LEBENSBERICHT
Ich habe meine erste Liebe bewahrt
Erzählt von Anthony Morris III
ES IST Frühsommer in Pennsylvania und ich liege in Phoenixville im Valley-Forge-Krankenhaus. Alle halbe Stunde überprüft ein Krankenpfleger meinen Blutdruck. Ich bin gerade einmal 20 Jahre alt und habe mir als Soldat eine schwere Infektionskrankheit zugezogen. Das war im Jahr 1970. Der Pfleger, der ein paar Jahre älter war als ich, sah besorgt aus. Als mein Blutdruck immer weiter abfiel, sagte ich zu ihm: „Sie haben noch nie jemand sterben sehen, oder?“ Er wurde kreidebleich und sagte: „Nein.“
Es stand wirklich nicht gut um mich. Aber wieso lag ich überhaupt im Krankenhaus? Ich kann gern etwas aus meinem Leben erzählen.
ICH LERNE DEN KRIEG KENNEN
Angesteckt hatte ich mich im Vietnam-Krieg bei meiner Arbeit als OP-Assistent. Ich kümmerte mich gern um Kranke und Verwundete und wollte Chirurg werden. Nach Vietnam war ich im Juli 1969 gekommen. Wie alle Neuankömmlinge bekam ich eine Woche Zeit, um mich an die neue Zeitzone und die enorme Hitze zu gewöhnen.
Ich hatte in Dong Tam im Mekongdelta gerade meinen Dienst in einem Lazarett angetreten, als viele Hubschrauber mit verwundeten und gefallenen Soldaten eintrafen. Als überzeugter Patriot wollte ich mich sofort in die Arbeit stürzen. Die Verwundeten wurden vorbereitet und schnell in kleine, klimatisierte Metallcontainer gebracht, die als OP-Säle dienten. Die OP-Teams bestanden aus einem Chirurgen, einem Anästhesisten, einem OP-Pfleger und einem Springer. Auf engstem Raum taten sie ihr Bestes, um Leben zu retten. Ich bemerkte in den Hubschraubern auch große, schwarze Säcke, die nicht entladen wurden. Wie man mir sagte, enthielten sie die Leichenteile von Soldaten, die in der Schlacht zerfetzt worden waren. So lernte ich den Krieg kennen.
MEINE SUCHE NACH GOTT
Schon als junger Mensch war ich mit der Wahrheit in Berührung gekommen. Meine Mutter studierte nämlich mit Jehovas Zeugen die Bibel, ließ sich aber nie taufen. Ich liebte es, bei ihrem Bibelstudium dabei zu sein. Dann ging ich jedoch einmal mit meinem Stiefvater an einem Königreichssaal vorbei. Ich fragte ihn: „Was ist das?“ Er sagte: „Geh niemals in die Nähe dieser Leute!“ Weil ich meinen Stiefvater liebte und ihm vertraute, hörte ich auf ihn. So verlor ich den Kontakt zu den Zeugen.
Nach meiner Rückkehr aus Vietnam merkte ich, dass ich Gott brauchte. Emotionell war ich zufolge meiner Kriegserinnerungen wie betäubt. Niemand schien wirklich nachvollziehen zu können, was in Vietnam vor sich ging. Ich erinnere mich an Berichte, dass US-Soldaten im Krieg unschuldige Kinder niedermetzelten. Deshalb wurden sie von Demonstranten als „Babykiller“ bezeichnet.
Weil ich Gott kennenlernen wollte, besuchte ich die Gottesdienste verschiedener Kirchen. Gott hat mir schon immer etwas bedeutet, aber was ich in den Kirchen erlebte, gefiel mir überhaupt nicht. Schließlich ging ich in Delray Beach (Florida) doch in einen Königreichssaal von Jehovas Zeugen. Das war an einem Sonntag im Februar 1971.
