die selektive Anwendung von Gesetzen — sondern beschädigt den religiösen Bereich und den interreligiösen Dialog in seiner Gesamtheit, denn dadurch kommt es zu politischen Spekulationen über die wichtigsten Werte sowie zu deren Diffamierung. Alle Religionen halten heilige Texte in Ehren. Jede Religion erstellt nicht nur solche Sammlungen, sondern stellt auch Regeln dazu auf” (Dr. William Schmidt, Chefredakteur von Eurasia: the spiritual traditions of the peoples, Professor für nationale und föderative Beziehungen an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation (RANEPA), Russland).
„Mir fällt kein guter Grund ein, warum die russischen Behörden die Neue-Welt-Übersetzung stigmatisieren sollten. Es ist ganz bestimmt nichts Extremistisches in der Bibelausgabe von Jehovas Zeugen zu finden. Es ist eine Übersetzung, die sich an die hebräischen und griechischen Texte hält, und sie hat weitgehend den gleichen Inhalt wie andere anerkannte Übersetzungen“ (Dr. Chryssides, Vereinigtes Königreich).
„Ich habe den Eindruck, dass, nachdem die russischen Behörden einmal entschieden haben, Jehovas Zeugen als extremistische Organisation zu betrachten, alles im Einklang mit dieser Entscheidung getan wird — das kann und sollte man als falsch bezeichnen“ (Dr. Thomas Bremer, ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jordan Center for the Advanced Study of Russia der New York University, Professor für Ökumene, Ostkirchenkunde und Friedensforschung an der Universität Münster, Deutschland).
„Das überrascht mich nicht. Es sind die gleichen Strategien und Vorgehensweisen, die früher von der Sowjetunion gegen religiöse Minderheiten genutzt wurden. Aber anstelle eines generellen Verbots der meisten religiösen Aktivitäten bevorzugt Russland die Kontrolle und Überwachung von Minderheiten durch halblegale Verwaltungsmaßnahmen — angeblich durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, die öffentliche Ordnung zu schützen und gefährlichen Extremismus zu verhindern“ (Dr. Jim Beckford, Mitglied der British Academy, emeritierter Professor der Soziologie an der University of Warwick, ehemaliger Präsident der Society for the Scientific Study of Religion (USA), Vereinigtes Königreich).
„Die Überlegung, die der aktuellen Gesetzgebung für den religiösen Bereich zugrunde liegt, ist folgende: Es gibt sogenannte traditionelle Religionen (traditionell für Russland ist allem voran der russisch-orthodoxe Glaube und ebenso der traditionelle Islam, Judaismus und Buddhismus) und nicht traditionelle (zum Beispiel Jehovas Zeugen). Gemäß dieser Überlegung genießen die traditionellen Religionen staatliche Privilegien, da sie einen positiven Einfluss auf die russische Gesellschaft haben, die nicht traditionellen Religionen hingegen müssen kontrolliert und in ihren Aktivitäten beschränkt werden, da sie fremde Wertvorstellungen und Lebensgewohnheiten in die russische Gesellschaft bringen. Das ist der Grund, warum Jehovas Zeugen oder andere religiöse Minderheiten kaum von neuen Gesetzen profitieren, durch die Glaubensansichten sowie die vier heiligen Schriften [Bibel, Koran, Torah, Kanjur] unter Schutz gestellt werden sollen. Ich bin allerdings der Meinung, dass Jehovas Zeugen und andere friedfertige religiöse Minderheiten in der gesamten Russischen Föderation die in der Verfassung garantierte Religionsfreiheit genießen sollten“ (Dr. Dmitri Uzlaner, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Moskauer Schule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Chefredakteur von State, Religion and Church, Russland).
„Jehovas Zeugen sollte ohne Einschränkungen gestattet werden ihre Bibelübersetzung zu nutzen. Der Zugang zu religiösen Schriften ist ein zentraler Bestandteil von Religionsfreiheit und es gibt buchstäblich Hunderte verschiedener Bibelübersetzungen, die zu unterschiedlichen Glaubenstraditionen gehören. Die Übersetzung, die von Jehovas Zeugen bevorzugt wird, herauszupicken und als ‚extremistisch‘ zu bezeichnen, ist faktisch falsch und eine drastische Einschränkung der Glaubensausübung der Zeugen Jehovas“ (Eric Rassbach, stellvertretender allgemeiner Rechtsberater, The Becket Fund for Religious Liberty, Vereinigte Staaten).
