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9. Mai 2016
SÜDKOREA

Wird Südkorea das Recht auf Gewissensfreiheit schützen?

Wird Südkorea das Recht auf Gewissensfreiheit schützen?

Seon-hyeok Kim steht vor einer der größten Herausforderungen seines Lebens. Im Frühjahr 2015 stand der 28-jährige Ehemann und Vater vor Gericht, weil er den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert hatte. In Übereinstimmung mit internationalen Standards sprach ihn das Bezirksgericht Gwangju frei. Diese Entscheidung war außergewöhnlich, weil über Jahrzehnte hinweg Tausende von Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen in Südkorea verurteilt und inhaftiert wurden. Ein Berufungsgericht hob jedoch die Entscheidung auf und verurteilte Herrn Kim zu einer 18-monatigen Haftstrafe. Ein weiteres Rechtsmittel wurde nun vor dem Obersten Gericht eingelegt.

In jüngster Zeit wuchs die Kritik an Südkoreas Umgang mit Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen. Die Urteile mutiger Richter, die sich an internationale Standards hielten, wurden in nächster Instanz aufgehoben.

Ein Gericht bestätigt Recht auf Gewissensfreiheit

Am 12. Mai 2015 sprach Richter Chang-seok Choi vom Bezirksgericht Gwangju Herrn Kim vom Vorwurf der Wehrdienstentziehung frei. Er kam zu dem Schluss, dass Herr Kim seine bürgerlichen Pflichten nicht verletzt hat. Vielmehr respektierte er, dass Herr Kim als Zeuge Jehovas sehr religiös ist und es ihm seine Moralvorstellungen nicht erlauben, den Wehrdienst zu leisten. Der Richter berücksichtigte dabei Herrn Kims Bereitschaft, Zivildienst zu leisten. a

In seinem Urteil erklärte der Richter, Herr Kim habe von seinem Recht auf Gewissensfreiheit Gebrauch gemacht und diese „Gewissensfreiheit sollte unter allen Umständen geschützt werden“. Deswegen erkannte er Herrn Kims Gewissensentscheidung mutig an. Die Entscheidung des Richters entsprach zwar nicht der ständigen Rechtsprechung Südkoreas, sie war aber in Übereinstimmung mit internationalen Standards für Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen.

„Die Gewissensfreiheit sollte unter allen Umständen geschützt werden, was relativ einfach erreicht werden kann, ohne dabei die Wehrpflicht wesentlich zu untergraben“ (Chang-seok Choi, Richter am Bezirksgericht Gwangju).

In fünf unabhängigen Entscheidungen, bei denen es um mehr als 500 Beschwerden ging, verurteilte der UN-Menschenrechtsausschuss (MRA) Südkorea für die Bestrafung von Wehrdienstverweigerern. Der MRA entschied vor Kurzem, dass diese Gefängnisstrafen einer willkürlichen Inhaftierung entsprechen, gemäß Artikel 9 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR). b Der MRA und andere internationale Gremien haben Südkorea aufgefordert, die gesetzliche Grundlage für einen zivilen Ersatzdienst zu schaffen. Bisher hat sich Südkorea geweigert, diese Entscheidungen umzusetzen, obwohl es den IPbpR und das erste Fakultativprotokoll im Jahr 1990 freiwillig unterzeichnet hat.

Schuldig oder nicht schuldig?

Der Staatsanwalt beantragte beim Berufungsgericht die Aufhebung von Herrn Kims Freispruch. Er argumentierte, die Wehrdienstverweigerung gefährde die nationale Sicherheit. c Am 26. November 2015 hob das Berufungsgericht den Freispruch der ersten Instanz auf und verurteilte Herrn Kim wegen Wehrdienstentziehung zu einer 18-monatigen Haftstrafe.

Das Gericht erkannte die Entscheidungen des MRA zwar an, dennoch stufte es das nationale Recht in diesem Fall höher ein als internationales Recht. Daraufhin legte Herr Kim beim Obersten Gericht Rechtsmittel ein und reichte bei der UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen einen Eilantrag ein. d Er wartet derzeit auf beide Entscheidungen.

Das Oberste Gericht und das Verfassungsgericht verweigern bisher konsequent die Anerkennung der Rechte von Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen. Das Verfassungsgericht bestätigte 2004 und 2011 in zwei Entscheidungen das Wehrdienstgesetz als verfassungskonform. Zurzeit überprüft das Verfassungsgericht das Gesetz zum dritten Mal. Eine Entscheidung wird in Kürze erwartet.

Seit 1953 haben Gerichte in Südkorea über 18 000 Zeugen Jehovas wegen Wehrdienstverweigerung zu Haftstrafen verurteilt.

Wird sich das Verfassungsgericht schließlich an internationale Standards halten?

Sollte das Oberste Gericht das Rechtsmittel von Herrn Kim zurückweisen, käme er sofort für 18 Monate ins Gefängnis. Für seine Familie wäre es ein emotionaler und finanzieller Schlag. Seine Frau müsste dann allein für die zwei kleinen Kinder sorgen. Nach seiner Haftentlassung wäre es für ihn wegen eines Eintrags im Vorstrafenregister sehr viel schwerer, eine Anstellung zu finden. All das bereitet Herrn Kim große Sorgen.

Jehovas Zeugen schätzen es, dass viele Staaten weltweit das international geltende Recht anerkennen, den Wehrdienst aus Gewissengründen zu verweigern. Seon-hyeok Kim und andere Zeugen Jehovas in diesem Land warten darauf, wie sich Südkorea entscheiden wird. Werden das Oberste Gericht und das Verfassungsgericht die internationalen Standards einhalten, denen sie bereitwillig zugestimmt haben? Wird Südkorea seinen Bürgern das grundlegende Recht auf Gewissensfreiheit zugestehen?

a Im Jahr 2015 gab es beim Bezirksgericht Gwangju drei weitere Freisprüche. Auch das Bezirksgericht Suwon hat zwei Zeugen Jehovas von dem Vorwurf der Wehrdienstentziehung freigesprochen.

b Human Rights Committee, Views, Young-kwan Kim et al. v. Republic of Korea, Communication No. 2179/2012, UN Doc. CCPR/C/112/D/2179/2012 (15. Oktober 2014).

c Der Staatsanwalt behauptete, Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen schwäche die nationale Sicherheit. Andere Rechtsexperten widersprechen dem jedoch. Richter Gwan-gu Kim vom Bezirksgericht Changwon-Masan sagte beispielsweise: „Es gibt keine relevanten und konkreten Hinweise oder Daten, die zeigen würden, dass die Einführung eines alternativen Dienstes die nationale Sicherheit ... untergraben würde.“

d Hat man von seinen Grundrechten oder Freiheiten, die durch internationale Menschenrechte garantiert werden, Gebrauch gemacht und wurde deswegen festgenommen und inhaftiert, kann man sich an die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen wenden.