Als ich in den Saal kam, war der öffentliche Vortrag fast zu Ende. Also blieb ich noch zum Wachtturm-Studium. Ich erinnere mich zwar nicht mehr an das Thema, dafür aber noch gut an die kleinen Kinder, die die Schrifttexte in ihrer Bibel aufschlugen. Das beeindruckte mich sehr. Ich beobachtete und hörte zu. Als ich den Königreichssaal verlassen wollte, kam ein etwa 80-jähriger Bruder auf mich zu. Er hieß Jim Gardner. Er hielt mir das Buch Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt entgegen und fragte: „Darf ich Ihnen dieses Buch geben?“ Das erste Bibelstudium verabredeten wir dann für Donnerstagmorgen.
An jenem Sonntag hatte ich Nachtschicht. Ich arbeitete in der Notaufnahme einer Privatklinik in Boca Raton (Florida). Meine Schicht ging von 23 Uhr bis 7 Uhr morgens. Da nicht viel los war, konnte ich im Wahrheits-Buch lesen. Eine Oberschwester kam auf mich zu, riss mir das Buch aus der Hand, sah sich den Titel an und brüllte: „Du wirst doch nicht etwa einer von denen?!“ Ich schnappte mir mein Wahrheits-Buch wieder und sagte: „Ich hab zwar erst die Hälfte gelesen, aber es sieht ganz danach aus!“ Sie ließ mich in Ruhe, und ich konnte das Buch in jener Nacht zu Ende lesen.
Bevor wir mit dem Bibelstudium begannen, fragte ich Bruder Gardner: „Und, was studieren wir?“ Er sagte: „Das Buch, das ich Ihnen gegeben habe.“ Ich antwortete jedoch: „Das hab ich schon gelesen.“ Bruder Gardner erwiderte freundlich: „Sehen wir uns doch einfach das erste Kapitel an.“ Ich war erstaunt, wie viel mir entgangen war. Er ließ mich viele Schriftstellen in meiner King-James-Bibel nachlesen. Endlich lernte ich den wahren Gott, Jehova, kennen. Bruder Gardner, den ich Jim nennen durfte, ging an jenem Morgen mit mir drei Kapitel im Wahrheits-Buch durch. Danach studierten wir jeden Donnerstagmorgen drei weitere Kapitel. Ich liebte es einfach! Es war wirklich eine Ehre, von einem Gesalbten belehrt zu werden, der Charles T. Russell persönlich kannte.
Nach wenigen Wochen wurde ich ein Verkündiger der guten Botschaft. Ich fühlte mich unsicher, doch Jim stand mir bei. Unter anderem fiel mir der Predigtdienst von Haus zu Haus nicht leicht (Apg. 20:20). Aber dank Jims Hilfe lernte ich den Predigtdienst lieben. Bis heute betrachte ich den Dienst als meine ehrenvollste Aufgabe. Es ist so schön, Gottes Mitarbeiter zu sein! (1. Kor. 3:9).
MEINE ERSTE LIEBE ZU JEHOVA
Nun möchte ich von etwas sehr Persönlichem erzählen — meiner ersten Liebe zu Jehova (Offb. 2:4). Diese half mir, mit schmerzlichen Kriegserinnerungen und vielen anderen Prüfungen fertigzuwerden (Jes. 65:17).
Meine Liebe zu Jehova hat mir geholfen mit schmerzlichen Kriegserinnerungen und vielen anderen Prüfungen fertigzuwerden
Ich erinnere mich an einen besonderen Tag im Frühjahr 1971. Kurz zuvor hatte ich die Eigentumswohnung meiner Eltern räumen müssen, in der ich bis dahin wohnen durfte. Mein Stiefvater duldete dort keinen Zeugen Jehovas. Damals hatte ich nicht viel Geld. Das Krankenhaus, für das ich arbeitete, bezahlte mich alle zwei Wochen. Ich hatte aber fast mein ganzes Gehalt für Kleidung ausgegeben, damit ich in den Dienst gehen und Jehova würdig vertreten konnte. Ich hatte zwar etwas Geld gespart, aber das lag auf einer Bank in Michigan, wo ich aufgewachsen war. Deshalb musste ich einige Tage in meinem Auto übernachten. Gewaschen und rasiert habe ich mich in Tankstellen.