„Das gesetzliche Verbot einer Bibelübersetzung ist ein klarer Affront gegen religiöse Toleranz, insbesondere da es eine religiöse Minderheit herausgreift und auf deren Bibelinterpretation abzielt. Es sollte nicht die Aufgabe der Regierung sein, sich in theologische Debatten über die korrekte Übersetzung der Bibel einzumischen“ (Dr. Emily B. Baran, Assistenzprofessorin für Russische und Osteuropäische Geschichte, Middle Tennessee State University, Vereinigte Staaten).
„Derzeit besteht eine enge Verbindung zwischen dem russischen Staat und der russisch-orthodoxen Kirche (ROK), die genau wie Russland selbst ihre Differenzen mit anderen Teilen der orthodoxen Welt hat. Ich nehme an, dass die ROK die Neue-Welt-Übersetzung der Bibel von Jehovas Zeugen nicht als einen geeigneten Text des heiligen Buches akzeptieren würde, welches von einer der vier anerkannten traditionellen Religionen in Russland (Judaismus, Christentum, Islam, Buddhismus) genutzt wird. Fest sitzende Denkmuster in den russischen Behörden führen dazu, dass auch sie versuchen, den Einfluss derer einzuschränken, die ihre eigenen Schriften und Glaubensansichten haben und sich bemühen, ihre Schlussfolgerungen mit anderen zu teilen. Die Tatsache, dass es Jehovas Zeugen in Russland bereits seit der Zarenzeit gibt, ändert nichts an dieser Sichtweise. Das wird durch Berichte über jahrzehntelange Unterdrückung von Zeugen Jehovas eindeutig bestätigt“ (Sir Andrew Wood, Associate Fellow, Russland- und Eurasienprogramm, Chatham House, the Royal Institute of International Affairs, ehemaliger britischer Botschafter in Russland (1995-2000), Vereinigtes Königreich).
„Der Grund für das Verbot, nicht nur der Neuen-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift, sondern auch anderer Bücher, ist das Bestreben, ein Monopol auf das religiöse Leben in Russland und das Übersetzen der heiligen Schrift zu errichten. Zusätzlich zu der Übersetzung von Jehovas Zeugen werden von der russisch-orthodoxen Kirche auch viele andere Übersetzungen nicht anerkannt, wie zum Beispiel die Vulgata, eine katholische Übersetzung in Latein. Katholiken wiederum akzeptieren die Lutherbibel nicht“ (Dr. Fylypowytsch, Ukraine).
„Auf den ersten Blick wird durch die Ergänzungen zum Extremismusgesetz die christliche Bibel vor Zensur und Verbot geschützt. Es scheint allerdings, dass nicht der heilige Text geschützt wird, sondern nur bestimmte Übersetzungen von ihm. Die Neue-Welt-Übersetzung ist möglicherweise nicht wegen ihres Inhalts beschlagnahmt worden, sondern weil sie von Jehovas Zeugen stammt. Das Verhalten von Zeugen Jehovas betrachtet man in vielerlei Hinsicht als Angriff auf russische Traditionen —von der Gestaltung ihres Alltags bis hin zum Gemeindeleben, von ihren Glaubensansichten bis hin zu ihrer Bibelübersetzung. Außerdem betrachtet man sie als einen Import aus Amerika. Letztendlich werden sie als Außenseiter ohne Daseinsberechtigung in Russland gesehen“ (Dr. Zoe Knox, außerordentliche Professorin für Moderne Russische Geschichte, University of Leicester, Vereinigtes Königreich).
„Dass die Bibeln von Jehovas Zeugen massenhaft beschlagnahmt werden, zeigt, dass der russische Staat nur gewisse Bibelübersetzungen als ‚rechtskonform‘ ansieht, was eine weitere Verletzung der Religionsfreiheit darstellt. Die russische Regierung sollte sich mit einer gründlichen Reform ihrer Gesetzgebung zum Extremismus beschäftigen, wie von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der Venedig-Kommission und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa empfohlen wurde“ (Catherine Cosman, leitende Politikanalystin (Europa und Länder der ehemaligen Sowjetunion), United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), Vereinigte Staaten).
„Ich unterstütze das Verbot von Übersetzungen heiliger Texte nicht. Die Schritte, die in Russland unternommen wurden, um die Religionsausübung zu kontrollieren, haben viel mit der engen Verbindung der russisch-orthodoxen Kirche mit dem russischen Nationalismus zu tun. Viele Russen waren besorgt, dass es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einen ‚Goldrausch‘ des Missionierens geben würde. Viele waren der Ansicht, dass die russisch-orthodoxe Kirche zunächst Zeit haben sollte, sich von der kommunistischen Herrschaft zu erholen“ (Dr. Cavanaugh, Vereinigte Staaten).
