8. JUNI 2022
RUSSLAND

Wegweisende Entscheidung des EGMR zugunsten von Jehovas Zeugen in Russland

Wegweisende Entscheidung des EGMR zugunsten von Jehovas Zeugen in Russland

Am 7. Juni 2022 gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine wegweisende Entscheidung a gegen Russland zugunsten von Jehovas Zeugen bekannt. Der EGMR stellte fest, dass das Verbot von Jehovas Zeugen in Russland im Jahr 2017 rechtswidrig war. Wie das Gericht außerdem ausführte, war es unrechtmäßig, gedruckte Publikationen und die Website jw.org zu verbieten. Russland wurde aufgefordert, alle anhängigen strafrechtlichen Verfahren gegen Zeugen Jehovas einzustellen und alle inhaftierten Zeugen Jehovas freizulassen. Außerdem wurde Russland zur Rückgabe des gesamten beschlagnahmten Eigentums oder zum Ersatz des entstandenen Vermögensschadens in Höhe von 59 617 458 Euro verpflichtet. Zudem wurde Russland angewiesen, den Antragstellern eine Summe von 3 447 250 Euro als Ersatz des immateriellen Schadens zu zahlen.

Die ehemalige Zentrale von Jehovas Zeugen in Russland, die von der russischen Regierung beschlagnahmt wurde, darunter 14 Gebäude auf einem über 100 000 Quadratmeter großen Areal am Stadtrand von Sankt Petersburg

Die Entscheidung betrifft 20 Fälle aus den Jahren 2010 bis 2019 mit über 1400 Beschwerdeführern, die sich aus einzelnen Zeugen Jehovas und Rechts­körperschaften zusammensetzen. Doch das Urteil des EGMR hat noch weitreichendere Wirkung. Darin heißt es, dass Russland „alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen muss, um die Einstellung aller anhängigen Strafverfahren gegen Zeugen Jehovas sicherzustellen … sowie [die] Entlassung aller Zeugen Jehovas, die man ihrer Freiheit beraubt hat“ (Kursivschrift von uns). Die Entscheidung rehabilitiert unsere Brüder und Schwestern innerhalb und außerhalb Russlands und liefert den rechtlichen Beweis dafür, dass sie gesetzestreue Bürger sind, die zu Unrecht verfolgt und inhaftiert werden.

In der gesamten Urteilsbegründung widerlegte der EGMR detailliert die haltlose Behauptung Russlands, unsere Aktivitäten, Glaubens­ansichten, Publikationen und Website seien extremistisch. Auszugsweise heißt es darin:

  • Handlungen: Der EGMR betont, dass die russischen Gerichte „die Beschwerdeführer keiner einzigen Aussage oder Handlung überführt haben, die auf Gewalt, Hass oder Diskriminierung schließen ließe“ (§ 271).

  • Überzeugung, dass Jehovas Zeugen den wahren Glauben haben: „Die Absicht, andere in friedlicher Weise von der Überlegenheit des eigenen Glaubens zu überzeugen und sie aufzufordern, ‚falsche Religionen‘ aufzugeben und sich der ‚wahren‘ Religion anzuschließen, ist eine legitime Form der Ausübung des Rechts auf Religions- und Meinungsfreiheit“ (§ 156).

  • Blut­transfusionen: „Die Ablehnung einer Bluttransfusion war Ausdruck des freien Willens einer Gläubigen, die damit von ihrem Selbstbestimmungs­recht als Patientin Gebrauch machte, welches sowohl gemäß der Konvention als auch nach russischem Recht garantiert wird“ (§ 165).

  • Wehrdienst­verweigerung aus Gewissens­gründen: „Die Aufforderung, den Wehrdienst aus religiösen Gründen zu verweigern, verstößt in keiner Weise gegen russisches Recht“ (§ 169).

  • Unsere Publikationen: „Die religiösen Aktivitäten der Antragsteller und der Inhalt ihrer Publikationen vermitteln einen friedlichen Eindruck und entsprechen ihrem Bekenntnis zu Gewaltlosigkeit“ (§ 157).

  • Website jw.org: Das Gericht stellte fest, dass der Inhalt der Website jw.org nicht extremistisch ist. Bei Einwänden gegen bestimmte Inhalte hätten die Behörden die Organisation auffordern sollen, die aus ihrer Sicht anstößigen Passagen zu entfernen, anstatt die gesamte Website zu verbieten (§ 231 und § 232).

Das Gericht übt in seiner Entscheidung scharfe Kritik an den russischen Behörden und sieht es als erwiesen an, dass diese voreingenommen, voller Vorurteile und „nicht in aufrichtiger Absicht gehandelt hatten“ (§ 187). Beispielsweise stellte das Gericht im Einzelnen fest:

  • „Die Zwangsauflösung aller Rechts­körperschaften von Jehovas Zeugen in Russland war nicht das Ergebnis einer neutralen Anwendung des geltenden Rechts, sondern lässt ein von Intoleranz geprägtes Vorgehen der russischen Behörden gegen die Glaubensausübung von Zeugen Jehovas erkennen, mit dem diese zur Abkehr von ihrem Glauben gebracht und andere daran gehindert werden sollten, sich ihrer Religion anzuschließen“ (§ 254).

  • Russischen Behörden unterliefen schwerwiegende „Verfahrensfehler“, beispielsweise als das Oberste Gericht es versäumte, die Publikationen unvoreingenommen zu prüfen, und sich stattdessen auf einseitige Gutachten verließ, die Polizei und Staatsanwalt­schaft vorgelegt hatten (§ 203).

  • Das Anti-Extremismus-Gesetz wurde gezielt so allgemein und unpräzise formuliert, dass es den Behörden erlaubt, es willkürlich auf Zeugen Jehovas anzuwenden (§ 272).

Welche Auswirkungen das Urteil des EGMR in Russland haben wird, ist noch ungewiss. Wir verlassen uns jedoch nicht auf von Menschen geschaffene Einrichtungen. Vielmehr „warten [wir] geduldig auf Jehova“ als „unseren Helfer und unseren Schild“ (Psalm 33:20).