An jenem besonderen Tag kam ich ein paar Stunden vor einer Predigtdienstzusammenkunft am Königreichssaal an. Ich hatte gerade erst meine Schicht im Krankenhaus beendet. Während ich hinter dem Königreichssaal saß, wo mich niemand sehen konnte, holten mich die Erinnerungen an Vietnam wieder ein: der Geruch von verbranntem Menschenfleisch und der Anblick von Gewalt und Blutvergießen. Ich konnte die jungen Männer regelrecht sehen und konnte hören, wie sie mich flehentlich fragten: „Werde ich es schaffen? Werde ich es schaffen?“ Ich wusste, sie würden sterben, doch ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und sie so gut ich konnte zu trösten. Meine Gefühle überwältigten mich förmlich.
Vor allem in Prüfungen und Schwierigkeiten habe ich mein Bestes getan, mir meine erste Liebe zu Jehova zu bewahren
Tränen überströmten mein Gesicht, während ich betete (Ps. 56:8). Ich dachte intensiv über die Auferstehungshoffnung nach. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Durch die Auferstehung würde Jehova die Folgen des Gemetzels ungeschehen machen, das ich gesehen hatte, und die emotionalen Wunden heilen, die mir und anderen zugefügt wurden. Gott wird diese jungen Männer wieder zum Leben bringen, und dann werden sie die Wahrheit über ihn kennenlernen können (Apg. 24:15). Das erfüllte mein Herz mit Liebe zu Jehova und berührte mich bis ins tiefste Innere. Bis heute ist jener Tag für mich besonders. Vor allem in Prüfungen und Schwierigkeiten habe ich seitdem mein Bestes getan, mir meine erste Liebe zu Jehova zu bewahren.
JEHOVA WAR GUT ZU MIR
Im Krieg tun Menschen furchtbare Dinge. Ich war da keine Ausnahme. Es hat mir jedoch geholfen, über zwei meiner Lieblingstexte nachzudenken. Der erste ist Offenbarung 12:10, 11, wo es heißt, der Teufel werde nicht nur durch das Wort unseres Zeugnisses, sondern auch mit dem Blut des Lammes besiegt. Der zweite ist Galater 2:20. Er hat mir gezeigt, dass Jesus Christus „für mich“ gestorben ist. Jehova sieht mich durch Jesu Blut und er hat mir vergeben. Dieses Bewusstsein verleiht mir ein reines Gewissen und spornt mich an, mein Möglichstes zu tun, um anderen von unserem barmherzigen Gott, Jehova, zu erzählen (Heb. 9:14).
Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, bin ich unendlich dankbar, dass sich Jehova immer um mich gekümmert hat. Als Jim beispielsweise herausfand, dass ich in meinem Auto übernachtete, stellte er noch am selben Tag den Kontakt zu einer Schwester her, die Zimmer vermietete. Für mich steht fest: Jehova gebrauchte Jim und diese liebe Schwester, um mir eine Unterkunft zu vermitteln. Jehova ist wirklich gut! Er kümmert sich um seine treuen Diener.
ICH LERNE TAKTVOLL ZU SEIN
Im Mai 1971 musste ich nach Michigan, um einige Dinge zu regeln. Bevor ich losfuhr, füllte ich meinen Kofferraum mit biblischer Literatur. Dann ging es Richtung Norden. Ich hatte den Nachbarbundesstaat Georgia noch nicht verlassen, da war der Kofferraum schon leer. Ich predigte an allen möglichen Orten. Ich hielt bei Gefängnissen an und übergab sogar den Männern auf den Rastplatz-Toiletten Traktate. Bis heute frage ich mich, ob etwas von diesem Samen aufgegangen ist (1. Kor. 3:6, 7).