„Ich verteidige ausdrücklich das Recht von Jehovas Zeugen, ihre eigene Übersetzung der Bibel entsprechend ihres Studiums des Wortes Gottes zu erstellen. Keine Behörde sollte sich in die Übersetzung und/oder Veröffentlichung von religiösem Material einmischen. Religionsfreiheit ist ein fundamentales Menschenrecht und gerade staatliche Behörden sollten die freie Ausübung verschiedenster religiöser Anschauungen unterstützen“ (Dr. John A. Bernbaum, Präsident, Russian-American Institute (Moskau), Vereinigte Staaten).
„Wir finden in der Neuen-Welt-Übersetzung keine Anzeichen von Extremismus. Wir betrachten die Verfolgung von Jehovas Zeugen in Russland sowie das Verbot ihrer Literatur und Vereinigungen als religiöse Diskriminierung“ (Alexander Werchowski, Direktor des SOWA-Zentrums (Informations- und Analyse-Zentrum in Moskau, eine gemeinnützige Organisation, die sich mit Forschungen zu Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft und politischem Radikalismus beschäftigt), Russland).
„Die Bibelübersetzung von Jehovas Zeugen ist kein Buch, das eine politische Kampfansage gegen die russische Gesellschaft darstellt. Es ist eine Übersetzung unter vielen. Ich kann nicht erkennen, warum die Bibel von Jehovas Zeugen ‚extremistisch‘ sein sollte. Wenn sie das wäre, hätte man sie in anderen demokratischen Ländern, die politischem Extremismus kritisch gegenüber stehen, auch verboten. In demokratischen Ländern ist sie jedoch nicht verboten“ (Dr. Régis Dericquebourg, Soziologe und außerordentlicher Professor für Neue Religiöse Bewegungen, Antwerp FVG, Belgien).
„Leider verletzt Russland heutzutage immer wieder die Menschenrechte seiner ethnischen und religiösen Minderheiten. Es ist einfach eine Tatsache, dass aufgrund der sehr weit gefassten Definition von ‚extremistisch‘, die fremdenfeindliche russische Beamte anwenden, jede Übersetzung der christlichen Bibel so bezeichnet werden kann, die russisch-orthodoxe Synodal-Übersetzung von 1876 eingeschlossen“ (Dr. Mark R. Elliott, Gründer und Verleger des East-West Church and Ministry Report, Asbury University, Kentucky, Vereinigte Staaten).
„Russland möchte das Christentum am liebsten allein durch die russisch-orthodoxe Kirche und deren Schrifttum repräsentiert sehen. Bis heute haben nicht nur Jehovas Zeugen, sondern auch andere Religionsgemeinschaften erhebliche Probleme in Russland — übrigens eine Tradition, die auf die zaristische Sicht der Dinge zurückgeht. Besonders Religionsgemeinschaften, die in den USA eine große Anhängerschaft haben, sind in Russland nicht gern gesehen“ (Dr. Besier, Deutschland).
„Der Versuch, die Bibelübersetzung von Jehovas Zeugen in russischer Sprache zu verbieten, da sie als ‚extremistisch‘ zu bezeichnen sei, ist in Europa ein beispielloser Schritt. Auch wenn es an sich eine gute Sache ist, dass ‚die Bibel, der Koran, der Tanach und der Kanjur, deren Inhalte und Zitate daraus‘ unter Schutz gestellt werden, ist das gleichzeitig eine Diskriminierung heiliger Schriften anderer Religionen. Diese Trennlinie ist eindeutig unvernünftig, denn es gibt keinen Nachweis dafür, dass die einen religiösen Texte ‚extremistischer‘ als die anderen sind“ (Dr. Silvio Ferrari, Ehrenpräsident auf Lebenszeit des Internationalen Konsortiums für Recht und Religionswissenschaft, Co-Chefredakteur des Oxford Journal of Law and Religion, Mitbegründer des Europäischen Konsortiums für Staat-Kirche-Forschung, Professor für Recht, Religion und Kirchenrecht, Universität Mailand, Italien).
„Es ist sehr gefährlich, wenn Regierungen anfangen zu entscheiden, welche Fassung eines religiösen Textes ‚korrekt‘ oder zulässig ist. Das ist nicht Aufgabe der Regierung, sondern vielmehr Gegenstand der Debatten und Diskussionen unter den Gläubigen. Es gibt viele Variationen und Interpretationen heiliger Texte — die Bibel eingeschlossen — und es ist eine Verletzung der Prinzipien internationaler Gesetze zur Religionsfreiheit, wenn eine Regierung versucht, den Gläubigen ihre eigene Version religiöser Wahrheit aufzuzwingen“ (Dr. Carolyn Evans, Dekanin, Harrison Moore Chair of Law, Melbourne Law School, Mitherausgeberin der Law and Religion in Historical and Theoretical Perspectives, Australien).
„Ich kann im europäisch-internationalen Recht keinen Grund dafür finden, das heilige Buch irgendeiner religiösen Gemeinschaft zu verbieten, solange es nicht Hass schürt oder sich gegen die öffentliche Ordnung richtet. Die religiöse oder biblische Lehrmeinung zu beurteilen ist nicht Aufgabe des Staates“ (Dr. Javier Martínez-Torrón, Professor für Rechtswissenschaften, Direktor, Fachbereich Recht und Religion, Universität Complutense Madrid, Spanien).
„Der IPbpR bekräftigt seit Langem: Die Tatsache, dass eine Religion ‚als offiziell oder traditionell angesehen wird, ... darf zu keiner Beeinträchtigung irgendwelcher Rechte führen‘. Darum würden zum Beispiel die Vergabe bestimmter Privilegien an gewisse ‚traditionelle‘ Religionen und die Einschränkung der Tätigkeit anderer ‚nicht traditioneller‘ Glaubensrichtungen dazu führen, dass das Verbot der Diskriminierung aufgrund von Religion oder Weltanschauung sowie die Garantie des IPbpR des gleichrangigen Schutzes [aller Religionen und Glaubensrichtungen] verletzt würden“ (Prof. Robert C. Blitt, Professor für Rechtswissenschaften an der University of Tennessee, ehemaliger Spezialist für Internationales Recht, United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), Vereinigte Staaten).
„Wenn russische Behörden nur die traditionellen Religionen nicht benachteiligen, geht es hier anscheinend mehr um einen Kampf gegen fremde Einflüsse als um einen Kampf gegen Religion. Der derzeitige politische Kontext in Russland führt zu einer Distanzierung von allen Ansichten oder Bewegungen, die eine abweichende Meinung fördern könnten — egal ob politisch oder religiös. Den russischen Behörden wäre es lieber, fremde Einflüsse aus ihrem Land fernzuhalten. Sie glauben, dass neuere religiöse Minderheiten wie Jehovas Zeugen zur Förderung fremder Einflüsse in Russland beitragen. So gesehen werden Jehovas Zeugen von den Behörden vor allem als eine Gruppe vom nordamerikanischen Kontinent betrachtet und damit als eine Quelle des unerwünschten Einflusses in Russland angesehen. Folglich hat in dieser Angelegenheit die rechtliche Sicht für die russischen Behörden kein wirkliches Gewicht. Das gerichtliche Vorgehen gegen Jehovas Zeugen ist nichts weiter als ein Vorwand“ (Dr. Sadok, Frankreich).
„Die Einmischung der Regierung hat das unverzichtbare Recht religiöser Gemeinschaften, Institutionen und Organisationen, ihre religiösen Veröffentlichungen und Lehrmittel herzustellen, zu importieren und zu verteilen, stark beeinträchtigt. Vor allem heilige Schriften wie zum Beispiel die Neue-Welt-Übersetzung der Bibel von Jehovas Zeugen sind davon betroffen. In dieser Hinsicht gehen die Einschränkungen so weit, dass staatliche Behörden das fundamentale Recht religiöser Einrichtungen in Frage stellen, eine Bibel entsprechend ihren Wünschen — insbesondere unter Berücksichtigung der Übersetzung und Interpretation — zu wählen. Durch dieses Verhalten haben die russischen Behörden ihre Verpflichtung zu Neutralität und Unparteilichkeit gegenüber religiösen Wahrheiten und Texten verletzt“ (Dr. Marco Ventura, Professor für Rechtswissenschaften und Religion an der Universität Siena, Direktor des Centrums für Religionswissenschaftliche Studien an der Bruno Kessler Stiftung, Forschungsmitarbeiter am Droit, religion, entreprise et société (DRES) der Universität Straßburg (Frankreich), Italien).
„Meiner Ansicht nach hat das mit dem fragwürdigen Status der Religionsfreiheit in Russland zu tun. Jehovas Zeugen sind nicht die einzige religiöse Gruppe, die in letzter Zeit Probleme in Russland gehabt hat. Nichtsdestotrotz finde ich das Verbot einer Bibelübersetzung höchst beunruhigend. Wenn eine Übersetzung verboten wird, sind prinzipiell auch alle anderen in Gefahr. Die Ergänzung würde sich dann nur auf die Texte in den Originalsprachen beziehen (im Fall der Bibel: Hebräisch, Aramäisch, Griechisch). Und was ist dann mit den Manuskripten? Allein diese Tatsache zeigt, dass dieses Verbot willkürlich ist. Es muss dafür andere Gründe als die eigentliche Übersetzung geben“ (Dr. Riistan, Estland).
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