Zugegebenermaßen war ich anfangs beim Predigen nicht besonders taktvoll. Das bekam vor allem meine Familie zu spüren. Weil meine erste Liebe für Jehova wie ein Feuer in mir brannte, predigte ich ihnen mutig, aber ohne Taktgefühl. Ich liebe meine beiden Brüder John und Ron von Herzen, weshalb ich ihnen energisch predigte. Deshalb musste ich mich später für mein Verhalten entschuldigen. Ich habe aber nie aufgehört darum zu beten, dass sie die Wahrheit annehmen. Jehova hat mich seitdem geschult, und heute predige und lehre ich taktvoller (Kol. 4:6).
AUCH SIE HABEN EINEN PLATZ IN MEINEM HERZEN
Meine Liebe zu Jehova schließt die Liebe zu anderen nicht aus. Der zweite Platz in meinem Herzen gehört meiner lieben Frau Susan. Ich wollte auf jeden Fall eine Partnerin, die mich im Königreichswerk unterstützt. Susan ist eine geistig starke Frau. Ich erinnere mich noch gut an einen Tag in unserer Kennenlernzeit. Als ich sie besuchte, saß sie gerade auf der Veranda ihres Elternhauses in Cranston (Rhode Island). Sie las den Wachtturm und schlug die Bibeltexte auf — und das bei einem Nebenartikel! Das beeindruckte mich sehr und ich dachte mir: „Was für eine geistig gesinnte Frau!“ Wir heirateten im Dezember 1971. Seither steht sie mir treu zur Seite. Dafür bin ich sehr dankbar. Doch besonders schätze ich an ihr, dass sie Jehova sogar mehr liebt als mich.
Susan hat mir zwei Söhne geschenkt: Jesse und Paul. Schon während sie aufwuchsen, war Jehova mit ihnen (1. Sam. 3:19). Wir sind stolz auf sie, denn sie haben sich die Wahrheit zu eigen gemacht. Auch sie haben sich ihre erste Liebe zu Jehova bewahrt und dienen ihm gern. Jeder von ihnen ist seit über 20 Jahren im Vollzeitdienst. Ich bin auch stolz auf meine beiden hübschen Schwiegertöchter, Stephanie und Racquel, die für mich wie Töchter sind. Meine beiden Söhne haben geistig gesinnte Frauen geheiratet, die Jehova Gott mit ganzem Herzen und ganzer Seele lieben (Eph. 6:6).
Nach meiner Taufe habe ich 16 Jahre in Rhode Island gedient, wo ich kostbare Freundschaften schloss. Ich durfte mit hervorragenden Ältesten zusammenarbeiten, an die ich noch gern zurückdenke. Außerdem bin ich den unzähligen reisenden Aufsehern sehr dankbar, die mich positiv beeinflusst haben. Es war eine Ehre, mit Männern zusammenzuarbeiten, die sich ihre erste Liebe zu Jehova bewahrt haben. 1987 zogen wir dann nach North Carolina, um dort zu dienen, wo größerer Bedarf bestand, und auch dort schlossen wir kostbare Freundschaften. *
Im August 2002 wurden Susan und ich eingeladen, Teil der Bethelfamilie in Patterson (USA) zu werden. Ich arbeitete in der Dienstabteilung und Susan in der Wäscherei. Sie liebte es, dort zu arbeiten! Im August 2005 wurde ich dann zum Mitglied der leitenden Körperschaft ernannt. Diese Zuteilung flößte mir Respekt ein. Susan überwältigte der Gedanke an die Verantwortung, die Arbeit und die Reisen, die damit verbunden sind. Susan ist noch nie gern geflogen — und wir müssen oft fliegen! Doch Ehefrauen anderer Mitglieder der leitenden Körperschaft haben ihr Mut gemacht. Daher ist sie entschlossen, mich so gut wie möglich zu unterstützen. Und dafür liebe ich sie!
Mein Büro ist voller Fotos, die mir viel bedeuten. Sie führen mir vor Augen, was für ein großartiges Leben ich bisher hatte. Ich habe wirklich mein Bestes gegeben, meine erste Liebe zu Jehova zu bewahren, und dafür bin ich schon sehr gesegnet worden!
^ Abs. 31 Der Wachtturm vom 15. März 2006, Seite 26 enthält weitere Einzelheiten über den Vollzeitdienst von Bruder Morris.
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